Gedankenverloren stand Jessica mit dem Rücken an den Wagen ihrer besten Freundin gelehnt und schaute an dem Hochhaus hinauf, welches sich direkt vor ihr aufbaute. Nervös wippte sie mit einem Fuß und zog erneut an der bereits bis zur Hälfte gerauchten Zigarette.
Was habe ich mir bloß dabei gedacht, hierher zu kommen? Ich bin nicht bereit dafür.
Doch sie wusste, dass es jetzt bereits zu spät war, einen Rückzieher zu machen. Sie war extra heimlich von Zuhause abgehauen, weil sie genau wusste, was ihre Eltern gesagt hätten, wenn sie sie erst um Erlaubnis geboten hätte. Mit dem Bus war sie dann zu Johanna gefahren.
Johanna war seit Kindheitstagen an ihre beste Freundin. Schon früher haben sie sich alle Geheimnisse anvertraut, und erst durch Johannas Hilfe war es überhaupt möglich, dass Jessica nun hier stand.
Ich muss es einfach wissen. Ich bin 17 Jahre alt, ich habe doch ein Anrecht darauf. Oder nicht?
„Du bist kreidebleich.“
Jessica verdrehte die Augen. „Du machst mir das ganze nicht wirklich leichter wenn du mir das auch noch so unter die Nase reibst.“
„Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie nervös du gerade sein musst. Aber es ist das Beste, vertrau mir.“
„Ich möchte einfach nur Klarheit haben. Natürlich bin ich nervös. Was ist denn, wenn er nichts von mir wissen will? Oder wenn er wirklich so gewalttätig ist, wie meine Eltern mir das jahrelang erzählt haben?“
„Er ist dein Vater. Ich glaube nicht, dass er dir etwas antun wird. Warum sollte er?“
„Er hat meine Mutter geschlagen.“
„Das haben dir deine Eltern erzählt, ja. Aber kann es vielleicht auch sein, dass sie dich einfach von ihm fernhalten wollten? Vielleicht wollen sie ja auch nicht, dass er Kontakt mir dir hat, nur weil sie sich im Streit getrennt haben.“
Jessica spürte die Hand ihrer Freundin auf ihrer Schulter und seufzte. „Das ist viel Vielleicht und Eventuell.“
„Richtig. Und jetzt hast du die Chance, dir Klarheit zu verschaffen.“
„Kommst du mit hoch?“
Johanna schüttelte den Kopf. „Ich denke, das solltest du alleine machen. Aber egal wie es ausgeht, ich werde hier auf dich warten. Und wenn du wieder da bist, dann gehen wir ins Café und machen uns einen schönen Tag. Dann kannst du mir ja erzählen, was passiert ist.“
„Damit kann ich leben.“ Jessica versuchte sich an einem Grinsen, zog ein letztes Mal an der Zigarette und entsorgte sie dann im Aschenbecher neben ihr.
„Warte. Bevor du gehst hab ich hier noch was für dich.“ Jessica schaute Johanna dabei zu, wie diese eine silberne, flache Flasche aus ihrer Jackentasche zog und ihr hinhielt. „Für den Mut, mhm?“
„Gute Idee.“ Jessica nahm einen Schluck aus dem Flachmann und verschluckte sich und reichte ihn Johanna zurück. „So, jetzt aber keine Ausflüchte mehr.“
Johanna umarmte Jessica noch einmal. „Du schaffst das, ich glaub an dich.“
Wenigstens eine von uns.
Jessica nickte nur, atmete noch einmal tief durch und betrat dann das Hochhaus.
„Das fängt ja gut an“, fluchte sie leise als sie vor dem Aufzug stand, an dessen Schaltpult ein großes Schild mit der Aufschrift „AUẞER BETRIEB“ stand. Dann also die Treppen in den 15. Stock. Super.
Murrend machte sie sich auf den Weg in das Treppenhaus und versank erneut in Gedanken.
Alle möglichen Szenarien, die sich beim ersten Treffen mit ihrem Vater abspielen konnten, flogen ihr durch den Kopf. Doch keiner der Gedanken ließ sich richtig greifen; wie in einem unaufhaltsamen Malstrom wirbelten sie durcheinander.
Auf halben Weg stockte Jessica dann plötzlich, und ein kalter Schauer jagte ihr über den Rücken. Was, wenn er gar nicht da ist? Dann wäre ich völlig umsonst hergekommen! Energisch schüttelte sie den Kopf und verdrängte den Gedanken. Johanna hatte ihren Vater aufgespürt und ihr versichert, dass er auf jeden Fall zuhause wäre.
