Jake wartet vor dem Eingang des Lokals, die Hände in den Taschen seines dunklen Jacketts, damit das nervöse Zittern nicht so auffiel. Normal war nicht so nervös, aber er wartete schließlich auch nicht auf irgendjemanden. Nein, er wartete auf eine ganz besondere Person – eine besondere Frau. Michelle war ihr Name, und wenn er so zurückdachte, konnte er sich gar nicht mehr richtig daran erinnern, wann genau er sich in sie so vernarrt hatte. Vor Jahren muss es gewesen sein, noch vor der Zeit, als sie zusammen bei dieser einen Versicherung gearbeitet hatten. Er wusste nur, dass sie seine Gedanken seitdem nicht mehr los ließ, ihn verfolge, Tag und Nacht, egal zu welcher Uhrzeit und was er gerade machte.
Dann sah er einen roten Ford in die Straße einbiegen, und sein Herz machte einen Sprung. Sie war endlich da. Also griff er schnell den Strauß mit den roten Rosen, den er auf dem Fenstersims des Lokals abgelegt hatte, und ging ihr entgegen. Sie parkte gerade ihren Wagen ein, da stand er auch schon parat und öffnete ihr die Tür.
Sein Herz pochte, als er sie sah. Das lange, dunkelblonde Haar, von einer roten Schleife zusammengehalten, fiel über ihren schlanken Körper und das rote, lange Kleid, von dem er gehofft hatte, sie würde es tragen. Ihre dunkelblauen Augen schauten zu ihm auf, und ein Lächeln auf den Lippen tragend. Sie hatte roten Lippenstift aufgetragen, das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich ein wenig in ihnen.
„Guten Abend“, sagte sie und ließ sich von ihm mit einer Hand aus dem Wagen helfen, die er sich vorher in seinem Jackett abgewischt hatte. Das letzte, was er wollte, war gleich zu Beginn unangenehm aufzufallen.
„Dir auch einen guten Abend“, brachte er hervor und musste schlucken. Warum fühlte sich sein Hals nur so rau und trocken an?
Sie kicherte plötzlich und deutete auf den Blumenstrauß. „Ich nehme an, die sind für mich?“
Erst da fiel ihm auf, dass er gar nichts weiter gesagt, sondern sie nur angeschaut - nein, eher angestarrt - hatte. Er spürte, wie seine Wangen warm wurden. Hoffentlich sieht sie nicht, dass sie rot werden.
„Ja, natürlich, entschuldige bitte“, antwortete er schnell und reichte ihr den Strauß. „Ich war gerade einfach nur erstaunt. Du siehst wundervoll aus.“
„Vielen Dank. Für die Blumen und das Kompliment.“ Sie musterte ihn schließlich. „Du hast dich aber auch herausgeputzt. Und dann auch noch Rosen mitgebracht. Die habe ich am liebsten.“
„Ich weiß“, murmelte er und erschrak beinahe, als er ihren fragenden Blick sah. Du Trottel, wieso hast du das gesagt? Verflucht!
„Entschuldige, was hattest du gerade gesagt? Ich hab das nicht richtig verstanden.“
Innerlich atmete er erleichtert aus. Sie hatte es einfach nicht verstanden. „Ein Gefühl“, sagte er mit einem Grinsen und hielt ihr den Arm hin. „Ich dachte mir, dass ich mit Rosen nichts falsch machen könnte. Wollen wir hineingehen?“
Sie hakte sich bei ihm ein, und zusammen betraten sie das Lokal. Der Ober führte sie direkt zum Tisch, den Jake in weiser Voraussicht vorbestellt hatte und ließ ihnen auch gleich die Weinkarte zukommen.
„Das ist wirklich ein schöner Zufall, dass wir uns mal wiedersehen, oder?“, fragte sie ihn unvermittelt, als er gerade nach ihrem Lieblingswein auf der Karte Ausschau hielt. „Und dann auch noch auf der Strecke, auf der ich regelmäßig jogge. Wie lange ist das her, dass wir für dieselbe Versicherung gearbeitet haben? Vier Jahre? Fünf?“
„Fünf Jahre und sieben Monate auf den Tag genau“, antwortete er beinahe etwas zu schnell. Sie schaute kurz etwas irritiert, dann lachte sie leise. „Du nimmst es mit den Zahlen noch immer so genau wie ich sehe.“
Und schon wieder ist es mir fast passiert. Das muss aufhören! Ich muss besser aufpassen!, ermahnte er sich selbst in Gedanken.
Da trat auch schon der Ober erneut an sie heran und bat um die Weinbestellung.
„Wir nehmen den Sauvignon Blanc“, sagte Jacke und gab dem Ober die Karte zurück. Der Ober nickte und verließ den Tisch wieder.
„Oh, den mag ich sehr. Gute Wahl, Jake.“
„Wirklich? Das ist mein Lieblingswein“, antwortete er dieses Mal und setzte ein nettes Lächeln auf.
„Sag Jake, wie ist es dir die Jahre ergangen? Was hast du so gemacht?“, wollte Michelle von ihm wissen und schaute ihn neugierig an.
