„L-32 an Zentrale, bitte kommen.“ Reynold wartete einen Moment, doch bis auf das Rauschen des Funksignals bekam er keine Antwort. „Wiederhole: L-32 an Zentrale, bitte kommen!“
„L-32, Zentrale hört“, kam die leicht rauschende Antwort.
„Hier Officer Tripwire, melde mich ab zur Pause.“
„Rey? Oh Mann, sag doch gleich, dass du das bist!“ Der Mann auf der andere Seite des Funks lachte.
„Lenny, bist du das?“, fragte Rey verwirrt. „Wie hat es dich in die Zentrale verschlagen?“
„Strafversetzung. Hab mich mit dem falschen Kollegen angelegt.“
Rey seufzte. „Du wirst es wohl nie lernen.“
„Sag mir noch mal schnell, wo du gerade bist“, bat Lenny ihn. „Du weißt schon, das Protokoll.“
Reynold beugte sich in seinem Sitz nach vorne und suchte nach einem Straßenschild. „Zweiunddreißigste Ecke Steward und Montana. Bin hier zum ersten Mal, aber ich habe gerade ein Diner entdeckt und mein Magen knurrt schon seit geraumer Zeit.“
„Alles klar, Kumpel. Iss was für mich mit, der Fraß in der Kantine ist heute echt furchtbar. Und pass auf dich auf, die Ecke ist nicht gerade für ihre liebenswürdige Art bekannt.“
„Wird gemacht! Over and Out“, beendete Reynold das Gespräch und stieg aus seinem Dienstwagen aus. In Gedanken musste er lachen. Er kannte Lenny schon lange und wusste um seine direkte, manchmal auch sehr raue Art. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er sich mit dem Falschen anlegte.
Trotzdem erkannte er die Ironie darin. Was er Lenny verschwiegen hatte, war, dass er selbst ebenfalls strafversetzt wurde. Rey hatte sich zwar mit keinem Kollegen angelegt, aber manchmal reichte es schon aus, seinen Captain infrage zu stellen, um unangenehm aufzufallen. Und niemand mochte Besserwisser.
Er zuckte mit den Schultern. Daran lässt sich jetzt auch nichts mehr ändern. Die wollen mir eine Lektion erteilen, schön. Aber dann hätten sich mich nicht an einen Ort mit Diner schicken sollen.
Der Officer grinste, bis er einmal zu tief einatmete und den Gestank der Gosse in seine Nase sog. Dieser war so überwältigend, dass Rey an sich halten musste, um sich nicht auf offener Straße zu übergeben. Er stützte sich an seinem Auto ab und hustete.
Abseits der Straße standen die verwahrlosten Obdachlosen um ihre Feuertonnen und klammerten sich an das letzte bisschen Besitz, welches sie noch hatten. Ihre Köpfe waren gesenkt, trotzdem spürte der Polizist die misstrauischen Blicke der Leute.
Denen sollte ich wohl lieber nicht zu nahe kommen, schlussfolgerte Rey in Gedanken und überquerte schnell die Straße. Für heute habe ich wirklich genug Stress gehabt. Außerdem beschlich ihn ein unerklärliches Gefühl einer bösen Vorahnung, je länger er sich in der Nähe der Gosse aufhielt.
Das Diner selbst unterschied sich weder von innen noch von außen sichtbar von den anderen in der Stadt. Außen waren die Gebäude meist in Silber mit rot-gelben Streifen gehalten, die Fensterfronten zogen sich um das gesamte Geschäft herum. Innen wurde die Einrichtung klassisch gehalten. An den Fenstern standen einzelne Sitzbänke mit roten Bezügen, die ihre besten Tage schon hinter sich hatten. Die Bedienungen liefen mal mehr, mal weniger motiviert durch die Gänge und nahmen die Bestellungen der Kunden auf, welche aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten kamen.
Reynold begab sich zum Tresen und setzte seinen Hut ab. Während er auf einem der Barhocker Platz nahm und der leisen Musik der 60er-Jahre lauschte, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen und sondierte die wenigen Gäste, die an den Tischen saßen und die Köpfe gesenkt hielten.
Der gesenkte Kopf scheint hier ja zum Alltag zu gehören.
Erleichtert atmete er einmal tief ein und wieder aus. Niemand von den paar Leuten, die sich mit ihm im Diner aufhielten, schien in irgendeiner Art auffällig zu sein.
Diese Ruhe habe ich mir verdient.
Er legte seinen Hut auf dem überraschend sauberen Tresen ab und ging im Kopf durch, was er heute schon alles geleistet hatte. Drei Raubüberfälle auf Geschäfte, mehrere Ruhestörungen und vier gewalttätige Auseinandersetzungen hatte er mithilfe der Verstärkung beendet.
Das Doppelte einer normalen Schicht in der Innenstadt.