Mit einer besonderen Atemtechnik versuchte sie sich selbst zu beruhigen und die Nervosität beiseite zu schieben. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.
So sehr sie es auch versuchte, ganz beruhigen konnte sie sich nicht. Und so fühlte sie sich, als wollte ihr das Herz aus dem Brustkorb springen, als sie schlussendlich den Aufstieg durch das Treppenhaus geschafft hatte und vor der Tür zur Wohnung ihres richtigen Vaters stand. Vielleicht liegt das ja auch nur an den Treppen, versuchte sie sich einzureden, glaubte aber selbst nicht daran.
Kein Zurück mehr. Sie zögerte, schluckte dann krampfhaft den Kloß in ihrem Hals herunter und klopfte an die dunkle Wohnungstür.
Es dauerte einen Moment bis sich etwas tat, dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Eine junge Frau stand auf der anderen Seite der Tür, ihre dunkelblonde Frisur zerzaust, als wäre sie gerade erst aufgestanden. Mit ihren haselnussbraunen, von Augenringen umschatteten Augen fixierte sie Jessica.
„Was willst du?“, fragte die Frau recht unhöflich.
Jessica versuchte so ruhig wie möglich zu wirken und das ängstliche Zittern ihrer Stimme zu überspielen. „Ich würde gerne mit Thomas Dinklar sprechen.“
„Und was willst du von ihm?“
„Ist er da?“, fragte Jessica und überging die Frage der Unbekannten einfach.
Die Frau verzog missmutig das Gesicht, murmelte etwas und drehte sich dann in die Wohnung.
„Thomas! Komm mal her, ist Besuch für dich!“
Ein paar Sekunden später tauchte Thomas im Wohnungsflur auf. Er stockte, als er sah, wer dort vor seiner Tür stand, was auch die unbekannte Frau merkte. „Wer ist das? Kennst du sie?“
„Das erkläre ich dir später“, antwortete Thomas.
Die Frau schüttelte nur ihren Kopf und verschwand daraufhin in der Wohnung. Thomas stand nun an ihrer Stelle vor Jessica.
Er hat sich kaum verändert, dachte sie, als sie ihn ansah und an ein altes Foto dachte, welches ihre Mutter ihr vor Jahren einmal gezeigt hatte.
Thomas war ein hochgewachsener Mann. Sie schätzte ihn auf etwas über zwei Meter, da er geduckt in der Tür stehen musste, um nicht mit dem Kopf gegen den Rahmen zu stoßen.
Seine dunkelblonden Haare trug er seitlich kurz, auf dem Kopf hingegen waren sie ein Stück länger und wurden von einem Spray oder Gel – Jessica konnte es nicht mit Sicherheit sagen – oben gehalten. Unwillkürlich musste sie an eine Ähnlichkeit zu einem Igel denken.
Aus eisblauen Augen musterte er sie, während seine schmalen Lippen sich zusammenpressten und der kleine, kurz getrimmte Schnurrbart zur Geltung kam.
„Jessica“, sagte er schließlich tonlos und brach damit das unangenehme Schweigen, welches sich zwischen ihnen aufgebaut hatte.
„H-Hallo, Vater“, brachte sie zitternd hervor und spürte, wie sich der Kloß in ihrem Hals erneut bildete. Ich bin nicht bereit. Ich bin nicht bereit!
„Was machst du hier?“
„Ich will dich kennenlernen. Ich will verstehen, was passiert ist. Deine Seite der Geschichte hören.“ Das alles platzte sofort aus ihr raus, wie Wasser, welches zu lange gestaut worden war.
„Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst“, antwortete er, und Jessica hörte, dass er es ernst meinte.
Er will nichts mit mir zu tun haben, schoss es ihr durch den Kopf. Sie spürte, wie ihre Hände zitterten. „Können wir vielleicht einfach reden?“, fragte sie und legte ihre letzte Hoffnung in die Frage. „Nur ein paar Minuten.“
„Nein, das geht nicht. Und jetzt geh.“
Thomas wollte gerade die Tür vor ihrer Nase schließen, doch Jessica stellte einen Fuß in die Tür. Das Zittern hatte von ihren Händen auf ihren Körper übergegriffen, und sie fühlte, wie sich die Tränen in ihren Augen sammelten. „Nein bitte! Dann … Dann lass mich nur eine Frage stellen. Warum bist du gegangen? Warum hast du meine Mutter und mich verlassen?“
Thomas Blick verfinsterte sich. Er öffnete die Tür ein Stück, trat einen Schritt vor und baute sich direkt vor Jessica auf.
