„Meister? Seid Ihr sicher, dass Ihr das tun wollt?“
Siniel lief ein Stück weit versetzt hinter seinem Meister, dessen dunkle Roben sich durch den schnellen Gang leicht aufblähten.
Beide waren auf dem Weg in die geheimen Gewölbe, um dem Auftrag des Rates nachzukommen.
„Wollen? Von Wollen kann hier keine Rede sein. Das ist ein direkter Auftrag vom Rat, und dem müssen wir nachkommen.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. „Ich muss dem nachkommen. Du solltest gerade für den Unterricht lernen.“
„Aber Meister, wenn wir das machen, ist das reinste Verschwendung von Wissen, welches uns noch nützlich sein könnte!“
Siniel sprach aufgebracht weiter, während sie das große, dunkle Gewölbe betraten, welches nur durch ein paar Fackeln an der Wand erhellt wurde. Das Licht erreichte kaum die Mitte des Raumes, wo Schutzsiegel auf den Boden gezeichnet waren.
Über den Siegeln hing ein eiserner Ring, der mittels Ketten die an den Wänden befestigt waren knapp über dem Boden gehalten wurde.
Ihre Schritte hallten durch die hoch gebaute Kammer. Die Luft roch abgestanden und etwas vermodert. Irgendwo in einer Ecke tropfte Wasser aus einer undichten Fuge, eine kleine Pfütze hatte sich dort bereits gebildet.
„Von Nutzen sein?!“ Der Meister fuhr aufgebracht herum und starrte den Schüler an. „Wie soll uns dieses Ding bitte von Nutzen sein?“
Der Meister hielt ihm das kleine, eiförmige Artefakt direkt unter die Nase.
„Dieses kleine Ding hat uns nur Sorgen und Ärger bereitet!“
„Ich bin mir sicher, wenn wir die Magie in diesem Artefakt weiter erforschen, dass wir sie dann auch für uns nutzen können!“, hielt Siniel dagegen. Er war erzürnt darüber, dass sein Meister nicht einmal in Betracht zog, dass er Recht haben könnte.
Siniel war die letzten Wochen dabei gewesen, während sein Meister das Artefakt, welches sie während einer Ausgrabung in den alten Ruinen der Elfen entdeckt hatten, untersucht hatten. Und er wusste, was für Schrecken die Versuche mit der unbekannten Magie heraufbeschworen hatten. Nun hatten Dämonen den Turm der Magier umzingelt und versuchten unentwegt, einen Weg hinein zu finden.
Doch er war sich sicher; wenn die Magier sich nur etwas mehr Zeit nehmen würden, würden sie die Magie verstehen lernen.
„Mehr Zeit? Mehr Versuche? Was soll uns das bringen? Mehr solcher Dämonen und abscheuliche Kreaturen, die bereits um unseren Turm schleichen? Oder noch größere Übel?“ Der Meister schüttelte den Kopf und legte das kleine, silberne Ei mit dem roten Rubin in der Mitte langsam in die Halterung. Danach wandte er sich einem Regal zu und suchte nach einem Buch. „Nein, es ist besser, wenn wir es zerstören. Wer weiß, welches Unheil dieses Ding sonst noch über uns bringt.“
„Ich denke, ich weiß, wie man die Magie benutzt, Meister“, gestand Siniel zögerlich. Er hoffte, dass er damit seinen Meister von dessen Vorhaben abbringen konnte.
„Du? Wie sollte ausgerechnet ein Schüler etwas von einer Magie verstehen, die selbst die Meister nicht gefahrlos benutzen können?“
Hilflos und wütend zugleich ballte Siniel seine Hände zu Fäusten. Wollte sein Meister denn nicht einmal hören, was er herausgefunden hatte?
„Der Rat hat einfach nur Angst, und Ihr ebenfalls“, sprach er seine Gedanken aus, was seinen Meister dazu veranlasste, sich mit wütendem Blick zu ihm zu drehen.
„Hüte deine Zunge, Siniel! Der Rat weiß genau, was er tut. Und wir werden dem Willen des Rates folgen. Du hast selbst gesehen, was passiert, wenn wir uns mit solchen Dingen beschäftigen.“
„Aber ich weiß, wie das Artefakt funktioniert! Wir müssen es nicht zerstören!“
„Siniel!“ Sein Meister fuhr ihn jetzt mit erboster Stimme an. „Ich warne dich zum letzten Mal! Entweder du hilfst mir dabei, dieses Ding zu zerstören, oder du verlässt den Raum und gehst lernen! Ich kann hierbei keine Störungen gebrauchen!“
Siniel beobachtete seinen Meister mit stummer Wut, während dieser das Buch, welches er gesucht hatte, aus dem Regal zog, um mit den Vorbereitungen für das Ritual zu beginnen.
In seinen Gedanken brodelte es. Wie konnte es sein, dass sein Meister sich so auf den Rat verließ? Warum hörte der Meister ihm nicht zu? Warum vertraute er Siniel nicht?
„Warum wollt Ihr mich nicht anhören? Habe ich Euch jemals enttäuscht, Meister? Weshalb vertraut Ihr mir nicht? Ihr seid dabei, das zu zerstören, was unsere Rettung sein kann! Lass es mich doch einfach erklären!“ Während Siniel sprach, näherte er sich seinem Meister und dem Artefakt immer weiter und nutze den Moment, als der Meister sich erneut zu ihm drehen wollte. Er griff sich das Artefakt, riss es aus der Halterung und machte einen Schritt zurück.
Kaum stand er etwas von seinem Meister entfernt, spürte Siniel, wie die Kraft des Artefakts ihn durchflutete. Sein ganzer Körper kribbelte, wurde heißer und heißer, aber es schmerzte ihn nicht.