„Und was verschlägt Sie hierher, Officer?“
Die kratzige Stimme riss Reynold aus seinen Gedanken und ließ ihn aufschauen. Vor ihm stand eine betagte, korpulente Frau mit einem faltigen Gesichtsausdruck, als hätte es sieben Tage durchgeregnet. Die kleinen blauen Schweinsäuglein wurden von der roten Hornbrille vergrößert und ihre blond-grauen Haare sahen aus wie ein hochgestecktes Krähennest, welches vom Baum gefallen war.
„Die Pflicht“, antwortete Rey wahrheitsgemäß.
„Ist klar, Süßer. Also, was darf es sein?“
„Einen Kaffee, schwarz, und die Spezialität des Hauses“, brummte er, enttäuscht, dass ihm kein Grund zur Festnahme der alten Schachtel eingefallen war. Er konnte nicht sagen, was es war, oder warum, aber er mochte sie nicht. Zählt das „Süßer“ als Beamtenbeleidigung?
„Kommt sofort“, krächzte die Frau und tippelte auf ihren hohen Absätzen davon.
Aus dem Augenwinkel sah der Officer einen der Gäste auf sich zukommen. Der junge Mann sah adrett aus, vollkommen unpassend für diese Gegend.
„Entschuldigen Sie, Officer?“
„Was gibt es denn?“, fragte Rey etwas zu forsch. Entschuldigen wollte er sich jedoch nicht, der Tag war einfach zu stressig gewesen. Nun wollte er einfach ein paar Minuten Ruhe haben.
„Dort hinten in der Ecke sitzt ein Mann, der Unruhe verbreitet.“ Der junge Mann zeigte auf die andere Seite des Diners. „Er raucht, was hier nicht erlaubt ist. Wir, also meine Freunde und ich, haben ihn darauf angesprochen, doch er hat einfach nicht reagiert.“
„Ist gut, ich kümmere mich darum.“ Seufzend nahm Reynold seinen Hut, stand auf und ging zwischen den Sitzreihen und der Theke zu dem Platz, an dem der Raucher saß. Das Diner hatte sich mittlerweile etwas mehr gefüllt.
Rey räusperte sich und schaute auf den Mann herab, der seinen braunen Hut tief ins Gesicht gezogen hatte. Den Kragen seines Mantels hatte er aufgestellt, sodass Rey aus seiner Position heraus nichts von dem angeblichen Unruhestifter erkennen konnte.
Rey zog seine Jacke etwas zurück und zeigte seine Marke. „Officer Reynold Tripwire vom -“, begann er, doch ein plötzlicher, stechender Schmerz in seinem rechten Oberschenkel ließ ihn kurz aufschreien. Er taumelte zurück und sah eine Spritze in seinem Bein stecken. „Was zur Hölle?!“, rief er und zog seine Waffe, doch dann gab das Bein nach und ließ ihn auf den Boden fallen. Die Nadel löste sich aus der Haut und die Spritze rollte unter eine der Sitzbänke.
Rey versuchte, sich zu bewegen, doch er spürte seine Glieder nicht mehr. Auch das Atmen fiel ihm schwer, in seiner Lunge brannte es wie bei einer Feuersbrunst.
Die anderen Gäste hatten sich bereits um den Officer versammelt und beachteten den Mantelträger nicht weiter. Unfähig, etwas zu tun, musste er mit ansehen, wie der verhüllte Mann aufstand und das Diner unbehelligt verließ.
Ein schneidender Schmerz fuhr durch Reynolds Kopf, er stöhnte laut auf und schloss die Augen.
Als er wieder zu such kam, drohte sein Herz, vor Schreck stehen zu bleiben.
Vor sich sah er nicht mehr das Diner, in dem er sich gerade noch befunden hatte. Er schien in einer anderen Dimension gelandet zu sein. Die Decke hatte sich in einen schwarz-roten Himmel verwandelt, an dem dicke, finstere Wolken hingen. Der Boden schien sich zu bewegen und spiegelte alle Farben des Regenbogens wider.
Doch was ihm den Graus durch die Glieder trieb waren die Monster, die um ihn herum standen und auf ihn hinabblickten.
Laut schrie er auf, seine Stimme hallte wie bei einem Echo nach und klang furchtbar verzerr.. Mit Händen und Füßen, welche er plötzlich wieder spüren und bewegen konnte, zog er sich von den Horrorgestalten weg. „Weg! Weg! Verschwindet!“, rief er dabei verzweifelt und schlug die Hände der Wesen weg, die nach ihm griffen.
Verstellte Fratzen und leere, schwarze Augen starrten ihn an. Die Haut der Wesen, welche dem Officer folgten, war zersetzt und zerfallen, einige Glieder und Gesichter bestanden nur noch aus Knochen.
Angst und Schrecken hatten Reynold bereits übermannt. Er schwitzte, sein Puls raste und sein Herz pochte so wild in seiner Brust, dass es zu platzen drohte. Seine Hand zitterte stark, als er mit den Fingerspitzen den Griff seiner Pistole zu fassen bekam und sie an sich heranzog.
