Henneck saß wie jeden Abend in der Taverne und genoss sein kühles Bier. Um ihn herum saßen die altbekannten Gesichter. Während im Hintergrund leise von zwei Unbekannten – sie schienen Reisende zu sein - Musik gespielt wurde, tauschten sie untereinander die wildesten Geschichten aus.
„Damit könntest du ja nicht mal meine Großmutter erschrecken!“, lachte Bromstedt und stellte seinen Krug geräuschvoll auf den Tisch. „Hör mal, Jennis, Vampire sind doch ein alter Hut! Aber Werwölfe, die gibt es wirklich!“
„Ach nee, fang nicht damit schon wieder an.“
„Ich sage euch, ihr werdet euch noch umschauen, wenn diese Bestien in unserer Stadt einfallen.“
„Dann opfern wir ihnen halt ein paar Schafe. Das stellt sie sicher zufrieden.“ Jennis lachte und nahm einen großen Schluck aus seinem Krug.
Henneck beobachtete das Treiben schweigend. Ihm wurde immer unwohl, wenn das Thema Werwölfe auf den Tisch kam. Niemand durfte sein Geheimnis erfahren.
„Weißt du was?“, fragte Bromstedt an Jennis gewandt. „Heute Abend ist Vollmond. Und ich wette, wenn wir in den Wald gehen, werden wir ein paar dieser Kreaturen zu Gesicht bekommen.“
„Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“
„Moment, Moment“, mischte Henneck sich ein und schaute Bromstedt entgeistert an. „Vollmond? Der ist heute?“
„Aber natürlich! Hast du mal raus geschaut? Hinter den Wolken ist er schon zu erkennen“, antwortete Bromstedt. „Ach ja, du hast ja irgendwie wirklich Angst vor dem Mond, was?“
Henneck spürte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich. Eilig stand er auf, leerte seinen Krug und schnappte sich seinen Mantel.
„Entschuldigt, aber ich muss weg“, verabschiedete er sich und lief aus der Taverne, ohne auf Antworten zu warten.
Henneck hetzte durch die spärlich beleuchteten Straßen der Stadt, passierte den Markt und das Rathaus, vorbei an den Wohnhäusern, aus deren Fenstern fahles Licht auf die Straße fiel. Sein Blick richtete sich zum Himmel hinauf, und tatsächlich schien der Vollmond hinter den Wolken. Ein vertrautes Ziehen machte sich in seinem Kopf bemerkbar.
Er stürmte durch das Stadttor hinaus über die Ebene in den angrenzenden, dichten Wald. Unvorsichtig wie er war stolperte er dabei über Baumwurzeln, die aus der Erde ragten, schnitt sich das Gesicht und die Arme an Zweigen, während er panisch versuchte, so viel Abstand wie möglich zur Stadt zu gewinnen.
Schließlich trat er auf eine Lichtung, vollkommen abgehetzt und außer Atmen. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, tropfte von seinem Kinn herab auf den Boden, während sein Herz wie verrückt in seiner Brust schlug und auszubrechen drohte.
Der erste Krampf ging durch seinen Körper, er beugte sich vor, ging auf die Knie und spürte, wie sein Körper sich veränderte. Seine Finger wurden länger, bogen sich und wurden zu großen, mächtigen Klauen. Dasselbe geschah mit seinen Füßen, während die Muskulatur in den Armen und Beinen zunahm und sie gewaltiger werden ließen. Sein Kopf verformte sich. Die Schnauze mit den kräftigen Reißzähnen bildete sich, Geifer tropfte heraus. Seine Knochen im Körper verschoben sich, einige brachen unter der Belastung, andere verformten sich.
Er wollte schreien, während sein Körper sich weiter veränderte,, aber er brachte nur urtümliche Geräusche hervor, beinahe wie ein Heulen, gemischt mit einem verzweifelten, wuterfüllten Knurren. Der unerträgliche Schmerz endete so plötzlich wie er gekommen war. Schnaufend richtete er sich auf, sah an sich herunter und schaute auf den gleichermaßen vertrauten wie gehassten Körper. Ein behaartes, wildes Ungetüm, wie zu jedem Vollmond.
Der letzte Teil seiner Verwandlung setzte ein, sein Instinkt übernahm nach und nach die Kontrolle. Er spürte, wie das logische Denken immer schwerer wurde, wie sein Geist im Fluch gefangen war. Jeder Widerstand zwar nutzlos, er konnte sich nicht dagegen wehren.
Etwas knackte laut hinter ihn, und als er sich umdrehte, sah er die zwei unbekannten Reisenden, die in der Taverne ihre Musik zum besten gegeben hatten.
Ein Knurren drang aus der Kehle des Werwolfs, die Jäger richteten ihre Armbrüste auf ihn.
„Versuch es gar nicht erst, Bestie. Deine Jagd ist beendet“, sagte einer der beiden Jäger, doch die Wort drangen nicht zu Henneck vor.
Mit einem wilden Heulen sprang er auf die beiden Jäger zu.
Die Jäger aber wichen dem Angriff geschickt zu beiden Seiten aus, rissen ihre Armbrüste nach oben und feuerten die Bolzen auf den Werwolf.
Die Geschosse drangen tief in seinen Körper ein, ein unsägliches Brennen breitete sich aus. Die Bestie heulte vor Schmerz auf, krümmte sich, während das Gift – es musste Gift sein – sich schnell und unaufhaltsam weiter in seinem Körper ausbreitete und von innen zu verbrennen drohte..
Unfähig, sich noch länger auf den Beinen zu halten, sank der Werwolf auf die Knie, stützte sich mit seinen Pranken ab. Seine Sicht verschwamm zunehmend, und nur undeutlich sah er noch die Umrisse des Jägers, der sich vor ihm aufgestellt hatte und auf ihn hinan schaute.
„Du hättest es auch einfacher haben können.“ Die Worte des Jägers drangen nur dumpf in seine Ohren, während dieser mit etwas, das nach einer großen Axt aussah, zum Schlag ausholte.
Die Axt sauste auf die Bestie nieder. Endlich frei, waren seine letzten Gedanken, bevor die Axt die Bestie traf und Hennecks Geist von diesem Fluch befreite. Dann wurde Hennecks Welt schwarz.