„Und? Seid ihr bereit?“
Jacob, alias „Tower“, schaute seine beiden Begleiter mürrisch an. Er hasste es, zu warten, und ausgerechnet die beiden waren nicht gerade dafür bekannt, die Schnellsten zu sein. Doch dafür waren sie Meister in ihren jeweiligen Fachgebieten.
Adrian, alias „Hacking Boy“ - was, wie Jacob dachte, ein echt lächerlicher Name war -, nickte. „Ich habe alles vorbereitet und warte nur noch auf dein Zeichen.“ Seine Augen glänzten dabei schon vor Tatendrang.
Adrian war ein Profi, wenn es darum ging, sich in Systeme zu hacken oder Sicherheitssysteme lahmzulegen. Sein Problem war nur, dass er manchmal zu selbstsicher war.
„Gut. Und du, Speedster?“
Damian, alias „Speedster“, schaute ihn unbehaglich an. „Bist du dir auch absolut sicher, dass das eine gute Idee ist?“
Jacob grunzte verächtlich. „Hast du eine bessere Idee, Blitzbirne?“
Damian war ihr Fluchtfahrer. Einer der besten, den man sich wünschen konnte. Die Polizei hatte keine Chance gegen ihn, und auch die anderen Gangs verzweifelten, wenn sie in einem Rennen gegen ihn antreten sollten. Aber sobald er nicht mehr hinter einem Steuer saß, verabschiedete sich seine Selbstsicherheit. Dann wirkte er eher wie eine weinerliche Memme. Und Jacob wurde nicht müde, ihm das immer und immer wieder unter die Nase zu reiben.
„Hör mal, du Memme“, begann Jacob und stieß den Lauf seiner Pistole gegen Damians Brust, „wessen Schuld ist es denn, dass wir in diesem verdammten Schlamassel sitzen? Meine sicher nicht, oder?“
„Das habe ich ja auch gar nicht gesagt“, verteidigte Damian sich und hob beschwichtigend die Hände. „Aber denkst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, in die Pathologie einzubrechen? Die ist sicher gut bewacht, und ...“
„Da ist kaum eine Menschenseele um diese Zeit“, unterbrach Adrian ihn und klappte seinen Laptop auf. Auf dem Display sahen sie die Bilder der Überwachungskameras im Krankenhaus. „Wie leergefegt. Nur der Totendoktor wuselt noch da unten herum.“
Jacob und Damian schauten auf die Anzeigen. Und tatsächlich waren die Flure des Krankenhauses verlassen. Beinahe wie in einer dieser Horrorgeschichten, die ja so gerne in Krankenhäusern spielten. Nur der dicke Wachmann saß am Empfang und mampfte gemütlich seinen Donut.
Ein wahrer Klischeebulle, dachte Jacob sich bei dem Anblick.
Er würde niemals zugeben, dass auch er Zweifel an der Aktion hatte. Doch der „Don“, dessen Namen niemand aus der Gang kannte, den aber jeder als Anführer akzeptierte, hatte ihnen den Auftrag gegeben. Und Jacob würde sich niemals mit dem Anführer der Gang anlegen.
„Ich bin mir trotzdem nicht sicher“, begann Damian, wurde aber von Jacobs wütendem Schnauben erneut unterbrochen.
„Würdest du jetzt verdammt nochmal aufhören, dich wie ein Weichei zu verhalten?!“, zischte Jacob den Fluchtfahrer an. „Langsam hab ich die Schnauze voll, Mann. Ich wäre auch gerade lieber im Hauptquartier und würde mir das Spiel ansehen, das gerade live übertragen wird. Und das könnte ich sogar, wenn du bei der Schießerei besser aufgepasst hättest und diese Passantin nicht mit über den Haufen geschossen hättest!“
Als Jacob Adrian leise lachen hörte, fuhr er herum und schaute den Hacker zornig an. „Dasselbe gilt auch für dich, Brüderchen!“
„Was hab ich mit der ganzen Kacke zu tun?“, antwortet Adrian aufmüpfig. „Ich war ja nicht mal mit dabei!“
„Deine verfluchte Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Straße gesperrt wird und niemand dort vorbeigelassen wird. Und was passiert? Kaum geht es los, gerät diese Passantin ins Kreuzfeuer!“
„Ich kann ja wohl nichts dafür, dass sie meint, eine Abkürzung zu nehmen, die nicht auf den Straßenplänen verzeichnet ist!“
„Dann hättest du dich besser umschauen sollen“, schnauzte Jacob seinen kleinen Bruder an und seufzte. „Jetzt haben wir halt den Salat und müssen ihn ausbaden.“
„Und wenn wir die Sache einfach vergessen?“, schlug Damian kleinlaut vor.
