Es war schon später Nachmittag und die Sonne begann bereits langsam zu sinken. Ein leichter Wind kam auf und versuchte, die Hitze zu vertreiben, die sich bereits seit Sonnenaufgang ausbreitete.
Martin wischte sich mit einem Arm den Schweiß von der Stirn. Er stand auf einem Hügel südlich der Stadt Trustor, Hauptstadt des Landes Valisis, und schaute auf das Gewirr der Häuser und verwinkelten Gassen.
Zwei Wochen, um hierher zu kommen, dachte er und schüttelte dabei den Kopf. Eigentlich hätte er die Stadt innerhalb von zwei Tagen erreichen sollen, doch auf dem Weg war so viel schief gelaufen.
Während er mit dem Abstieg begann, dachte er an die letzten Wochen zurück.
Als er sich vom Hofe des Königs verabschiedet hatte, war Martin am ersten Tag seiner Reise gut voran gekommen. Er hatte Täler und Wälder passiert, und sich erst lange, nachdem die Sonne bereits untergegangen war, einen geschützten Platz für ein Lager gesucht.
Auch der zweite Tag war ohne Zwischenfälle verlaufen, und abends hatte er den Fluss erreicht, den er am nächsten Tag überqueren wollte. Doch als er am dritten Tag erwacht war, fühlte er sich krank. Kopfschmerzen und Übelkeit hatten ihn überfallen und ihn gezwungen, weiter zu rasten, nachdem er etwas Wasser und ein paar Beeren gegessen hatte. In der Hoffnung, dass es ihm am nächsten Tag wieder besser gehen würde, hatte er den ganzen Tag und die Nacht geschlafen.
Doch es wurde nur schlimmer. Da er in diesem Zustand den Fluss nicht überqueren konnte, folgte er dem Pfad flussaufwärts, obwohl er sich kaum auf den Beinen halten konnte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit und mehreren Zusammenbrüchen fand er schließlich ein Bauernhaus. Er hatte sich zur Tür geschleppt und kaum noch Kraft zum Anklopfen gehabt. Er war vor der Tür zusammengebrochen, und ab dem Zeitpunkt hatte er nur noch vereinzelte Erinnerungen.
Die nächsten Tage hatte er im Fieberschlaf gebracht, und wenn er kurz zu Sinnen kam, hatte er nur entfernte Stimmen gehört.
Erst nach fünf Tagen war er wieder zu sich gekommen. Die Ehefrau eines Bauern hatte sich die Tage um ihn gekümmert, und selbst nach seinem Erwachen war er so geschwächt, dass er noch gefüttert werden musste. Auch ihr Mann kam ab und zu und schaute nach ihm, stets mit einem milden Lächeln. Doch in ihren Blicken konnte er die Erleichterung sehen, was ihn erst richtig erkennen ließ, wie knapp es um ihn gestanden haben musste.
Zwei Tage später konnte er dann mit den beiden zusammen am Esstisch zu Abend essen. Natürlich hatte er ihnen angeboten, sie für ihre Mühe zu entlohnen, was sie aber abgelehnt hatten. Das Glück, dass er wieder erwacht und ausreichend genesen war, sei ihnen Lohn genug gewesen.
Wäre er aber gegangen ohne sich ausreichend zu bedanken, hätte er sich schlecht gefühlt. Also hatte er einen Teil seines Geld in die Schürze der Frau gleiten lassen, als diese einmal nicht hingeschaut hatte.
Am Abend seines Aufbruchs hatten sie an der Tür ihres Hauses gestanden und ihm nachgeschaut, bis er außer Sicht war. Beinahe so, als ob sie ihren eigenen Sohn verabschiedet hätten.
Dann hatte er seine Reise nach Trustor ungehindert fortsetzen können, und war nun schließlich an seinem Ziel angelangt.
Martin betrat die Stadt zusammen mit anderen Reisenden und Händlern aus aller Welt, die geschäftig durch die Stadttore strömten.
Was sie wohl für Ziele haben?, fragte er sich in Gedanken, während er sich die unterschiedlichen Menschen anschaute.
Die Strapazen der letzten Zeit hatten einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Alte Freunde waren zurückgekehrt, neue Freunde hatte er gewonnen, aber auch wieder verloren. Nun war er wieder alleine unterwegs, und er fragte sich unwillkürlich, ob er je wieder der Alte sein würde, und ob seine Freunde ihn überhaupt noch erkennen würden, sobald er wieder mit ihnen vereint war.
