Seit wenigen Tagen saß der siebzehnjährige Christoph nahezu ununterbrochen an seinem geliebten Flügel und übte eine der schwierigsten Etüden des großen Frédéric Chopin ein, die ihm einiges abverlangte. Mit zusammengepressten Lippen und den Blick starr auf die Tastatur gerichtet, spielte er die anspruchsvollen Arpeggios, aus denen das gesamte Werk bestand. Und damit würde er erst aufhören, wenn wirklich jede einzelne Note saß.
Das hatte er sich in dem Moment geschworen, als er vergangenen Dienstag den langersehnten Brief von Frau Dresen erhalten hatte. In ihrem Schreiben hatte die Leiterin der örtlichen Musikschule Christoph mitgeteilt, dass er für den diesjährigen Klavierwettbewerb zugelassen wurde und welches Stück er zu spielen habe.
»Scheiße«, fluchte er, nahm seine Finger von der Klaviatur und fuhr sich gestresst durch sein Haar. Missmutig warf er der Partitur einen bösen Blick zu und kreiste mit einem Bleistift eine Note ein.
»Ozean-Etüde … oh toll, die klingt wie ein mächtiges Meeresrauschen, wenn der Ozean zum Leben erwacht«, äffte er die Worte seines besten Freundes Patrick nach. »Wohl eher das dramatische Ende der Titanic …«
Über seine eigenen Worte lachend setzte er erneut seine Finger auf die Klaviatur, trat das Fortepedal durch und begann das Stück vom ersten Takt an zu spielen.
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»Ich begrüße Sie recht herzlich zum diesjährigen Klavierwettbewerb "Jugend musiziert". Ich bitte um einen großen Applaus für unsere zehn jungen Talente«, sagte Frau Dresen und deutete den Pianisten an, sich zu erheben.
Christoph und seine Kontrahenten waren noch nicht ganz aufgestanden, da setzte auch schon der tosende Beifall ein. Unsicher sah der Junge ins Publikum und musste feststellen, dass nicht ein Stuhl im Kammermusiksaal unbesetzt war. Ein flaues Gefühl machte sich in seinem Magen breit und seine Hände begannen zu schwitzen.
»Fangen wir an«, fuhr die Leiterin fort und der Applaus verebbte. »Unser erster Teilnehmer heißt Christoph Gerdemann. Er wird die legendäre Ozean-Etüde von Frédéric Chopin spielen. Christoph, komme bitte zu mir herauf.«
Der Anweisung folgend erklomm der Junge die Treppe und blieb kurz darauf zwischen dem riesigen Konzertflügel und der Veranstalterin stehen. In diesem Moment fühlte er sich wie auf einem Silbertablett präsentiert. Ein lautes Pfeifen erweckte seine Aufmerksamkeit und als er seinen Blick durch die Sitzreihen gleiten ließ, fand er seinen besten Freund Patrick breit grinsend vor. Dieser zeigte ihm einen Daumen nach oben und pfiff erneut mit den Fingern. Unwillkürlich musste Christoph schmunzeln.
»Ich bitte noch einmal um einen sagenhaften Applaus für diesen jungen Mann und Christoph«, die Leiterin wandte sich an den Jungen, »zeig den Leuten, wie dramatisch ein musikalischer Ozean sein kann.«
Als der Beifall einsetzte, verbeugte er sich vor dem Publikum und steuerte danach auf den Flügel zu. Als er an diesem Platz nahm und die Klavierbank zurechtrückte, kehrte allmählich wieder Ruhe im Saal ein. Tief Luft holend versuchte er sich zu sammeln und setzte behäbig seine vor Nervosität zitternden Hände auf die Klaviatur.
