Missmutig stocherte Kimberly mit einem dünnen Zweig zwischen den Ästen und Blättern herum. „Nun geh schon endlich an!“, rief sie dem schwelenden Lagerfeuer entgegen, seufzte genervt und wischte sich mit einer schnellen Handbewegung eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht. Mehr als etwas Qualm stieg nicht aus dem Haufen trockenen Holzes herauf. Dabei hatte Jannis ihr versichert, dass das Entfachen eines Feuers so einfach sei wie das Fahrradfahren.
In Momenten wie diesen fragte Kimberly sich, wie sie sich zu diesem Ausflug hatte überreden lassen können. Sie konnte nicht wirklich was mit der Natur anfangen und war eher das Leben in einer Stadt gewohnt. Zu allem Überfluss schien die Natur das zu bemerken. Schon auf der Wanderung zu diesem recht abgelegenen Platz, mitten im Nationalpark, war stets sie es gewesen, die über jede Wurzel und jeden Stein stolperte. Ganz im Gegensatz zu ihrem Freund, der sich in dieser Wildnis bewegte, als sei er hier zu Hause und sich hinter vorgehaltener Hand über sie amüsierte. Dabei dachte er wohl, sie würde das nicht merken.
Vielleicht stimmt es sogar, überlegte sie und dachte an die ganzen Geschichten zurück, die Jannis ihr über seine Vorfahren erzählt hatte. Vielleicht ist er hier mehr zu Hause als in der Stadt.
Rasch merkte Kimberly, dass sie mit dem Entfachen des Feuers kein Glück haben würde. Obwohl sie während des Sammelns strikt darauf geachtet hatte, nur die trockenen Zweige und Blätter zu nehmen. So, wie ihr Freund es mehrfach betont hatte. Außerdem tat ihr vom Sitzen auf der viel zu niedrigen Holzbank der Hintern weh, ihre Beine drohten einzuschlafen.
„Ich glaube, ich versuche mal, Kontakt zur Zivilisation aufzunehmen“, murmelte sie leise zu sich selbst und stand auf. „Und um dich kümmere ich mich später“, drohte sie dem Lagerfeuer.
Nach einem ausgiebigen Strecken, bei dem es sich für sie anfühlte, als würden ihre Knochen sich neu positionieren, kroch sie in ihr geräumiges Zelt, welches Platz für zwei Personen bot. Mit ausgestrecktem Arm angelte sie in ihrem Trekkingrucksack nach dem Handy und ging wieder nach draußen. Erst da fiel ihr Blick auf ihre rechte Hand und den abgebrochenen Fingernagel. „Scheiße!“, fluchte sie laut und stapfte mit dem Fuß auf. Einige kleine Zweige knackten leise unter ihrer Stiefelsohle. „Auch das noch! Dieser verfluchte Ausflug!“ Sie wusste, dass das während des Sammelns passiert sein musste, denn auf dem Weg zum Lagerplatz hatte sie aufgepasst, dass eben solch ein Malheur nicht geschah.
Innerlich kochend marschierte sie tiefer in den Wald hinein, den Arm mit dem Handy vor sich ausgestreckt. Irgendwo muss es hier doch Empfang geben. Na komm schon!
Nach paar Minuten Fußmarsch fand Kimberly eine Stelle, an welcher die dichten Baumkronen einige Lücken aufwiesen. Um sie herum war es still, nur manchmal hörte sie ein Rascheln in den Büschen oder den leisen Ruf eines Vogels in der Ferne. Freudestrahlend entwich ihrer Kehle ein hohes Jauchzen, als sich zwei Empfangsbalken auf ihrem Display aufbauten. Das würde zumindest für einen kurzen Anruf genügen. Schnell suchte sie in ihren Kontakten nach der Nummer ihrer besten Freundin und seufzte erleichtert, als sie Johannas Stimme am anderen Ende der Leitung hörte.
„Kimberly? Bist du das?“
„Gott sei Dank! Endlich wieder Kontakt in die Außenwelt!“, rief Kimberly theatralisch und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen hohen Baum.