„Ach, dies und das. Ich habe eine Zeit lang für eine andere Versicherung gearbeitet, aber die haben leider den Vorstand gewechselt, und … Ach naja, du kennst das. Das hat halt wieder Arbeitsplätze gekostet.“ Er winkte ab, um das Thema nicht weiter vertiefen zu müssen. „Ich habe aber eine neue Einstellung bei einer Bank gefunden“, fügte er noch abschließend an. Dass ich keine Arbeit habe muss sie ja noch nicht wissen.
„Und du, Michelle?“, fragte er, nachdem der Ober ihnen den Wein brachte und für beide eingeschenkt hatte.
Nicht, dass diese Frage für ihn wichtig gewesen wäre. Es fühlte sich so an, als ob er ihr ganzes Leben schon kennen würde. Er kannte ihren täglichen Ablauf, kannte ihre Arbeitszeiten, wusste, dass sie nach Feierabend gerne in die Karaokebar ging um sich dort mit ihren Freundinnen zu treffen und den Abend ausklingen zu lassen. Und natürlich wusste er auch, welche Strecke sie zum Joggen nutze. Sonst wäre es sicher niemals zu dieser „zufälligen“ Begegnung gekommen.
Und so hörte er sich alles an, was sie ihm erzählte. Er erkannte auch, wo sie Details ausließ, wie bei ihrer Familie. Warum erzählt sie nicht von ihren zwei Töchtern? Oder der Scheidung von vor zwei Jahren?
„Und nun ja, ich arbeite noch immer bei derselben alten Versicherung, aber ich bin jetzt stellvertretende Sekretärin mittlerweile“, schloss sie ihre Erzählung ab. "Und das Essen war wirklich wunderbar."
Jake hatte auch während des Essens, welches der Ober ihnen zwischendurch gebracht hatte – Rinderfilet auf Rotwein-Jus mit Pfifferlingen – stets aufmerksam zugehört.
„Finde ich auch. Das hört sich an, als hättest du viel erlebt in den letzten Jahren. Vor allem die Scheidung war sicher eine schwere Zeit“, antwortete er, und zu spät stolperte er selbst über seinen Fehler.
„Scheidung?“, fragte sie mit einem misstrauischen Ton. „Woher weißt du von der Scheidung?“
„Naja, du hast doch gerade noch davon erzählt, weißt du nicht mehr? Und dass es deinen beiden Töchtern ebenfalls sehr schwer fiel-“ Er brach mitten im Satz ab und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Du Idiot! Du Idiot!
„Ich habe weder etwas von einer Scheidung, noch von meinen beiden Töchtern erzählt“, antwortete sie mit scharfem Ton. „Was ist hier los, Jake? Woher weißt du das alles?“ Sie schaute ihn misstrauisch an, ihre Haltung war angespannt.
Jakes Herz raste, und er spürte, dass er zu schwitzen begann. Wie sollte er das noch retten? Er hatte es sich sprichwörtlich selbst versaut und sich verraten. Ein einziges Missgeschick, und seine Pläne hatten sich in Luft aufgelöst. Wie konnte ich bloß so dumm sein? Ich war abgelenkt und habe vergessen, was sie erzählt hat und was nicht!
„Hör mal, Michelle, es ist nicht ...“
„Fang mir jetzt bloß nicht so an, Jake!“, unterbrach sie ihn scharf, die ersten Gäste drehten sich schon mit fragenden Gesichtern zu ihnen um. „Weißt du, was ich glaube? Dass du mich stalkst! Dass du ein verdammter Stalker bist! Erst die Blumen, die ich so mag? Dann der „zufällig“ passende Wein? Selbst das Essen hat gestimmt, und weißt du, was das schlimmste daran ist? Bis zu diesem Moment hatte ich noch gedacht, dass das alle schöne Zufälle sind! Aber mit keinem einzigen Wort habe ich die Scheidung oder meine Kinder erwähnt!“ Wütend stand sie auf und griff nach ihrer Tasche. „Und unser Treffen auf meiner Laufstrecke war dann sicher ja auch kein Zufall, was?!“
Da sprang auch Jake auf und griff nach ihrem Arm. „Michelle, warte doch, ich kann das erklären!“
„Lass mich los, du Mistkerl!“, rief sie und riss sich selbst los. Wütend fixierte sie ihn. „Ich will dich nie wieder sehen, hast du das kapiert? Nie wieder!“
„Aber Michelle, lass mich das doch erklären! Ich liebe dich doch!“
Michelle hatte jedoch das Lokal bereits verlassen. Als Jake ihr folgen wollte, stellte sich der Ober ihm in den Weg. „Sie haben verstanden, was die Dame gesagt hat? Sie möchte nichts mehr mit Ihnen zu tun haben. Und die Polizei ist bereits verständigt.“
Jake wollte nicht aufgeben und versuchte verzweifelt, an dem Ober vorbeizukommen, seiner Michelle hinterherzulaufen, in der Hoffnung, die ganze Sache noch irgendwie geraderücken zu können, aber er schaffte es einfach nicht.
Mit tränennassen Augen saß er auf dem Platz, auf dem vorher Michelle – seine Michelle – gesessen hatte, als schlussendlich die Polizei eintraf und ihn mitnahm.
Selbst auf dem Revier hallten nur zwei Worte durch seine ansonsten leeren Gedanken. Verdammter Stalker! Verdammter Stalker!
Und es stimmte.