Und dann begann seine Interpretation eines Ozeans. Die tiefe Melodieführung setzte er kraftvoll um, während die Arpeggios wie tosende Wellen auf einem offenen Meer glichen. Gedanklich stellte er sich während seines Spiels ein altes, hölzernes Schiff vor, dessen Besatzung Stoßgebete gen Himmel schickte und alles in ihrer Macht Stehende versuchte, dem Sturm standzuhalten und ein Untergehen zu verhindern. Ein kurzer Lichtblick ließ die Mannschaft hoffen, den Sturm bald überstanden zu haben, doch dann erhoben sich erneut die Wellen und brachten das Schiff gefährlich ins Wanken. Die am Deck befindliche Glocke läutete unregelmäßig, obwohl niemand sie betätigte. Dann bildete sich ein Strudel, der sich zunehmend vergrößerte und wie ein gefährlich wirkender Trichter bis zum Meeresgrund zu reichen schien. Panische Hilfeschreie wehten durch die Luft und wurden im nächsten Moment von einem Donnerschlag verschluckt. Rettungsboote wurden trotz des gefährlichen Seegangs zu Wasser gelassen, doch keiner der anwesenden Personen schaffte es, auch nur einen einzigen Fuß in dieses setzen zu können. Blitze erhellten die Szenerie kurzzeitig und der darauffolgende Donner ließ die Besatzung zusammenzucken. Ein Mast brach und stürzte samt dem Segel über Bord, verschluckt von der hungrigen Wassermasse, die nur darauf zu warten schien, das Boot vollends zu verschlingen und damit in seine Gewalt zu bringen. Der Rumpf knarzte und brach augenblicklich auseinander. Schreie. Die Glocke verstummte. Das Meer schien zu siegen und mit jeder Welle, die wie Fangarme unaufhörlich alles an sich zu reißen schienen, wurde alles in dem schwarzen Loch des unersättlichen Strudels verschlungen. Erneut blitzte und donnerte es und Christoph setzte den Schlussakkord im Fortissimo. Schweiß lief ihm über die Stirn und er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Dann sah er auf und nahm die Hände von den Tasten. Sein Blick fiel auf die Leiterin, die regungslos und sichtlich ergriffen dastand. Hatte er sich etwa verspielt? Er war so in Gedanken gewesen, dass er es ohnehin nicht bemerkt hätte. Tief sog er frischen Sauerstoff in seine Lungen und wusste sich nicht zu verhalten. Diese unerträgliche Stille. Wo blieb der Applaus? Waren jetzt alle von ihm enttäuscht? Zögerlich erhob er sich und blieb unmittelbar am Flügel stehen.
»Das war …«, begann die Veranstalterin und schien offensichtlich nach Worten zu ringen. »Das war unglaublich.« Sie klatschte in die Hände und das Publikum stieg mit ein.
Die Geräuschkulisse wurde zunehmend lauter und Christoph sah in den Gesichtern der Jury eindeutig Anerkennung.
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»Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht, aber eine ganz besondere Interpretation hat uns wortwörtlich den Atem geraubt oder besser gesagt: sie hat uns aus den Socken gehauen. Ich bitte Sie meine Wortwahl zu entschuldigen. Die Jury und ich sind uns einig, dass ihr alle wirklich tolle Talente seid, aber einer von euch hat uns heute ganz besonders gefallen.« Die Leiterin machte eine Sprechpause und trat vor die zehn Pianisten, die nebeneinander in einer Reihe stehend offensichtlich auf eine baldige Verkündung hofften. Darunter natürlich auch Christoph. Aufgeregt sah er zu Patrick hinüber, der beide Daumen gedrückt nach oben hielt.
»Kommen wir nun zur Siegerverkündung. Unser diesjähriger Gewinner von "Jugend musiziert" ist … Christoph Gerdemann. Herzlichen Glückwunsch.« Sie trat, während das Publikum euphorisch klatschte, auf den Jungen zu und überreichte ihm eine Urkunde und einen Scheck.
Sein Glück konnte Christoph noch immer nicht fassen, als er stolz auf die Urkunde sah, auf der tatsächlich sein eigener Name geschrieben stand. Sein Fleiß in den letzten Tagen hatte sich definitiv gelohnt und mit dem großzügigen Preisgeld würde er sich endlich seinen langersehnten Traum erfüllen. Ein neuer Flügel.
*** In der Audiodatei hört ihr die Ozean-Etüde Opus 25 Nummer 12 in c-moll von Frédéric Chopin. ***