„Verschwindet!“, kreischte er und richtete die Waffe auf die Dämonen.
Die Monster zischten und wisperten, einige schrien sogar auf, als sie vor ihm zurückwichen. „So ist es gut! Haut ab! Lasst mich in Frieden!“, schrie er panisch.
Rey konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. In seinem Kopf toste ein Orkan, jeder Gedanke erreichte ihn nur als ein fernes Rauschen, während sich der Wahnsinn in ihm ausbreitete.
Eines der Wesen streckte einen Arm aus und näherte sich ihm. Ohne nachzudenken zielte er mit der Waffe auf den Kopf des Monsters und drückte ab. Der Knall hallte verzerrt durch den Raum, die Kugel drang in den Schädel des Wesens ein. Das Monster wurde von den knochigen Füßen gerissen und blieb still liegen.
Ich kann sie töten! Ich kann sie töten!
Nun stürmten die anderen Dämonen auf ihn zu, ihre Fratzen näherten sich ihm, und mit ihnen auch die fauligen Hände, die an ihm zerrten und ihn zerreißen wollten.
Reynold schoss in die Menge, zerfetzte ein Monster nach dem anderen, doch die Meute war zu groß, die Ungeheuer zu stark. Eines der Wesen stürzte sich auf ihn, packte seine Hand mit der Waffe und versuchte, sie nach hinten zu drücken.
„Du kriegst mich nicht, Dämon!“, rief er manisch und wehrte sich, doch er unterschätze die Kraft des Ungeheuers.
Das Monstrum, beinahe nur noch ein Skelett mit messerscharfen Reißzähnen, riss ihm dem wahnsinnigen Officer den Arm in dem Moment nach hinten, als dieser den Abzug der Pistole drückte.
Die Kugel schoss durch das Gehirn von Officer Reynold Tripwire und befreite ihn aus der Welt der Dämonen.
Detektiv Henry Bernstein schüttelte den Kopf, als er sich den Tatort anschaute. Blut war auf dem Boden und den Tischen verschmiert, klebte an den Wänden und an den Zeugen. Einige der Opfer lagen noch im Diner, eingepackt in Leichensäcke, und warteten auf den Transport in die Pathologie, während die Überlebenden vor dem Diner von Notärzten betreut wurden. Die Straße selbst hatte er sperren lassen und einige Kollegen versuchten, die Schaulustigen, zum größten Teil die Obdachlosen, zu vertreiben.
„Was ist hier passiert?“, fragte er den Polizisten neben sich. „Haben wir schon Zeugenaussagen?“
„Ja, ein paar. Aber alle sagen dasselbe; der Officer sollte sich angeblich um einen Unruhestifter kümmern, als er plötzlich zusammenbrach. Als er wieder zu sich kam, hat er wild um sich geschossen.“ Der Polizist wirkte bedrückt.
„Kannten Sie den Officer?“, hakte Henry nach.
Der Mann nickte. „Ja, das ist Reynold Tripwire. Ich kenne ihn schon mein ganzes Leben lang, aber ich kann mir nicht erklären, was passiert ist. Er war immer freundlich und hat seine Arbeit sehr ernst genommen.“
„Ist Ihnen in letzter Zeit etwas an Officer Tripwire aufgefallen? Hat er sich merkwürdig verhalten?“ Henry schrieb alles, was er hörte, auf einem Zettel auf. Er wusste, dass jeder Hinweis wichtig sein konnte.
„Nein, gar nicht.“
„Und Sie heißen?“
„Lenny Erwing. Ich saß bis vorhin in der Zentrale, aber als ich den Notruf hörte, bin ich sofort hergekommen.“
„In Ordnung.“ Henry sah, wie aufgelöst Lenny war und wusste, dass er nichts Nützliches mehr erfahren würde. „Die Mordkommission übernimmt den Fall ab hier. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bei uns.“
Dann wandte der Detektiv sich ab und begann, den Tatort abzusuchen.
Wenn das wirklich stimmt, weshalb ist er dann so durchgedreht? Ein Mann tötet nicht einfach so von Jetzt auf Gleich sechs Menschen.
Der Detektiv ging in die Hocke und begutachtete eine der Blutlachen, als ihm etwas Glänzendes unter einer der Sitzbänke auffiel.
Was haben wir denn da?
Schnell zog er sich einen Handschuh über und angelte den Gegenstand unter der Bank hervor.
Dieser entpuppte sich als benutzte Spritze, an deren Nadel noch etwas Blut schimmerte. Frisches Blut.
Bingo.
Schnell verpackte Henry die Spritze in einem Beutel der Beweissicherung und steckte sie in seine Manteltasche und machte sich auf den Weg zum Labor, um das Beweisstück persönlich abzugeben.
Was auch immer dahinter stecken mag, ich werde den Fall aufklären.