„Du solltest es ihr endlich sagen.“
Anna zuckte zusammen, als sie die Worte ihrer Freundin Sophie hörte.
Sie saßen beide bei Anna zuhause an den Hausaufgaben, jede von ihnen konzentriert über die Arbeitsbögen gebeugt.
Zwischen ihnen, auf dem großen Küchentisch, standen zwei Kannen; eine mit Tee und die andere mit Kakao.
Anna setzt ein unschuldiges Lächeln auf und schaute zu ihrer Freundin. „Was genau meinst du?“
„Du weißt genau, wovon ich rede, Anna“, seufzte Sophie und schaute sie mit ernstem Blick an.
Anna wich dem Blick instinktiv aus. So, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas unangenehm war. Und dieses Thema stand dabei ganz oben auf der Liste.
„Du weißt, dass es irgendwann sein muss, oder?“, hakte Sophia nach. „Irgendwann musst du mit ihr darüber reden.“
„Wieso musst du denn jetzt mit dem Thema wieder anfangen“, antwortete Anna etwas giftiger als beabsichtigt. „Entschuldige, ich wollte dich nicht so anfahren.“
Sophie zuckte mit den Schultern. „Wann soll ich denn sonst damit anfangen? In der Schule, wo es alle mitbekommen? Du weißt, was dann passiert.“
„Die dürfen das niemals herausfinden!“, brach es aus Anna hervor. „Dann hätten wir dort keine ruhige Sekunde mehr!“
„Genau so ist es. Aber deine Mutter sollte es schon wissen.“ Sophie nahm sich eine Kanne und goss sich etwas Kakao in ihre Tasse. „Auch was?“
„Nein“, antwortet Anna, aber ihre Gedanken waren nicht ganz bei der Sache. „Meine Mutter steht dem Ganzen aber nicht positiv gegenüber. Ich glaube, es ist noch nicht an der Zeit.“
„Wann dann?“
„Ich weiß nicht. Dann eben! Ich … ach, ich weiß es halt nicht!“ Anna fuhr sich aufgebracht durch die Haare. „Niemand scheint dazu bereit zu sein, oder? Keiner würde es verstehen. Meine Mutter nicht, die Nachbarn nicht, die in der Schule nicht. Nein, die erst recht nicht!“
Sophie stand auf, ging am Tisch vorbei zu Anna und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sanft drückte sie diese. „Beruhige dich. Komm, steh auf.“
Anna seufzte und stand auf, dann ließ sie sich von ihrer Freundin in die Arme nehmen.
„Was die anderen denken, sollte dir doch egal sein, oder?“ Sophie schaute Anna direkt in die Augen und ließ nicht zu, dass das Mädchen ihrem Blick wieder auswich. „Und egal, wie lange du wartest, das macht es nicht besser. Wenn du möchtest, bin ich auch mit dabei, wenn du es ihr sagst.“
„Das würdest du machen?“ Annas Kehle schnürte sich zu. „Ich habe einfach Angst.“
„Ich weiß. Hatte ich doch auch. Aber du hast doch gesehen, wie positiv meine Mutter darauf reagiert hat.“
Anna dachte an den Nachmittag zurück, als Sophie es ihrer Mutter gebeichtet hatte. Entgegen ihrer Erwartungen hatte ihre Mutter aber nur gelächelt und gesagt, dass sie sich für die beiden freuen würde. Aber sie wusste nicht, ob ihre eigene Mutter auch so reagieren würde. Sie stand dem ganzen Thema nicht offen gegenüber und es würde sicher nicht einfach werden, sie davon zu überzeugen.
„Ich halte zu dir“, versicherte Sophie ihr. „Immer.“
In diesem Moment wurde Anna klar, weshalb sie dieses Mädchen so liebte. Sie konnte nicht anders und gab Sophie einen schüchternen Kuss. „Danke“, hauchte sie und kam sich dumm dabei vor, dass ihr nichts besseres einfiel.
Doch Sophie schien das nicht zu stören, denn sie lächelte einfach nur und hielt sie weiter in der Umarmung.
Als Anna hörte, wie sich die Haustür öffnete, löste sie sich schnell von ihrer Liebsten.
„Jetzt oder nie“, flüsterte Sophie mit einem Zwinkern und stellte sich neben Anna.
„So, da bin ich wieder“, begrüßte Annas Mutter die beiden Mädchen und stellte die Einkäufe auf den Tresen. Als sie ihre Tochter und die Freundin am Tisch stehen sah, stutze sie kurz. „Ist alles okay bei euch?“
Anna strauchelte kurz einen Schritt vor, als Sophie ihr einen sanften Stoß in den Rücken versetzte. Sie spürte, wie ihre Hände zitterten und ballte sie zu Fäusten, während sie vergebens versuchte, den Kloß herunterzuschlucken, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. „Du, Mama“, begann sie und konnte das Zittern in ihrer Stimme nicht verbergen. „Ich glaube, ich muss dir etwas beichten.“
„Was ist denn los?“ Die Mutter sah Anna besorgt an. „Ist etwas passiert?“
Anna sammelte ihren ganzen Mut. „Sophie und ich sind ein Paar!“, brachte sie anschließend schnell über ihre Lippen und spürte die Wärme in ihren Wangen aufsteigen.
Ihre Mutter schaute die beiden abwechselnd an, sagte jedoch nichts.
Ein für Anna sehr unangenehmes Schweigen entstand. Sie griff nach Sophies Hand, denn sie brauchte die Wärme und die Nähe ihrer Freundin, um nicht gänzlich in Panik zu verfallen.
„Warum habt ihr mir davon nicht schon früher erzählt?“, fragte Annas Mutter plötzlich und lächelte. „Ihr beide gebt ein wundervolles Paar ab.“
Anna und Sophie schauten sich überrascht an.
„W-Weil du doch nichts von gleichgeschlechtlichen Beziehungen hältst“, stammelte Anna, noch immer erstaunt über die Reaktion ihrer Mutter.
„Nein Schatz, so ist das gar nicht“, sagte ihre Mutter im ruhigen Ton und stellte sich vor die beiden Mädchen. „Es ist schwer für mich, nachzuvollziehen, wie sowas funktioniert, und wie man jemanden aus demselben Geschlecht richtig lieben kann. Aber nur, weil das für mich nicht ‚normal‘ ist. Und nicht, weil ich dagegen wäre.“
Anna spürte eine so unglaubliche Erleichterung, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen und über die Wangen flossen. Ihre Mutter wischte sie sanft weg und lächelte.
„Für mich ist nur wichtig, dass du glücklich bist. Immerhin bist du meine Tochter, und du weißt am besten, was du möchtest und was dich glücklich macht. Ich unterstütze dich dabei.“ Dann nahm ihre Mutter Anna in die Arme.
Doch nicht nur sie, sondern auch Sophie, die noch immer Annas Hand hielt und ihr mit einem kecken Grinsen ein „Ich hab‘s dir doch gesagt“ zu verstehen gab.