Serina trat aus dem kleinen Wäldchen heraus und sah dort Martin an einem flachen Abhang sitzen. Martin starrte gedankenverloren auf die Stadt vor ihnen und so konzentriert wie er dabei aussah, arbeitete er sicherlich bereits wieder an einem neuen Plan, um seine Freunde aus den Fängen der Schattenwesen zu befreien.
Obwohl sie sich leise neben ihn setzte, zuckte er doch kurz zusammen und schaute sie verwundert an. „Was machst du denn hier?“
Serina spielte nervös mit den Fingern.
„Naja“, sagte sie leichthin, in der Hoffnung, dass er ihre Nervosität nicht aus ihren Worten heraushören würde, „Ich habe mich dazu entschieden, dir die Wahrheit zu sagen.“
Seine Augenbrauen fuhren überrascht hoch. „Die Wahrheit? Du meinst, wegen deiner Hände?“ Sein Blick wandte sich ihren schwarzen Handschuhen zu.
Sofort überkam Serina ein Gefühl des Unwohlseins. Plötzlich war sie sich unsicher, ob es eine gute Idee war, ihm die Geschichte zu erzählen, doch sie atmete einmal tief durch und nickte. Sie hatte bisher nie mit jemandem über ihre Vergangenheit gesprochen, und dem entsprechend fiel es ihr schwer, überhaupt einen Anfang zu finden.
„Ja. Ich mag es nicht, wenn jemand meine Hände sieht, wie du vorhin sicher bemerkt hast.“
Martin rieb sich mit einer Hand die Wange, auf der noch immer ein leichter Abdruck ihrer Hand zu sehen war, und lachte kurz auf. „Ja, das habe ich gemerkt. Aber warum?“
„Du musst mir versprechen … nein, du musst mir schwören, dass du diese Geschichte niemandem sonst erzählen wirst, ja? Keinem, unter keinen Umständen.“
Die Dringlichkeit in ihrer Stimme ließ Martin kurz etwas zurückschrecken, doch er nickte und legte eine Hand auf sein Herz. „Ich schwöre es. Es scheint dir damit ja wirklich wichtig zu sein. Aber wieso willst du mir das eigentlich so plötzlich erzählen?“, hakte Martin neugierig nach. „Du hast dich den ganzen Weg über ziemlich verschlossen, was dich betrifft.“
„Weil ich es nicht gewohnt bin, über mich zu sprechen“, antwortete sie ehrlich und schaute ihm dabei in die Augen. „Aber du hast alles so offen erzählt. Hast mir berichtet, was dich bewegt und antreibt. Wer deine Freunde sind und was mit ihnen passiert ist. Und deshalb denke ich, dass ich auch ehrlich sein sollte.“ Sie zögerte kurz. „Um ehrlich zu sein, hat mich deine offene Natur erst dazu gebracht, dich überhaupt zu begleiten. Deine Überzeugung, dass du es schaffen kannst, deine Freunde zu befreien, wirkt ziemlich ansteckend.“
„Wenn ich nicht daran glaube, dann kann ich es auch nicht schaffen, nicht wahr?“
„Das mag stimmen. Aber was, wenn -“
Martin hob eine Hand und unterbrach sie im Satz. „Darüber denke ich gar nicht nach“, sagte er ruhig. „Aber ich bin froh, dass du dich entschieden hast, mitzukommen. Obwohl du mich kaum kennst. Deshalb war ich von Anfang an so ehrlich zu dir. Außerdem musste ich dir doch zeigen, dass du mir vertrauen kannst. Es hätte ja auch eine Lüge sein können, dass Renta mich zu dir geschickt hat.“ Sein Blick wandte sich wieder der Stadt zu. „Also, ich bin ganz Ohr.“
Serina kam nicht umhin, Martin für seine Offenheit zu respektieren. Er war ein einfacher Mann, der in einen Krieg geraten war, mit dem er vorher nichts zu tun hatte. Und er war ehrlich genug, um zuzugeben, dass er Hilfe benötigte.
Sie konnte es nicht genau beschreiben, aber sie hatte auch das Gefühl, dass er sie nicht nur wegen ihres Wissens über die Schattenwesen bei sich haben wollte. Vielleicht, um nicht an Einsamkeit auf dieser beschwerlichen Reise zu vergehen?
Obwohl sie vorher noch Zweifel gehegt hatte, ob sie ihre Geschichte wirklich erzählen wollte, war sie nun überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war. Sie schluckte kurz und begann zu erzählen.
