Verfolgt Teil 2
Lina fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und schüttelte ihn, in der Hoffnung, so die Gedanken an ihr mögliches Ende loswerden zu können.
Um sie herum hörte sie das Brechen der Äste und Rauschen der Sträucher. Ihre Verfolger näherten sich ihr unerbittlich. Es würde nicht mehr lange dauern und ihre Häscher hätten sie eingeholt.
Mit aller Kraft versuchte sie, sich aus der eisigen Umklammerung der Angst zu befreien. Nur so wäre sie in der Lage, ihre Flucht fortzusetzen. Aber so sehr sie sich auch bemühte, nichts wollte ihr gelingen. Sie fühlte sich ohnmächtig und nur noch in der Lage, ihrem kommenden Ende ins Auge zu sehen.
Ihr Puls raste und ihr Herz pochte so stark, dass sie befürchtete, es würde jeden Moment explodieren.
Gehetzt schaute sie nach rechts und links. Jetzt hörte sie auch die Hunde bellen, die ihrer Spur durch den Wald nachjagten und sie unweigerlich finden würden.
Dann sprang auch schon einer der Jagdhunde aus dem Gestrüpp heraus und rannte mit wildem Blick, tiefem Knurren und gefletschten Zähnen auf sie zu. Er stürzte sich auf das Mädchen, riss Lina zu Boden und stand über ihr. Knurrend schaute er auf sie herab, sein Speichel fiel ihr ins Gesicht.
Sie fühlte sich wie eingefroren. Sie konnte sich nicht bewegen und war dem Hund hilflos ausgeliefert.
Dann schnellte der Kopf des Tieres hinab und …
Mit einem Aufschrei erwachte Lina aus ihrem Alptraum.
Es dauerte einen Moment, bis sich ihr wild schlagendes Herz wieder beruhigt hatte und sie erkannte, dass sie sich nicht mehr im Wald, sondern in der Hütte der Hexe befand, die sie vor ihrem Schicksal bewahrt hatte.
„Hast du wieder diesen Alptraum gehabt, Kindchen?“ Jasmira betrat das Zimmer mit einem Gefäß und einem Becher in der Hand. Sofort verbreitete sich der Duft von schwarzem Tee im Zimmer. „Ich habe dich schreien gehört.“
Lina sah der relativ jungen Hexe in das besorgte Gesicht, spürte aber, dass ihr Geist teilweise noch in dem Alptraum steckte. Es fühlte sich alles unwirklich und zäh an.
„Ja“, murmelte sie lahm und nahm einen Schluck aus dem ihr dargebotenen Becher, bevor sie sich die brennenden Augen rieb.
Der Tee wärmte ihren Körper und ihren Geist dank der Kräuter, die Jasmira immer hineingab.
„Es ist jetzt schon sechs Monate her“, fluchte Lina leise. „Wann hören diese Träume endlich auf?“
Jasmira zuckte mit den Schultern. „Vielleicht morgen? Vielleicht auch nie? Das kann ich dir leider nicht sagen.“
„Ich weiß noch immer nicht, wie ich dir für dein Eingreifen danken kann. Ohne deine Hilfe hätten mich die Dorfbewohner sicher gefangen.“ Nachdenklich fuhr Lina sich über die kleinen Narben an ihrem Hals. Ein Andenken an den Biss des Jagdhundes.
„Und ich habe dir schon mehrfach gesagt, dass du mir nicht danken musst. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, das ist alles.“
„Aber du hättest mir nicht helfen müssen. Und hast es trotzdem getan.“
„Hätte ich dich den Wilden in die Hände fallen lassen sollen? Kindchen, im Gegensatz zu dir bin ich eine echte Hexe.“ Jasmira grinste schnippisch. „Ich mache den Dorfbewohnern das Leben gerne zur Hölle.“
„Ich will auch nie wieder von Ranken in die Erde gezogen werden“, beschwerte sich Lina. Das schwache Grinsen verriet aber, dass sie es nicht böse meinte mit der Hexe. „Auch wenn es mir das Leben gerettet hat am Ende.“
„Wenn es dir besser geht, nehme ich für dich Rache an dem Dorf“, schlug Jasmira vor.
„Was?“
„Das Übliche halt. Die Ernte verderben, das Vieh krank machen. Alles, was man uns Hexen so nachsagt.“
„Nein!“, entfuhr es Lina lauter als gewollt. „Ich weiß nicht, das wäre nicht richtig. Sie wissen es halt nicht besser.“
„Und du?“ Jasmira zuckte mit den Schultern.
„Was ist mit mir?“ Lina schaute die Hexe verwundert an.
„Hast du es denn besser gewusst?“
Lina kaute auf ihrer Unterlippe und überlegte. Wenn sie richtig darüber nachdachte, konnte sie nicht behaupten, es besser gewusst zu haben. Sie hatte nur, im Gegensatz zu den anderen Kindern und Erwachsenen, die Schauergeschichten rund um die angeblich bösen Hexen nie geglaubt. Und seit sie Jasmira kennengelernt hatte, wusste sie, dass sie damit richtig gelegen hatte.
