„Liebste Schwester,
kaum zu glauben, dass bereits wieder ein Jahr vergangen ist. Erst in solchen Momenten wie diesen, in denen ich den Brief schreibe, merke ich, wie schnell die Zeit wirklich vergeht.
Bevor ich von mir berichte, hoffe ich natürlich wie immer, dass es dir dort, wo du gerade bist, gut geht.
Ich freue mich darüber, dir dieses Mal berichten zu können, dass meine Situation sich gebessert hat.
Ich bin umgezogen! Und nicht nur das, ich bin sogar ausgewandert. In Deutschland habe ich keine Arbeit finden können, so sehr ich es auch versucht habe. Aber nun lebe ich in Vancouver, Kanada, und arbeite als Animationskünstler in einer großen Firma.
Es ist unglaublich schön hier. Es gibt so viele ruhige Orte, die dir sicher gefallen würden. Und die Menschen sind so unglaublich freundlich! Ich lebe kein Jahr hier, aber ich verstehe mich mit den Kollegen bei der Arbeit und den Nachbarn hier, als würde ich schon seit Ewigkeiten dazugehören.
Mit Hilfe der Nachbarn war es mir sogar möglich, eine kleine Hütte am Whyte Lake nahe Horsehoe Bay zu bauen. So bin ich gerade mal dreißig Minuten Fahrt von Downtown und der Firma entfernt.
Heute ist der erste Schnee gefallen. Als ich heute morgen aus dem völlig beschlagenen Fenster geschaut habe musste ich an uns beide zurückdenken. An die Zeit, als wir noch Kinder waren. Vor allem daran, dass du mir immer eine Hand voll Schnee in den Nacken drücken wolltest, während ich abgelenkt war und versucht hatte, einen schönen Schneemann für dich zu bauen.
Es gibt Dinge, die wird man nie vergessen, egal, wie alt man wird. Aber ich vermisse diese Zeiten. Sie waren unbeschwert, nicht so voll mit Sorgen und Verpflichtungen. Und vor allem konnten wir die Zeit gemeinsam verbringen.
Jetzt werde ich die Abende vor dem Kamin verbringen. Du weißt ja, wie sehr ich das leise Knacken des brennenden Holzes mag, und den Geruch, der durch die Räume strömt, während sich diese wohlige Wärme langsam ausbreitet. Der Kakao darf dabei natürlich nicht fehlen. Und keine Sorge, ich trinke für dich einen mit, wie immer.
Ich wünschte, du könntest hier bei mir sein, Schwesterchen.
Da es sonst nichts weiter gibt, will ich dich auch nicht länger aufhalten. Nächstes Jahr werde ich dir wieder schreiben. Vielleicht dann mit noch mehr schönen Neuigkeiten. In den Gedanken bin ich jedenfalls immer bei dir.
Bis nächstes Jahr!
Dein Bruder“
Mit einem melancholischen Lächeln nahm der Mann seine Brille ab, faltete den Brief und steckte ihn in einen Umschlag, der mit den Worten „10. Jahrestag“ beschriftet war.
Langsam stand er vom Schreibtisch auf, nahm den Umschlag und legte ihn zu den anderen neun Briefen, von denen er jedes Jahr einen geschrieben, aber niemals einen verschickt hatte.
„Kaum zu glauben, dass es schon zehn Jahre her ist, seit du von uns gegangen bist, liebste Schwester“, raunte der Mann leise.
Dann setzte er sich in den Sessel, der vor dem Kamin stand, in dem leise ein wärmendes Feuer prasselte. Mit einem Seufzen atmete er leise aus und nahm einen Schluck des heißen Kakaos, der in einer Tasse neben ihm auf einem kleinen Beistelltisch stand. Dabei dachte an seine Schwester und die guten, vergangenen Jahre zurück.
Das hatte er seiner Schwester schließlich versprochen.