„Meister.“
Vicarius, der Stellvertreter des obersten Magus, wollte gerade eine Botschaft an den Magierzirkel außerhalb des Reiches schreiben, als er die emotionslose Stimme des Geistlosen hinter sich vernahm. Er seufzte, legte seinen Federkiel zur Seite und drehte sich um.
„Was willst du?“, fragte er den Geistlosen harsch und richtet sich zu seiner vollen Größe auf.
Jeder andere wäre vor der massigen Gestalt des Stellvertreters zumindest einen kleinen Schritt zurückgewichen, wenn nicht sogar vor dem finsteren Blick, den er allen, die ihn erzürnt hatten, aus seinen schmalen, rot leuchtenden Augen zuwarf. Doch nicht der blasse Geistlose, der ihn aus seinen toten Augen von unten herauf anstarrte als würde er durch ihn durch auf die Wand schauen. Der Geistlose hob die Hände und offenbarte ein paar Scherben.
„Meister, der Messbecher ist mir aus der Hand gefallen und auf dem Boden zerbrochen.“
Vicarius Wangen liefen rot an, und er ballte die Hand zur Faust, doch anstatt mit ihr zuzuschlagen, verpasste er dem Geistlosen einen Hieb mit der flachen Rückseite seiner Hand.
„Wozu seid ihr dummen Sklaven eigentlich zu gebrauchen?“, grollte er bedrohlich und schaute voller Abscheu auf den Mann, der durch die Wucht des Schlages zu Boden gerissen wurde und sich nun umständlich wieder auf die Beine kämpfte. „Wie oft habe ich euch ermahnt, vorsichtig mit den Instrumenten vorzugehen?“
„Verzeiht, Meister“, entschuldigte sich der Geistlose mit seiner immer gleich klingenden Stimme.
„Davon wird der Messbecher auch nicht wieder ganz! Es ist mir sowieso ein Rätsel, weshalb ich mich mit euch herumschlagen und auf euch aufpassen muss! Nichts habt ihr mehr in unserem Zirkel zu suchen, und doch habt ihr Glück, dass der oberste Magus euch gnädig gesonnen ist!“
Er setzte zu einem weiteren Satz an, als er den toten Blick des ausgezehrten Mannes vor ihm wahrnahm. „Du verstehst es sowieso nicht. An dir verschwende ich meine Kraft nicht weiter. Geh zurück an die Arbeit. Aber sei dir im Klaren, dass, wenn dir das noch einmal passiert, du dann nicht so leicht davonkommen wirst. Hast du das verstanden?“
„Ich habe verstanden, Meister“, antwortete der Geistlose, verbeugte sich und ging zurück zu den anderen.
Vicarius blieb an seinem Schreibpult stehen und folgte dem Mann mit einem verächtlichen Blick. Er konnte tatsächlich nicht verstehen, warum der Magus ausgerechnet ihn mit der Aufgabe betraut hatte, sich um die Geistlosen zu kümmern und sie bei den Forschungen helfen zu lassen. Zumindest bei den Forschungen, die keine Magie benötigten.
Geistlose waren Verbrecher, die gegen die Regeln und Gesetze des Zirkels verstoßen hatten. Wer besonders stark gegen sie verstieß, dem wurde der Geist entzogen und damit auch die Möglichkeit, Emotionen zu empfinden. Fortan liefen sie als nutzlose menschliche Hüllen herum, die bis zum Rand mit Magie gefüllt, doch nicht in der Lage waren, sie zu benutzen.
Genervt griff er nach seinem Schlüsselbund und verließ den Raum, um einen neuen Messbecher zu besorgen.
Gerade, als er das Labor verlassen hatte, stieß er mit einem unachtsamen Studenten zusammen. Dieser taumelte nach dem Aufprall ein paar Schritte zurück und fiel auf seinen Hintern.
„Pass gefälligst auf, wo du hinrennst, Bursche!“ fuhr Vicarius den Studenten mit finsterer Stimme an.
„V-Verzeiht“, stammelte der Student und versuchte sich so klein wie möglich zu machen.
Vicarius wusste um seinen nicht gerade positiven Ruf bei den Studenten, aber das war ihm egal. Der Vorteil an seinem Stand war, dass man ihn die meiste Zeit in Ruhe ließ und es sich zwei Mal überlegte, bevor man ihn wegen einer Kleinigkeit störte. Immerhin hatte er als Stellvertreter des obersten Magus genug andere Sachen zu erledigen.
„Steh gefälligst auf. Und dann sag mir, warum du es so eilig hast.“
„N-Natürlich.“ Der blonde Junge mit dem spitzbübischen Gesicht stand unbeholfen auf und klopfte sich den Staub von seiner Robe. Seine eisblauen Augen hielt er auf den Boden gerichtet.
Vicarius konnte die Angst förmlich spüren, die von dem Jungen ausgeströmt wurde und konnte sich ein gehässiges Grinsen nicht verkneifen.
