Martin saß am Esstisch und las in einem abgewetzten Buch. Seine Stirn lag in Falten, während er leise vor sich hin murmelte: »Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier …«
»Dann renn ich schreiend aus der Tür«, unterbrach ihn Darius. »Und wenn die fünfte Funzel brennt, biste definitiv dement. Na, wie war das? Hammer, oder?«
Martin sah auf. »Hast du ganz toll gemacht, Schatz. Kannst du dich bitte mit etwas anderem beschäftigen, als mich zu stören?«
Die Antwort folgte sogleich, als sein Freund sich auf dem gegenüberliegendem Stuhl niederließ.
»Jetzt mal ohne Scheiß: Was willste mit dem Mist?«, wollte Darius wissen und deutete auf das Buch. »Der Kram ist steinalt! Mach doch mal was Neues … ach nee, lass stecken.« Er winkte mit der Hand ab und nahm mit der anderen einen Dominostein aus der Glasschale, die auf dem Tisch stand, den er sich in den Mund steckte, jedoch nicht zerbiss und mit der Zunge in die linke Backentasche beförderte. Der zweite folgte sogleich hinterher und landete auf der anderen Seite.
Das Buch aus der Hand legend, lehnte sich Martin an die Stuhllehne zurück. »Was wird das, wenn's fertig ist?«
»Wasn?« Darius legte sich beide Handflächen auf die Wangen, drückte zu und präsentierte die zermatschte Süßigkeit in seinem Mund, wie ein Kleinkind es täte.
Martin schüttelte den Kopf und seufzte auf . »Warum bist du jetzt hier? Läuft nicht eine deiner Serien?«
»Nö«, erwiderte Darius. Im nächsten Moment langte er erneut in die Schale. Dieses Mal fanden drei Dominosteine ihren Weg in seinen Mund.
»Was ist mit deiner Konsole? Kein Spiel zu spielen?«
»Nö.«
Martin gab es auf und erhob sich vom Stuhl.
»Wo gehst du denn jetzt hin?«
»Ich gehe in mein Arbeitszimmer … und zwar allein.«
»Schon gut, ich geh wieder ins Wohnzimmer, okay?«
Martin hielt in seiner Bewegung inne, als er hinter sich das Stuhlquietschen vernahm. Er drehte sich zurück zum Tisch und musste unwillkürlich schmunzeln, als er Darius’ dicke Hamsterbacken bemerkte. Wie viele lagen wohl jetzt in seinem Mund? Fünf, sechs?
»Wenn du so weitermachst, wird dir gleich schlecht.«
Er setzte sich zurück auf den vorherigen Platz.
»Nö, mein Rekord liegt bei achtundvierzig Stück«, nuschelte Darius mit vollem Mund. »Außerdem …«
»Achtundvierzig?«, wollte Martin erstaunt wissen. »Schon mal an einen Zuckerschock gedacht?«
»Junge, ich bin mit dir zusammen, demnach müsste ich doch jeden Tag einen Zuckerschock erleiden, nicht wahr?«
»Schieb ab jetzt«, forderte Martin lachend. »Übrigens: Der Spruch war auch steinalt.«
In Darius Gesicht bildete sich ein breites Grinsen als er meinte: »Aber gut!« Er machte kehrt, jedoch drehte er sich erneut zu Martin herum. »Mir fällt gerade was ein: Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, nehm ich mir schnell noch ein Bier. Und wenn das fünfte nicht mehr schmeckt, weiß ich, wo der Glühwein steckt. Advent, Advent, ein Lichtlein brennt! Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann heißt es wieder: Schlecht ist mir. Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, ist's die eigene Lampe im Moment. Advent, Advent, ein Lichtlein brennt! Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, lieg ich auf dem Boden hier. Und wenn das fünfte Lichtlein brennt, hat’s geklappt: Advent verpennt – exzellent. So sollten Gedichte heute sein. Da weiß jeder sofort was gemeint ist.«
»Bist du jetzt fertig?«, wollte Martin amüsiert wissen.
»Jupp.«
»Gut. Dann gehe jetzt bitte woanders hin, damit ich hier noch etwas Ruhe habe.«
»Bin schon weg«, flötete Darius, der ins Wohnzimmer lief.
Erleichtert atmete Martin auf. Er nahm sich das Buch zur Hand und schlug es an der zuvor gelesen Stelle auf. Doch dann zuckte er zusammen, als Darius’ Stimme erneut die Stille durchbrach.
»Martin! Dein scheiß Kranz brennt hier gerade ab!«
In diesem Sinne wünsche ich euch allen einen schönen ersten Advent.