„Oh ja, Blitzbirne, eine super Idee! Warum bin ich da nicht drauf gekommen?“, krächzte Jacob heiser, um seiner Wut Luft zu machen und trotzdem nicht den gesamten Block zusammenzuschreien. „Dann geh doch einfach zum Boss und sag ihm, dass du es besser findest, die Sache einfach zu vergessen! Den Ärger mit den Bullen ist es sicher wert, was? Wie hohl bist du eigentlich? Der Boss würde uns die Hölle persönlich heiß machen!“
„Vertraut mir einfach“, mischte sich Adrian ein. „Das wird ein Kinderspiel. Wir knipsen denen da drinnen das Licht aus, stürmen den Laden, und sind schneller wieder raus als die gucken können.“
Jacob reichte die Diskussion ebenfalls langsam. Es muss halt gemacht werden.
„Also gut“, sagte er, nun etwas gefasster. „Wie Adrian sagte, wir knipsen dort drinnen das Licht aus. Dann überwältigen wir den Wachmann und sorgen dafür, dass der uns zur Pathologie bringt. Dort zwingen wir den Totendoktor, uns zur Leiche der Frau zu bringen und die Kugel auszuhändigen. Wenn er nicht mitspielt“, Jacob hob die Pistole und schraubte beim Sprechen den Schalldämpfer an den Lauf, „haben wir noch immer Mittel und Wege, ihn zur Mitarbeit zu überreden. Wenn wir die Kugel haben, verschwinden wir wieder.“
„Eine Sache verstehe ich aber nicht“, murmelte Adrian.
Jacob seufzte. „Was denn? Ich dachte, es wäre alles klar.“
„Mit dem Plan schon. Aber warum ist die Kugel so wichtig? Bei der Schießerei habt ihr ziemlich viele Kugeln an Ort und Stelle gelassen.“
„Ach so, das.“ Jacob war klar, dass sein kleiner Bruder noch nicht alle Abläufe der Gang kannte. Schließlich hatte er seinen Bruder erst vor Kurzem mit ins Boot geholt. „Der Don hat eine Abmachung mit der Polizei. Solange wir bei Schießereien nur Mitglieder der anderen Gangs erledigen, schauen die Bullen nicht so genau hin, aus wessen Waffen die Kugeln stammen.“ Jacob überlegte kurz. „Ich glaube, die Polizei hat diese Art Abmachung mit jeder Gang. Immerhin nehmen wir denen auch irgendwie die Arbeit ab.“ Dann zuckte er mit den Schultern. „Wie dem auch sei, jetzt hat es eine Passantin getroffen, verstehst du?“
Adrian nickte. „Ich denke schon. Wenn die Polizei herausfindet, dass die Kugel aus einer unserer Waffen stammt, bekommt der Don Probleme. Und wenn der Don Probleme bekommt, bekommen wir die Probleme ebenfalls.“
„So ist es, und da hat keiner Bock drauf.“
„Und wenn wir die Kugel haben“, mischte Damian sich ein, „können die Bullen nicht feststellen, woher sie kommt. Und keiner kann beschuldigt werden.“
„So ist der Plan, ja.“ Jacob nickte. „Und jetzt genug geredet. Setzt eure Masken auf.“
Alle drei zogen sich ihre Skimasken über die Gesichter.
„Wieso eigentlich diese altmodischen Dinger“, fragte Damian, der sich unter der Maske aus irgendeinem Grund unwohl fühlte.
„Die sind halt günstig. Und wir hatten die im Lager“, schnaubte Jacob. „Und erwartet nicht, dass ich mit diesen lächerlichen Werwolf- oder Präsidentenmasken der Sorte ‚Prinzessin auf der Erbse‘ da einmarschiere.“
„Die Prinzessin würde aber zu dir passen“, kicherte Adrian, was ihm einen Schlag von Jacob auf dem Hinterkopf bescherte. „Au, verdammt!“
„Konzentrier dich lieber, Flachpfeife. Gib mir den Auslöser.“
Jacob nahm von Adrian den Auslöser des kleinen EMP-Sprengsatzes entgegen, den der Hacker vorher an der Hauptstromversorgung des Krankenhauses platziert hatte.
„Dann wollen wir mal sehen, ob dein Spielzeug was taugt.“
Jacob betätigte den Auslöser. Kurz danach sahen sie von ihrem Versteck in der Gasse aus die Lichter des Krankenhauses erst flackern und dann komplett erlöschen.
„Bereit machen“ befahl Jacob und setzte sich in Bewegung. „Das Spiel beginnt.“