Trotz allem war er hier, in der großen Stadt, ein Unbekannter. Niemand schenkte ihm große Beachtung, außer vielleicht einem kurzen Blick, wenn sein Weg sich zufällig mit dem eines anderen kreuzte.
Doch das war ihm nur Recht, denn er hatte einen Auftrag zu erfüllen. Je weniger Leute sich für mich interessieren, desto besser.
Als erstes führte sein Weg ihn durch die ärmeren Viertel der Stadt. Er sah kaputte Häuser und Straßen sowie verfallene Gassen, in denen Bettler saßen und sich einen Groschen für ihr Essen erhofften.
Kinder spielten in Lumpen gekleidet auf der Straße, andere waren bei ihren Eltern und halfen dabei, das wenige Hab und Gut zu pflegen, welches ihnen geblieben war.
Was auch immer ihnen zugestoßen ist, so sollte niemand leben müssen.
„Mister?“, hörte Martin plötzlich eine Stimme hinter sich und drehte sich um. Er schaute irritiert, als er niemanden sah. „Hier unten, Mister.“
Jemand zupfte an seiner Hose, und Martin schaute nach unten. Dort traf sein Blick die blauen Augen eines kleinen, blonden Mädchens, welches einen Becher vor sich hielt und zu ihm aufschaute.
„Mister, habt Ihr einen Groschen für mich übrig?“
Beim Anblick des Mädchens in den zerschlissenen Kleidern zog sich Martins Herz zusammen. Sie sollte nicht betteln müssen. Sie sollte eine schöne Kindheit haben. Mit anderen Kindern spielen und Spaß haben können.
Beinahe wie von selbst wollte er an seinen Geldbeutel greifen, hielt dann jedoch inne und schaute sich um.
Auch, wenn sie unauffällig waren, so schauten doch die anderen Kindern und ihre Eltern zu ihm. Wenn er dem Mädchen jetzt etwas zustecken würde, kämen auch die anderen zu ihm gelaufen, das wusste er.
Ich habe selbst nicht mehr viel, ging es ihm durch den Kopf. Und ich muss meinen Auftrag noch erfüllen.
Schweren Herzens ließ er die Hand wieder sinken und schaute zu dem Mädchen.
„Tut mir leid, Kleine. Ich habe leider selbst nicht mehr viel und muss sehen, dass ich einen Platz für die Nacht finde.“ Die Worte taten ihm in der Seele weh, genau so wie der Anblick des Mädchens, als dieses traurig hinabschaute und mit der Fußspitze über den Boden scharrte. „Tut mir wirklich leid“, wiederholte er noch einmal und setzte dann seinen Weg mit aufgesetzten Scheuklappen fort.
Diese Ungerechtigkeit brannte ihm in der Seele, ähnlich eines sturmentfachten Infernos, welches sich über seine Gedanken ausbreitete.
Wenig später fand er den Weg zum Marktplatz, wo die Händler an Ständen und Ladenecken ihre Waren mit schrillen Rufen feilboten.
Hier fand er Leute in feinem Zwirn, die sich nicht im geringsten darum sorgten, welch armseliges Leben die Menschen nur ein paar Straßen weiter führen mussten.
Hier regiert das Geld, und wenn du welches hast, wirst du immer jemanden finden, der dir jeden noch so ausgefallenen Wunsch erfüllt, dachte er verbittert.
Er setzte seinen Weg durch die Menge fort, belauschte dabei die Gespräche, die sich meist um marginale Alltäglichkeiten wie die Arbeit oder die Politik drehten, und fand schließlich mit etwas Glück ein Bekleidungsgeschäft.
Nach der Reise war seine Kleidung abgetragen, zerschlissen und dreckig, also betrat er das Geschäft und gab einen guten Teil seines verbleibenden Geldes für ein neues Hemd, eine Hose und neue Schuhe aus.
Lediglich seine alten Sachen ließ er dort zurück, denn sie konnte er nicht mehr gebrauchen.
Frisch bekleidet und mit seinem Schwert über dem Rücken trat er auf die Straße.
Gut, und jetzt kann ich mir Gedanken über meinen Auftrag machen. Aber den König zu töten wird sicher nicht leicht.
Doch bevor er sich darum kümmerte, suchte sich der junge Attentäter ein Zimmer für die Nacht.