„Keiner von euch kann am Ende sagen, dass ich euch nicht gewarnt hätte!“
Doktor Andrew Swenzo schüttelt den Kopf, während er zwei kleine Röhrchen anhob und die beiden durchsichtigen Flüssigkeiten miteinander verglich.
Fast geschafft. Bald sind sie identisch. Nur noch ein paar Tests.
„Vierzig Jahre! Vierzig Jahre habe ich immer davor gewarnt, dass diese Situation jederzeit eintreten kann. Und vierzig Jahre lang habt ihr mich nur ausgelacht, während ich für euch an Gegenmitteln für Kinderkrankheiten forschen sollte. Für die ‚bessere Verträglichkeit‘. Dass ich nicht lache!“
Er schnaufte, setzte sich auf seinen Stuhl und rollte mit ihm durch den Raum an seinen PC. Das Diktiergerät hielt er dabei locker in einer Hand.
„Und dann habt ihr mich einfach rausgeworfen. Weil ich auf zu aufdringlich wurde.“
Er stellte das Diktiergerät neben sich ab und flog dann mit seinen Fingern über die Tastatur. Die Daten rauschten über den Bildschirm, sein Blick folgte den Zeilen, die sich in Bruchteilen von Sekunden aufbauten und wieder verschwanden.
Da haben wir den Fehler!
Andrew fror die Zeilen auf dem Bild ein und untersuche die Formel, die still und starr auf dem Bildschirm stand. Sorgfältig änderte er sie ab und speiste das neue Ergebnis in das System ein.
„Natürlich habt ihr Recht, wenn ihr sagt, dass sie Menschheit nur gestärkt aus den Epidemien der Geschichte hervorgegangen ist. Die attische Pest ebnete einen Weg zur Beendigung des Krieges zwischen Athen und Sparta. Doch was für ein kostspieliges Ende das gewesen sein muss, wenn man bedenkt, dass schätzungsweise ein Viertel der Athena dafür ihr Leben lassen musste.“
Erneut griff er sich sein Diktiergerät und rollte zu dem Tisch, auf dem er seine Laborausstattung stehen hatte. Dort stellte er das Gerät wieder ab, stand auf und besah sich seine Ausrüstung.
Dafür, dass es nicht viel war, was er vor der Vernichtung hatte retten können, war er doch froh, einige wichtige Geräte weiterhin sein Eigen nennen zu können.
„Oder die Pest!“, sinnierte er weiter. „Der schwarze Tod. Wer hätte denn damit rechnen können, dass die Flöhe von Ratten den Menschen eine der größten Plagen ins Haus schleppen würden? Zumindest, wenn es so war“, fügte er hinzu, wohl wissend, dass das bis heute nicht bestätigt, aber größtenteils vermutet wurde. „Für die Arbeitsgesetze, die früher in England erlassen wurden, um die Versorgung der Menschen zu gewährleisten, und das gestiegene Interesse an der Mechanisierung der Arbeit – dank der gestiegenen Lohnkosten wohlgemerkt! - das zu vielen Errungenschaften führte, mussten Millionen von Menschen auf der ganzen Welt ihr Leben lassen!“
Er tippte stur mit dem Finger auf seinem Tablet und ließ sich seine neue Formel anzeigen. Dann begann er, Substanzen aus kleinen Bechern und Behältern sorgsam zu mischen.
„Cholera brachte uns Kanalisationen, Abwassersysteme und die Wasserreinhaltung“, zählte er dabei weiter auf. „Und selbst Nationalstaaten, wie Beispielsweise Italien unter Mussolinis Führung, wollten durch die Ausrottung von Seuchenherden veranschaulichen, wie gut ihre Staatssysteme funktionierten.“
Ein Hustenanfall ließ Andrew in seine Arbeit innehalten. Schnell zog er ein Taschentuch und hielt es sich vor den Mund. Nach dem Husten sah er den Blutfleck, der sich auf dem weißen Tuch gebildet hatte.
„Und sicher fragt ihr euch, warum ich euch das erzähle, was?“ Er lachte laut auf, was einen neuerlichen Hustenanfall beschwor. „Nun, die Zeit dieser sogenannten ‚Stärkung‘ ist vorbei. Die Menschen sind zu selbstsicher geworden. Vor nicht allzu langer Zeit hat ein gewisses Virus uns das doch gezeigt.“
Er warf das Taschentuch beiseite und fuhr sich mit einer Hand durch sein schütteres, graues Haar.