„Nein“, gab sie zerknirscht zurück. „Ich konnte es nur nie wirklich glauben. Aber konnte nicht beweisen, dass Hexen nicht so böse sind, wie es immer behauptet wird.“
„Siehst du? Und so geht es den anderen Bewohnern auch. Deshalb freut mich deine Antwort auf meinen Vorschlag bezüglich der Rache. Es wäre nicht richtig, die Leute zu bestrafen, nur weil sie es eben nicht besser wissen.“
„Aber irgendetwas muss man doch machen können!“, warf Lina resigniert ein. „Menschen werden gejagt, weil sie verdächtigt werden, Hexen zu sein. Diese Schauergeschichten haben mich meine Fami-“ Sie stockte, weil sie merkte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen.
In den letzten Monaten war kein Tag vergangen, an dem sie nicht an ihre Familie gedacht hatte. Sie wusste, dass sie ihre Eltern niemals mehr wiedersehen würde. Und dieses Wissen zusammen mit der Tatsache, dass sie niemals richtig hatte Abschied nehmen können, taten ihr in der Seele weh.
Dafür betete sie jeden Tag für ihre Eltern und hoffte, dass sie nun an einem besseren Ort waren. Zumindest ihre Seelen, denn Lina wusste, dass niemand ungestraft blieb, der eine Hexe beschützte oder gar bei sich versteckte. Jasmira ließ sie gewähren, auch wenn das Beten strikt gegen ihre Ansichten ging. Dafür war Lina der jungen Hexe wirklich dankbar.
„Und wenn ich dich zu einer Hexe ausbilde?“
Linas Kopf fuhr ruckartig in die Höhe. Verdutzt schaute sie Jasmira an. „W-Was?“
„Du hast schon richtig gehört, Kindchen. Ich kann dich zu einer von uns machen. Aber sei gleich gewarnt, dass das kein Kinderspiel wird.“
„Aber wie soll das gehen? Und was soll mir das bringen?“
Jasmira lächelte sanft. „Denk nach, Kindchen. Wenn du zu einer von uns wirst, kannst du die Leute vielleicht davon überzeugen, dass Hexen weder bösartig noch gefährlich sind. Ich zumindest kann an dir nichts dergleichen erkennen. Das wäre dann deine ganz eigene Art von ‚Rache‘. Zeige ihnen ihre eigenen Fehler.“
„Und warum hast du das nicht schon gemacht?“ Lina schaute Jasmira mit zusammengekniffenen Augen an.
„Ich kann nicht so gut mit Menschen. Menschen sind mir zu einfältig.“
„Na vielen Dank auch.“
„Nun gut, die meisten sind mir zu einfältig“, korrigierte Jasmira sich und lachte leise. „Also Kindchen, willst du zu einer Hexe werden?“
Tausende Gedanken schossen Lina gleichzeitig durch den Kopf. Es stimmte, dass sie dann versuchen konnte, die Leute davon zu überzeugen, dass sie sich irrten, und dass man sich vor Hexen nicht fürchten musste. Aber was war, wenn die Menschen ihr nicht zuhören wollten? Man würde sie wieder jagen, aber was hätte sich dann für sie geändert? Sie galt doch schon als Hexe und das auch noch in ihrem eigenen Heimatdorf. Dieser Irrtum hatte sie alles gekostet, was sie geliebt hatte und ihr gesamtes Leben von Jetzt auf Gleich zerstört.
Und würde es die Menschen nicht viel eher treffen, wenn sie sich eingestehen mussten, dass sie sich geirrt hatten? Dass sie einen großen Fehler gemacht hatten und damit das Leben von so vielen Leuten zerstört und beendet hatten? Sicherlich mehr, als wenn man ihnen zeigte, dass sie Recht hatten und man sie in ihrem Glauben bestärken würde.
Jasmira schnippste mit den Fingern vor Linas Nase. „Bist du noch wach, Kindchen? Also was nun? Ja oder nein?“
„Verzeih, ich war gerade in Gedanken und … Ja! Ja, ich möchte eine Hexe werden!“
„Wunderbar!“ Jasmira klatschte in die Hände und grinste breit. „Endlich habe ich mal wieder was anderes zu tun als den ganzen Tag nur Viehherden zu verpesten!“
Lina musste sie völlig schockiert angesehen haben. Jedenfalls lachte Jasmira und legte ihr beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. „Das war natürlich nur ein Scherz. Kindchen, sei doch nicht so leichtgläubig. Aber egal!“ Jasmira wandte sich der Tür zu. „Zieh dich an, wir werden gleich nach dem Frühstück anfangen.“
„Eine Frage habe ich noch, Jasmira!“
Die junge Hexe blieb in der Tür stehen und schaute Lina fragend an. „Was denn?“
„Warum nennst du mich immer ‚Kindchen‘? Ich meine, wir sind doch beide fast gleich alt.“
„Oh, bist du dir wirklich sicher?“
Bevor Lina weiter fragen konnte, war Jasmira bereits mit einem breiten Grinsen durch die Tür verschwunden. Sie schaute ihr verwirrt hinterher, beschloss aber, einfach ein anderes Mal wieder zu fragen.
Gerade war sie froh, dass Jasmira ihr neuen Mut gegeben hatte. Die Hoffnung auf eine Rache, die hoffentlich den Menschen verstehen helfen würde. Die ihr und anderen endlich ein ruhiges Leben geben würde und die Verfolgung der Hexen beenden würde. Für immer.
Schnell zog die angehende Hexe sich an und eilte ihrer neuen Lehrerin hinterher, um mit dem Unterricht zu beginnen.