„Ich war gerade auf dem Weg zum obersten Magnus. Derzeit forschen wir an einem Weg, Gesetzesbrecher nicht mehr mit dem Entzug des Geistes, sondern mit dem Entzug der Magie bestrafen zu können. Und wir nehmen an, dass wir einen Weg gefunden haben, dieses Vorhaben zu verwirklichen.“
Jetzt wurde Vicarius hellhörig. Wenn das, was der Junge sagte stimmte, könnte das für ihn die Gelegenheit sein, auf die er schon so lange gewartet hatte. Dann könnte er die Geistlosen endlich loswerden und vielleicht die Aufsicht über fähigere Sklaven übernehmen. Denn das waren sie in seinen Augen. Sklaven, die kein besseres Schicksal verdient hatten, egal ob mit oder ohne Geist. Nur wären Sklaven mit erhaltenem Geist sicherlich nicht so nutzlos.
„Der oberste Magus ist gerade nicht da“, wiegelte er ab. „Erzähl mir stattdessen davon.“
„A-Aber der oberste Magus sagte ausdrücklich, dass-“
„Widerworte dulde ich nicht, Bursche!“, unterbrach Vicarius ihn sofort. „Der oberste Magus interessiert sich ausschließlich für Ergebnisse, nicht für irgendwelche Annahmen von ein paar jungen Möchtegernmagiern. Also raus mit der Sprache!“
„W-Wir haben einen alten Zauber in einem der Bücher gefunden, die uns der oberste Magus zur Verfügung gestellt hatte. Dort ist von einem Bannkreis die Rede, der es ermöglicht, die Verbindung zwischen einem Menschen und seiner Magie zu kappen. Damit ist der Gesetzesbrecher nie wieder in der Lage, diese zu verwenden. Dabei bleibt aber sein Geist intakt, was bedeutet, er verbringt den Rest seines Lebens als normaler Mensch, nicht als Magier.“
„Interessant. Wie weit seid ihr mit dieser Forschung?“
„Wir haben es bereits geschafft, mithilfe dieses Zaubers leblosen Objekten ihre Magie zu entziehen.“
„Und wie sieht es mit einem Menschen aus?“
Der Student schaute Vicarius verunsichert an. „Wir führen keine Versuche an Menschen durch“, antwortete er so vorsichtig wie möglich.
„Und woher wisst ihr dann, ob der Zauber überhaupt funktioniert? Was bringt es uns zu wissen, dass wir einer Schreibfeder ihre Magie entziehen können? Es geht darum, eine angemessene Bestrafung für jene zu finden, die sich nicht unseren Gesetzen beugen. Was meinst du passiert, wenn der König mitbekommt, dass wir Gesetzlosen ihre Magie lassen? Unser Zirkel steht schon so unter keinem guten Licht, weil man uns Magier für gefährlich hält. Deshalb sind wir hier in diesem Turm, damit man uns unter Kontrolle halten kann. Und wenn wir nicht beweisen können, dass wir diese Leute unter Kontrolle halten können, was meinst du, wie lange wir dann hier noch sicher sind? Bevor der König das Edikt verließt, dass Magie ab sofort verboten ist und jeder Nutzer gejagt und gefangen werden soll? Oder schlimmeres?“
Vicarius Stimme wurde mit jedem Satz tiefer und ähnelte am Ende einem gefährlichen Grollen. Dabei baute er sich vor dem Studenten auf, so wie er es zuvor bei dem Geistlosen getan hatte. Der Student wurde immer kleiner, und es war ihm anzusehen, dass er gerade lieber ganz woanders wäre.
Vicarius selbst wusste nicht, ob es dieses Edikt überhaupt gab, aber jeder Magier wusste um die Furcht, die die normalen Menschen ihnen gegenüber an den Tag legten. Für Vicarius war das verständlich in Anbetracht der Macht, über die Magier verfügten. Seine Drohung schien jedenfalls Früchte zu tragen.
„V-Verzeiht“, stammelte er wieder. „D-Deshalb wollte ich zum obersten Magus. Er sollte entscheiden, wie wir weiter vorgehen sollen.“
„Ist die Prozedur schmerzhaft?“
„Was?“
„Der Zauber, Bursche! Ist er für den, auf den er angewendet wird, schmerzhaft?“
„Wahrscheinlich schon“, bestätigte der Student etwas irritiert.
„Warte hier.“ Vicarius lächelte und öffnete die Tür zum Labor. „He! Du da! Herkommen, sofort!“
Er trat zur Seite, als der blasse Geistlose aus der Tür trat, der kurz zuvor den Messbecher hatte fallen lassen. Die Wange war noch immer gerötet. Aus toten Augen schaute er abwesend auf den Studenten, dann auf Vicarius. „Ja, Meister?“
„Bursche, ich will, dass du den Versuch an diesem Geistlosen durchführst.“
Die Augen des Studenten weiteten sich. „Aber er wurde doch schon bestraft!“
„Das ist eine Anordnung, Knabe, und du hast dieser Folge zu leisten! Ich werde dich begleiten und den Versuch beobachten. Wenn er gelingt, werde ich persönlich ein lobendes Wort für dich und deine Mitschüler beim obersten Magus hinterlassen. Sollte der Versuch scheitern, hat niemand etwas verloren, und der oberste Magus wurde nicht unnötig aufgrund einer Nichtigkeit gestört.“
Der Student haderte mit sich, doch am Ende musste er sich eingestehen, dass er Vicarius Worten nichts entgegenzusetzen hatte. „Dann folgt mir bitte.“
Mit einem bösen Grinsen stieß er den Geistlosen vor sich her und folgte dem Studenten. Heute würde er also doch noch Spaß haben.