Nebel zog vom Rhein ans Ufer und hüllte die ersten Reihen des Weinanbaugebiets in eine gespenstische Landschaft. Der Vollmond erhellte nur mäßig das Feld, jedoch reichte Anton das Licht, um zu erkennen, wie eine Person sich durch die Gänge schlich. Während er seine Zigarette im Aschenbecher ausdrückte, vernahm er einen markerschütternden Schrei und blickte sofort zurück auf das unter ihm liegende Feld. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er eine zweite Gestalt erkannte, die der anderen dicht auf den Fersen war. Aber was war das? Spielte ihm seine Fantasie einen Streich? Anton verengte die Augen zu schlitzen und konzentrierte sich auf das Geschehen. Doch dann sah er es deutlich. Die hintere Person war kopflos. Anton verschluckte sich augenblicklich an seinem eigenen Speichel und umklammerte mit beiden Händen das Geländer seiner überdachten Terrasse. Was ging hier vor sich? Die erste Person blickte sich um, schrie sich die Seele aus dem Leibe und begann zu rennen. Der Verfolger dicht dahinter. Anton zuckte zusammen, als ein weiterer Hilferuf in seine Ohren drang. Er riss sich von der Situation los, rannte ins Hausinnere, die knarzende Holztreppe hinunter und riss sogleich die schwere Eichentür auf. Vom Haken schnappte er sich die Taschenlampe, die dort immer hing, und den alten Gehstock seines verstorbenen Großvaters. Ohne weitere Zeit zu verlieren stürmte er auf das Feld zu, schaltete die Lichtquelle ein. Suchend leuchtete er in die Reihen der Reben, horchte nach irgendwelchen Lebenszeichen. Doch es war still. Weder Schritte noch Rufe durchbrachen die stille Nacht. Dann hörte er ein Wimmern. Oder war es ein Flehen? Sofort machte er sich auf und lief ins Feld hinein. Dort, wo er die Stimmen zu vermuten glaubte, fand er nichts. So zwängte er sich durch Blätter und Geäst, zog sich dabei tiefe Kratzer auf Armen und Schulter zu. Er biss die Zähne zusammen, den Schmerz unterdrückend, und ließ den Lichtschein erneut durch die Laufschneisen wandern. Wie aus dem Nichts stolperte ein junger Mann mit weit aufgerissene Augen in sein Blickfeld. Anton brauchte nicht lange zu überlegen, um den Jungen als seinen Kumpel Kai zu identifizieren. Dann geschah alles ganz schnell. Hinter Kai tauchte der Kopflose auf, in seiner rechten Hand eine gefährlich wirkende Klinge, mit der er nach dem Jungen fuchtelte.
»Lauf, Anton, lauf!«, stieß Kai zwischen seinem schnellen Atem hervor, stolperte und fiel vornüber zu Boden. »Lauf, Anton!«
Die düstere Gestalt stürzte sich wie ein Raubtier auf seine Beute, packte Kais Haarschopf und zog den Kopf nach hinten. Mit einer schnellen Bewegung durchfuhr die Klinge die Kehle des Jungen, noch bevor er schreien konnte. Gurgelnde Laute mischten sich zu Kais Röcheln, bis beides versiegte.
Anton stand unter Schock. Blickte geradewegs in Kais leblose Augen, in denen noch derselbe Ausdruck lag. Lauf weg! Der abgetrennte Kopf verschwand unter dem schwarzen Gewand des Kopflosen, was Anton in das Hier und Jetzt zurückholte. Augenblicklich machte er kehrt und flüchtete zurück zum Haus. Hektisch atmend warf er die Tür ins Schloss und verriegelte diese. Panisch suchten seine Augen nach dem Telefon, das er auf dem Hocker vor dem Tisch fand. Noch während er direkt darauf zueilte, polterte es plötzlich am Eingang.
»Scheiße«, stieß er aus und blickte über die Schulter zur Tür. Die Zarge knarzte und schien den unnachgiebigen Stößen nicht mehr lange standzuhalten. Als er den Handapparat in seine Hände brachte, brauchte er mehrere Anläufe, die Notrufnummer zu wählen. Plötzlich wurde es stockdunkel, das Telefon verstummte. Anton konnte nichts erkennen und tastete sich blind zum Tisch vor, auf welchem ein Feuerzeug liegen sollte. Hinter Anton stoppte die Gewalt gegen die Tür und es kehrte eine unangenehme Stille ein. Allein sein stoßartiges Atmen durchbrach die Stille, und es schien, als hätte sein Verfolger aufgegeben. Als Anton das Objekt der Begierde ertastete, ließ er seinen Daumen sogleich über das Reibrad fahren. Unzählige Funken blitzten auf, bis die Flamme entzündet war. Er drehte sich um und erstarrte. Direkt vor ihm stand der Kopflose. Das letzte was Anton vernahm war der Luftzug der Klinge, die seinen Hals durchschnitt.