„Wie hast du es geschafft, in dem Urwald Empfang zu bekommen?“
„Ich weiß es nicht, aber egal. Ich bin einfach nur froh, dich zu hören.“
„Ist es so schlimm?“, fragte Johanna, und Kimberly hätte schwören können, eine Spur Belustigung in der Frage gehört zu haben.
„Schlimmer, glaub mir. Der Weg zum Lagerplatz war schon eine Katastrophe. Jetzt habe ich gerade erfolglos versucht, dieses dumme Lagerfeuer zu entfachen. Aber egal, was ich damit anstelle, es klappt einfach nicht.“ Sie seufzte schwer. „Bitte hol mir hier raus.“
Jetzt konnte Johanna sich ein erheitertes Lachen nicht mehr verkneifen. „Was macht mein Bruder denn gerade?“, fragte sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.
„Nachdem Jannis mir zum gefühlt tausendsten Mal die Geschichte eures Urururgroßvaters erzählt hat, wie dieser sich mehrere Wochen alleine in einem Dschungel hatte durchschlagen müssen, mit nichts weiter als einer kleinen Wasserflasche und seinem Instinkt, hat er sich in den Kopf gesetzt, uns was zum Abendessen zu fangen.“
„Du weißt ja, wie er ist. Er liebt diese Geschichten. Hatte er schon Erfolg?“
„Seit zwei Stunden jagt er schon und scheint damit genau so gut klarzukommen wie ich mit dem Feuer.“ Jetzt schmunzelte auch Kimberly. Die Gespräche mit der Schwester ihres Freundes heiterten sie immer etwas auf. „Erzähl, was passiert gerade so im echten Leben?“
Während Kimberly den Ausführungen ihrer Freundin lauschte, lenkte ein kleines, flackerndes Licht im dichten Buschwerk ihre Aufmerksamkeit vom Telefonat ab. Sie hielt den Hörer weiter an ihr Ohr und ging vorsichtig auf den Busch zu, in dem das Licht verschwunden war.
Vielleicht ja nur eine Einbildung?
Doch in dem Moment, als sie ihre Hand ausstreckte und den Busch etwas zur Seite drückte, schoss ein kleines, kugelförmiges Etwas heraus und verschwand blitzschnell tiefer im Wald.
„Was zum Geier?“, fragte sie sich selbst.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte Johanna besorgt.
„Was? Ja, alles gut. Ich glaube, ich werde einfach nur verrückt.“ Sie wollte ihrer Freundin nicht unnötig Sorgen bereiten.
„Du bist nicht für die freie Wildbahn geschaffen. Glaub mir, ich auch nicht.“
„Dafür fühlt Jannis sich aber umso wohler hier“, antwortete sie und hielt Ausschau nach dem merkwürdigen Licht. „Du, ich glaube, wir sollten erst mal Schluss machen. Ich werde mal nach Jannis suchen gehen. Er hatte zwar versprochen, sich nicht zu weit zu entfernen, aber er ist mir doch schon etwas zu lange auf der Jagd.“
„Gut. Halt die Ohren steif! Und treibt mir ja nichts Unanständiges!“ Dann legte Johanna auf.
Kimberly steckte ihr Smartphone in die Jackentasche. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus, ähnlich einer düsteren Vorahnung. Nur wusste sie nicht, woher es kam oder was es zu bedeuten hatte.
Hat dieses Licht was damit zu tun? Was war das bloß?
Sie schaute zu den Baumkronen hinauf und sah den strahlend blauen Himmel. Trotz des dichten Blattwerks fiel auch noch genug Helligkeit in den Wald hinein, sodass sie zumindest Glühwürmchen ausschließen konnte. Nicht, dass sie sich damit sonderlich gut auskannte, sie folgte dabei eher einer Ahnung.
Gerade als sie sich dazu entschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, und dem Licht in den Wald hinein zu folgen, durchbrach ein gellender, angsterfüllter Schrei die Stille.
Kimberly lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie erkannte, wessen Schrei das war.
Jannis!