„Ich war gerade mal sieben Jahre alt, und es war kurz vor meinem achten Geburtstag. Ich wuchs in einem Dorf im Hochland auf, mit sechs älteren Brüdern, sowie einer älteren und einer jüngeren Schwester und meinen Eltern.“ Ein kurzes Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Meine Eltern mochten es zwar gar nicht, aber ich liebte es, in den Wald zu rennen und dort zu spielen, kurz bevor die Sonne aufging mit ihren Strahlen alles in ein warmes, goldenes Licht tauchte. So war ich auch an diesem Tag im Wald spielen und kam gerade ins Dorf zurück, als mir die Schweine einer anderen Dorfbewohnerin auffielen.“ Sie stockte kurz, fuhr dann aber fort.
„Normalerweise waren die Schweine zu dieser Zeit wach und liefen frei herum, doch ich sah zwei von ihnen auf der Straße liegen. Reglos, als wären sie gestorben.
Ich bin natürlich zu ihnen gelaufen und wollte sie mir anschauen, als ich hinter den Tieren dann eine Senke bemerkte, die vorher nicht da war.“ Serina schauderte bei dem Gedanken, den sie jetzt in Worte fassen musste.
„Die Schweine starrten mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sie lebten noch, waren aber unfähig, sich zu bewegen. In der Senke wirkte der Boden flüssig, als würde er pulsieren, oder zumindest sich bewegen, und war von schwarzen Linien durchzogen. Ich rüttelte mit beiden Händen an einem der Tiere, weil ich dachte, so könnte ich ihnen vielleicht irgendwie helfen.“ Sie schaute auf ihre Hände. Dabei fiel ihr auf, dass sie nervös mit ihren Fingern spielte und faltete sie schnell ineinander.
Martin ließ sie einfach sprechen, und nur kleine Gesten wie ein Zucken der Mundwinkel oder das Heben der Augenbrauen hatten ihr bisher bestätigt, dass er ihr überhaupt zuhörte.
„Der Anblick war einfach schrecklich, und die Tiere taten mir leid. Doch bevor ich etwas machen konnte, spürte ich ein plötzliches Brennen an meinen Händen. Ich riss sie zurück, aber da war es schon zu spät. Es war die Erde mit ihren schwarzen Linien, und ich konnte nur hilflos mit ansehen, wie sie sich über meine Hände ausbreitete und die Haut unter ihr verbrannte.“ Ihr Blick wanderte erneut zu ihren Händen hinab.
„Dann weiß ich noch, wie ich schreiend nach Hause lief und meine Mutter mir eilig die Erde abschrubbte, aber da war es bereits zu spät. Drei meiner Finger waren schon verschwunden, und die anderen waren verbrannt, an zwei von ihnen fehlte die komplette Haut. An den Handflächen hatten sich Brandblasen gebildet.“ Sie holte kurz Luft und schauderte leicht, als sie das entsetzte Gesicht ihrer Mutter vor sich aufblitzen sah.
„Was ist dann geschehen?“, fragte Martin plötzlich und schaute sie direkt an.
„Du hast einfach aufgehört zu erzählen“, sagte er, als er ihren überraschten Blick sah.
„Oh, verzeih bitte. Aufgrund der Verletzungen und des Schocks erkrankte ich an einem schweren Fieber, welches mich fast ganze zwei Wochen an das Bett fesselte. Doch wie durch ein Wunder überlebte ich. Im Gegensatz zu meiner Familie.“ Ratlos zuckte sie mit den Schultern.
„Diese Krankheit der Erde hatte sich ausgebreitet und das ganze Dorf befallen. Keiner überlebte. Nur ich. Aber ich weiß bis heute nicht, wie oder warum.“ Serina beendete ihre Geschichte und schaute abwartend zu Martin.
„Und was hast du dann gemacht?“, fragte er sofort. „Ich wüsste nicht, was ich in so einer Situation machen würde.“
Erneut zuckte sie mit den Schultern. „Ich bin gerannt. Einfach gerannt. Ich wusste nicht wohin, denn ich hatte ja niemanden mehr. Schließlich bin ich auf einen Bauernhof gestoßen und wurde dort aufgenommen. Da bin ich dann aufgewachsen und habe mich später dem Widerstand angeschlossen.“
Martin nickte verständnisvoll. „Danke, dass du mir deine Geschichte erzählt hast. Das bedeutet mir ziemlich viel.“
Serina legte das Kinn auf ihre Knie und setzte ein mürrisches Gesicht auf. „Wenn du es jemandem erzählst, bringe ich dich persönlich um.“
Nun musste Martin lachen. Es war ein aufrichtiges, ehrliches Lachen. „Was anderes habe ich auch nicht erwartet.“
Und auch Serina musste schmunzeln, wenn auch gegen ihren Willen. So wie immer, wenn Martin lachte.