Unwillkürlich machte Jessica einen Schritt nach hinten, ein kalter Schauer purer Angst jagte ihr über den Rücken. Dann beugte Thomas sich ein Stück herab und schaute ihr direkt in die Augen. Er stand nur eine Handbreite entfernt.
„Ich habe euch beide geliebt, deine Mutter und dich. Aber dann kam der Tag an dem ich euch ansah und mir klar wurde, dass ihr beide mir nichts mehr bedeutet. Ich spürte, dass ihr mein Leben einengt, mir meine Freiheiten nehmt. Es fühlte sich an wie in einem Käfig, und ich wusste, dass ich ausbrechen musste. Und das tat ich, indem ich euch verließ.“ Seine Stimme wurde immer finsterer und verbitterter, je weiter er sprach. „Ich habe mir ein neues Leben aufgebaut. Ich bin glücklich. Und mit euch will ich nichts mehr zu tun haben. Weder mit deiner Mutter, noch mit dir. Und jetzt geh!“
Bevor Jessica etwas sagen konnte war Thomas in der Wohnung verschwunden und hatte die Tür lautstark zugeschlagen. Doch sie hätte eh nur ein Schluchzen zustande gebracht.
Heiße Tränen liefen ihr die Wangen herunter, ihr ganzer Körper zitterte, während ihr Verstand noch versuchte, das zu verarbeiten, was gerade passiert war.
Ihr Körper fand wie von alleine den Weg zurück auf die Straße, wo Johanna sie bereits erwartete und sofort in die Arme schloss.
„Es...Es ist alles wahr“, brach Jessica schließlich hervor und ließ ihren Tränen an der Schulter ihrer besten Freundin freien Lauf. Stetes Schluchzen ließen sie nur bruchstückweise reden. „Er hasst uns. Er will nichts mehr mit uns zu tun haben.“
Jessica berichtete weiter, während Johanna sie langsam zum Auto leitete und ihrer Freundin Halt gab.
Er hasst uns. Er hasst uns. Diese Worte klangen wie ein Sturm durch Jessicas aufgewirbelte Gedanken. Sie fühlte sich aufgelöst und erschüttert gleichermaßen, obwohl sie sich das alles bereits ausgemalt hatte.
„Ich hätte auf meine Eltern hören sollen“, flüsterte sie leise, als sie schließlich neben Johanna im Auto saß. Den Blick hielt sie auf den Fußraum gerichtet. „Sie haben mich davor gewarnt. Sie wussten, was passieren würde.“
„Nein. Es ist gut, dass du das gemacht hast. Jetzt mag es wehtun, aber du hast jetzt die Klarheit, die du gesucht hast. Die hättest du nicht finden können, wenn du nichts unternommen hättest. Und deine Eltern werden das verstehen, da bin ich mir zu Neunundneunzig Prozent sicher.“
„Und was ist mit dem einen Prozent?“, fragte Jessica nach kurzem Zögern.
„Der befürchtet Hausarrest“, feixte Johanna mit einem schiefen Grinsen. Zugleich hielt sie bereits den Flachmann in der Hand und reichte ihn ihrer Freundin.
Obwohl Jessica nicht nach Scherzen war musste sie trotzdem lächeln. Johanna schaffte es immer, sie auch in den dunkelsten Zeiten aufzumuntern. „Danke, dass du für mich da bist.“
„Das ist für mich selbstverständlich. So“, antwortete Johanna und startete den Motor ihres Wagens, „und jetzt fahren wir in ein Café und machen uns wie versprochen einen schönen Tag. Und keine trüben Gedanken, klar?“
„Klar“, bestätigte Jessica, nahm erneut einen Schluck aus dem Flachmann und empfand gleichzeitig tiefste Dankbarkeit ihrer Freundin gegenüber. Sie wusste, dass auch Johanna klar war, dass sie das Erlebte nicht so einfach würde zur Seite schieben können. Aber zumindest für diesen Moment wollte Johanna sie wieder aufbauen und trösten, was Jessica nur allzu gerne zuließ. Ich bin so froh, sie zu haben.
Dann fuhr Johanna aus der Parklücke und zusammen ließen sie das Hochhaus sowie Jessicas Vergangenheit hinter sich.