Er schloss die Augen.
Dann hörte es sie. Die leisen Stimmen, die in seinem Kopf, in seinen Gedanken umher huschten, von einem Winkel in den anderen, und leise zu ihm sprachen.
Die Magie sprach mit ihm.
Und obgleich er die fremde Sprache nicht verstehen konnte, antwortete er ihr. Er musste die Sprache nicht sprechen, um den Willen der Magie zu verstehen. Diese Magie war lebendig, und anders als die Magie, die die Magier nutzten, um ihre Zauber zu weben, war diese Art Magie zu anderen Zwecken bestimmt. Zu größeren Zwecken, die selbst Siniel nicht erschließen konnte.
Doch davon wollte anscheinend niemand etwas wissen. Niemand außer Siniel, der gelernt hatte, ihr zuzuhören.
Als er die Augen wieder aufschlug, leuchteten sie in einem hellen Blau.
Alles um ihn herum war dunkel, das Gewölbe kaum mehr als ein Schatten. Selbst die Flammen der Fackeln hatten ihre Farbe verändert, erschienen nun in einem dunklen Grau.
Nur sein Meister, der mit erhobenen Armen und gestrafftem Körper vor ihm stand, erschien ihm in einer anderen Farbe. Der Körper des Magiers leuchtet in einem strahlenden Grün, und Siniel erkannte, dass es die Farbe der Magie war, die in seinem Meister ruhte.
Doch etwas beunruhigte Siniel. Die Magie seines Meisters floss nicht ruhig durch seinen Körper, sie war aufgewühlt, geriet in starke Wallungen, wirkte unruhig. So, als ob er sie vorbereiten würde. Aber für was?
„Leg das Artefakt weg!“, forderte sein Meister ihn mit erhobener Stimme auf.
Mit Schrecken erkannte Siniel, wofür sein Meister die Magie vorbereitete, doch er wollte es nicht glauben. Er wollte nicht glauben, dass der Meister bereit wäre, seinen Schüler anzugreifen.
„Tut das nicht, Meister“, sprach Siniel, und und war selbst davon überrascht, wie ruhig er nach außen klang. Dabei kribbelte es überall in seinem Körper, er bebte, das konnte er spüren. „Bitte, vertraut mir.“
„Ich sage das jetzt ein letztes Mal: Leg das Artefakt weg!“
„Das kann ich nicht, Meister. Dieses Artefakt hat die Dämonen erschaffen, aber es ist auch das Werkzeug, sie wieder zu vernichten. Ich kann nicht zulassen, dass Ihr es zerstört! Ihr seht es doch!“ In seinen Ohren klangen seine Worte beinahe wie ein Flehen. „Ich kann die Magie kontrollieren.“
„Dann lässt du mir keine Wahl.“ Die Stimme des Meisters klang kalt, beinahe gefühllos.
Erschrocken hob Siniel seine Arme um sich zu schützen, voll der Gewissheit, dass der Angriff seines Meisters ihn direkt treffen würde.
Er hörte, wie die Magie des Artefaktes ihn ihm aufschrie, sich in seiner Hand sammelte und sie brennen ließ wie das Feuer in einer Schmiede.
Dann hörte er einen weiteren Aufschrei, doch dieses Mal nicht von der Magie, die in seinem Körper aufgebracht wallte.
Langsam senkte er die Arme und blickte vorsichtig nach vorne. Was er dort sah, jagte ihm den Schrecken durch die Knochen.
Dort, wo gerade noch sein Meister stand, lag nur noch eine Handvoll Asche. Schwach nahm er noch ein grünes Leuchten war, welches kurz darauf erlosch.
Siniel lief zu der Stelle, kniete sich mit zittrigen Händen neben die Asche.
„Nein“, flüsterte er leise. Er konnte kaum begreifen, was gerade geschehen war. Hatte er seinen Meister angegriffen? Hatte das Artefakt das verursacht? Oder hatte dieses kleine, silberne Ei ihn geschützt und den Angriff seines Meisters zurückgeworfen?
Panisch blickte er sich in der Kammer um, doch es gab nur den Weg nach draußen, auf dem er und sein Meister das Gewölbe betreten hatten.
Tausend Gedanken durchfluteten in diesem Moment seinen Kopf. Er wusste, dass das Verschwinden seines Meisters auffallen würde. Und man würde ihn verdächtigen, etwas damit zu tun zu haben, wo er doch der letzte war, der den Meister lebend gesehen hatte.
Angst und Panik drohten ihn zu übermannen. Doch dann kam ihm eine letzte Idee. Und obwohl er genau wusste, dass sie nicht die beste war, sondern gefährlich und absolut unsicher, so war es doch der einzige Plan, der seine Unruhe etwas zu stoppen vermochte.
Er stand auf und ließ das Artefakt in die tiefe Tasche seiner Robe gleiten.
Dann lief er die Treppen nach oben und rief um Hilfe. Er würde den Magiern sagen, dass der Meister das Artefakt zerstört, doch dabei durch einen Unfall sein Leben verloren hätte. Ein Fehler in der Formel vielleicht, woher sollte er das als Schüler schon wissen? Angst machte ihm nur der Gedanke, dass er sich durch seine Nervosität selbst verraten würde. Also versuchte er sich – so gut es eben ging – zu beruhigen, bevor die Magier eintrafen.
Er würde verheimlichen, dass das Artefakt noch existierte. Er würde es selbst untersuchen, weiter verstehen lernen, und irgendwann würde er den Magiern beweisen, dass sie sich geirrt hatten.
Sofern jemand seiner Geschichte Glauben schenken würde.
Teil 2:
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Teil 3:
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