Neulich in der Bachstraße Nummer siebzehn, ein rot geklinkertes Einfamilienhaus mit einer langen Auffahrt zur nebenstehenden Garage und einem kleinen Vorgarten, der aus einer hochgewachsenen Tanne und leicht verwildertem Rasen bestand, dröhnte laute Musik nach außen auf die Straße, so laut, dass sogar die Fensterscheiben sichtlich vibrierten. Während das Tageslicht zu dämmern begann, fuhr ein dunkelblauer Wagen in die gepflasterte Einfahrt und kam vor der Garage zum Stehen. Die Tür ging schwungvoll auf und der Fahrer stieg aus dem Auto. Allerdings traute der seinen eigenen Ohren nicht. Das durfte doch nicht wahr sein, ging ihm durch den Kopf. Kaum war er mal eine Stunde unterwegs gewesen, drehte sein Freund wortwörtlich auf. Aber dem würde er jetzt ein Ende setzen. Der Schwarzhaarige öffnete den Kofferraum, schnappte sich den darin liegenden Karton und legte die daneben liegende, weiße Tüte oben drauf. Vollgepackt marschierte er zur Haustür, klemmte die Kiste zwischen sich und Hauswand, damit die freie Hand den Schlüssel aus der Tasche fischen konnte. Umständlich öffnete er die Tür, aus der ihm dröhnende Bässe entgegenkamen, die selbst seinen Körper vibrieren ließen. Nachdem er eingetreten und die Tür ins Schloss gefallen war, ging er direkten Weges in das Wohnzimmer, dass eindeutig die Lärmquelle war. Mit einem Handgriff war die Musikanlage verstummt, der Karton auf dem hölzernen Esstisch gelandet.
»Schatz?«, rief er lauter als beabsichtigt, während er sich die Jack auszog und über den Stuhl hängte. Kurz warf er einen Blick in die leere Küche und zuckte verwundert darüber mit den Schultern. Dann war er sicherlich oben und würde ohnehin gleich wieder runter kommen. Jetzt aber waren ganz andere Dinge wichtiger, nämlich seine heutigen Flohmarktfunde. Vorsichtig verteilte er die im Karton befindlichen Porzellanfiguren auf dem Tisch und zog aus der weißen Tüte ein paar alte Schellackplatten heraus. Fein säuberlich sortierte er die Platten durch und erfreute sich besonders über eine seltene Prägung von Zarah Leander. Die würde er auch gleich auf dem alten Grammophon seines Opas auflegen, zuvor brauchte sie aber dringend eine Reinigung.
Währenddessen sah Darius verwundert vom Laptop auf, als die Musik verstummte. Er hatte die Anlage doch zuvor auf Wiederholung eingestellt, da war er sich absolut sicher. Darüber irritiert, dass auch nach wenigen Sekunden die Musik ausblieb, stand er auf und stieg nur auf Socken die Treppe hinunter bis ins Wohnzimmer, in welchem er mit niemanden gerechnet hätte, jedoch versetzte ihm die plötzliche Anwesenheit seines Freundes einen fürchterlichen Schrecken.
»Wuah!«, schrie er auf und zuckte am ganzen Körper kurz zusammen.
Martin erging es ebenso, da er den Blonden genauso wenig kommen sah. Dadurch entglitt ihm die noch eben gehaltene Figur aus den Händen und drohte auf dem Boden zu zerbarsten. Instinktiv versuchte er sie schnappend zu erreichen, jedoch stürzte sie unaufhaltsam in die Tiefe und zersprang in mehreren Splittern auf dem harten Parkettboden.
»Nein!«, rief er entsetzt.
Der Schwarzhaarige bückte sich zu den Scherben und nahm eine davon in die Hand.
»Die war zweihundert Jahre alt ...«, jammerte er, »wieso musst du mich so erschrecken? Die ist hin!« Demonstrativ zeigte er auf dem zu seinen Füßen liegenden Scherbenhaufen, der eine Palette an Emotionen in ihm auslöste. Von Wut über Trauer bis hin zur Fassungslosigkeit.
»Du hast mich erschreckt. Früher haste ma’ gerufen, dass du wieder da bist«, erwiderte der Angesprochene trotzig.
»Ich habe nach dir gerufen, aber keine Antwort erhalten. Wahrscheinlich bist du schon taub geworden, von der lauten Musik.«
Das wäre bei der Lautstärke denkbar gewesen.
»Ich war oben und hab’ nichts gehört. Sorry. Was war ’n das?«, erkundigte sich der Blonde und bückte sich etwas zu den Scherben herunter, »wieder so ’n alter Firlefanz vom Flohmarkt? Willste hier bald ’n Laden eröffnen oder was?« Sich wieder aufraffend lief er in einem großen Bogen um die bunten Splitter herum zum Tisch, auf dem er noch weitere Figuren vorfand, die auch von seiner Oma hätten stammen können.
»Das ist kein Firlefanz. Das war ein über zweihundert Jahre altes Liebespaar aus feinstem Porzellan. Handbemalt und gefertigt in Dresden«, erklärte Martin betrübt. Er ärgerte sich über den Bruch der Figur. Sie hätte fantastisch zu den anderen in die Vitrine gepasst und hatte sogar einen Seltenheitswert. Allerdings musste er dafür auch seltene Scheine dafür hergeben.
»Richtig ... War«, betonte Darius die aktuelle Lage noch einmal und wollte gerade zu einer der weiteren Figuren greifen, als Martin ihm davon abriet und schützend die Hände über die Skulpturen hielt.
»Lass’ mich das bitte alleine machen. Ich möchte nicht, dass noch eine kaputt geht. Wäre zu schade. Hier ... die kannst du auflegen«, er griff zu einer der Schellackplatten und hielt sie Darius entgegen. »Nimm aber die fünfer Dose, die Platte will ich schonen. Hab’ auch noch ein paar weitere Leckerbissen gefunden«, freute er sich und präsentierte seine Funde wie in einer Verkaufswerbung für Autos.
»Alter, geil! Die hatten se einfach so da rumliegen, oder was?«, fragte er, während ihm Martin die Platte in die Hände drückte. »Ja, aber die Zarah war die einzige dort«, hörte er seinen Freund erklären und schlurfte unterdessen zum Abspielgerät herüber.
Die Vorfreude stieg bei beiden Jungs. Darius, der die Abspielnadel bereits sinken ließ, grinste wie ein Honigkuchenpferd. Wenn es um alte Musik ging, war er Feuer und Flamme. Ebenso erging es Martin, der gerade mit einem Lappen die Figuren abwischte und bei den ersten aufgekommenen Tönen seine Tätigkeit unterbrach. »Hammer!«, rief er begeistert aus und schlenderte mit tanzenden Bewegungen auf seinen Freund zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter, während Darius intuitiv die freie Hand von Martin ergriff und sich in Position stellte, wie er es gelernt hatte und übte leichte Bewegungen aus.
Die Schritte wurden präziser und geschmeidiger, doch Martin stieß den Blonden von sich, der sich einmal drehte und wieder in die Ausgangsposition zurückkehrte, die Füße wieder synchron zu Martins Schritten.
Zusammen legten sie im Takt der Musik eine flotte Nummer aufs Parkett, bis die Musik verstummte und sie prustend schließlich endeten.
Und die zerbrochene Figur, war schon längst vergessen.