„Die Leute waren auf den Straßen, als es hieß, dass sie zuhause bleiben sollten. In Massen waren sie anzutreffen, sorg- und belanglos. Wie lange hat gedauert, bis sie Leute merkten, in welch großer Gefahr sie wirklich schwebten? Und vor allem; wie viele Leben hat es gekostet?“
Er goss die Flüssigkeit, die er kreiert hatte, in einen kleinen Becher stellte sie unter die Rotlichtlampe.
„Und dann kamen die Hamsterkäufe und die Panik. Die Menschen neigen übrigens dazu, in dieser Situation ihr wahres Gesicht zu zeigen. Allem voran ihren Egoismus. Und doch wurde auch dieses Virus zurückgeschlagen. Und was ist passiert? Der normale Alltag geht weiter, ohne, dass sich groß etwas verändert hat!“
Er spürte, wie die Wut, die er in sich trug, zum Vorschein kommen wollte. Doch er hielt sie zurück.
„Nein, die Welt braucht einen wahren Blackout. Erst dann wird sich wirklich etwas verändern.“
Er nahm den Becher aus dem Lichtschein der Lampe und griff sich zwei Röhrchen.
In einem befand sich ein Tropfen blauer Flüssigkeit, in dem anderen ein roter Tropfen.
Vorsichtig füllte Andrew den Inhalt des großen Bechers zu gleichen Teilen in die Röhrchen.
„Und wie ich vorhergesagt habe, wird es euch am Ende leid tun, nicht auf mich gehört zu haben. Ihr habt meine Warnungen in den Wind geschlagen, wolltet nicht auf mich hören. Und nach so vielen Jahren habt ihr mich einfach auf die Straße gesetzt!“
Er stellte die beiden Röhrchen in eine kleiner Halterung, kurz bevor ihn erneut ein Hustenanfall überkam. Das Blut, welches sich in seinem Tuch sammelte, wurde langsam dunkler.
Meine Zeit ist eh bald abgelaufen. Unter anderen Umständen hätte ich keine Selbstversuche durchführen müssen. Aber ich werde sicher keine Tränen für mich selbst vergießen.
„Ich nehme das auf, damit jeder, der diese Aufzeichnung hört, weiß, weshalb ich diesen Schritt gehen musste. Nicht aus Wut oder Hass, nein. Ich will, dass die Menschheit sich besinnt und einen neuen Weg des Lebens einschlägt. Und wie die Geschichte gezeigt hat, ist das nur möglich, wenn dem eine große Katastrophe hervorgeht.“
Er nahm die beiden Röhrchen aus der Halterung und verglich erneut den Inhalt.
Perfekt. Endlich ist es soweit.
„Am Ende tut auch mir jedes Leben leid, welches verloren gehen wird. Auch, wenn man es mir wohl nicht glauben wird. Aber anscheinend ist der Menschheit nicht mehr anders zu helfen. Die Geschichte wiederholt sich am Ende immer wieder.“
Vorsichtig füllte er die Flüssigkeit in eine kleine Flasche ab. Diese verpackte er in einen Karton, auf dem „Grippeschutz“ stand.
Dann stand er auf und schaltete seine Geräte der Reihe nach ab, streng darauf achtend, dass keine Informationen über die Zusammensetzung seines eigenen Virus gespeichert wurden.
Ihm war klar, dass man einen Ausbruch bis zu seinem Ursprung zurückverfolgen konnte. Daher konnte er nicht das Risiko eingehen, dass jemand seine Aufzeichnungen finden und anhand derer ein Gegenmittel herstellen würde.
Doktor Andrew Swenzo selbst würde man für sein Verbrechen nicht mehr belangen können, denn in ein paar Tagen würde er vom Angesicht dieser Welt verschwinden.
Sicherlich erwartet mich die Hölle. Aber egal, solange ich der Menschheit auf den richtigen Pfad zurück verhelfen kann.
Auch das Diktiergerät schaltete er ab, entnahm die Kassette und verstaute sie in einer Schachtel, in der zuvor noch ein altes Hörspiel gelegen hatte. Dieses hatte sein Sohn so gerne gehört, kurz bevor das Virus, der noch gar nicht so lange zurück lag, ihm das Leben nahm.
Am Eingang zu seinem kleinen Labor drehte sich Andrew noch einmal um und löschte dann das Licht. Dieses Labor würde er nie wieder betreten.
Dann machte er sich auf den Weg in seine Praxis, um dem ersten Patienten des Tages seine Grippeschutzimpfung zu injizieren.