In der Bachstraße war es mucksmäuschenstill. Der Nebel verschleierte die Straße und ließ sie wie ausgestorben wirken. Wäre nicht heute der erste Tag im neuen Jahr gewesen, hätte man meinen können, dass das Gesamtbild aus einem Horrorfilm entstanden war. Reste von Raketen und Batterie-Feuerwerke, sowie zahlreich geleerte Sektflaschen standen am Gehweg aus vergangener Nacht. Nur in dem Haus Nummer Vierzehn lief an diesem Morgen bereits das Radio.
»Guten Morgen Freunde. Ich bin's wieder euer Phil und wünsche euch ein frohes neues Jahr. Ich hoffe, ihr seid alle gut reingekommen und habt es ordentlich krachen lassen. Wisst ihr, wenn man in einem gewissen Alter ist, dann fällt es einem verdammt schwer, am nächsten Morgen aufzustehen. So erging es auch mir. Und ich sage euch, es wird mit jedem weiteren Jahr nicht besser. Also, wenn auch ihr noch schlapp seid und einen Kater habt, denkt an Rollmöpse und Kaffee. Und hey ... denkt daran, dass ihr viel trinken müsst. Dazu habe ich euch auch den perfekten Song rausgesucht. Vi–el Spaß« Es folgte "Geh’ mal Bier hol’n" von Mickie Krause.
»Alter, ist das sein Ernst? Mir kommt der Scheiß gleich wieder hoch. Hält sich wohl für ’nen Clown, dieser tolle Phil, huh?« Darius saß wie ein Schluck Wasser in der Kurve am Küchentisch, den Kopf auf seine Hände gestützt und den Blick starr auf den Tisch gerichtet.
»Humor hat er«, amüsierte sich Martin, der weniger angeschlagen war. Ja, es war eine lange Nacht gewesen. Erst gegen fünf Uhr waren sie wieder Zuhause gewesen. Nach der Feier saßen sie noch bis sechs Uhr in der Küche und tranken noch zusammen mit Vincent und Raphael einen Absacker. Allerdings blieb es nicht nur bei dem einen Glas.
»Alter ... das alte Jahr ist vor wenigen Stunden erst beendet worden und das neue beginnt genauso wie das alte. Wo ist das bitte ein Neuanfang?« Darius ließ den Kopf auf die Tischplatte fallen. »Au«, jaulte er auf, »ich brauche dringend 'ne Aspirin.«
Martin grinste das Häufchen Elend vor sich an und schob seinem Freund ein Glas mit aufgelöster Tablette zu. »Hier.«
So wie sein Freund heute Nacht drauf gewesen war, war es abzusehen, dass der heutige morgen genau so ablaufen würde. Mit anderen Worten: "The same procedure as every year".
»Danke.« In ganzen zwei Schlücken leerte der Blonde das Glas und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. »Ich glaub’, ich hau’ mich nochmal hin. Wieso hast du eigentlich nichts? Das ist total unfair!«
»Schatz, im Gegensatz zu dir habe ich zwischendurch ein Wasser getrunken. Außerdem bin ich es nicht gewesen, der heute morgen mit Vincent noch die Flasche Ouzo getrunken hat.«
»Echt? Vincent und ich haben noch ’ne ganze Flasche gesoffen? Geil!«
»Sag’ bloß, du weißt das nicht mehr?«
»Nee.«
»Auch nicht, dass du die Tanzfläche unsicher gemacht hast? Raphael meinte, dass das so eine Art Breakdance gewesen ist.«
»Na hör’ mal ... ich hab’ vielleicht ’n kleinen Filmriss, aber das weiß ich noch. Abrissparty mit Filmriss, war mein Motto.
Und dann spielt dieser DJ auch noch so ’n Scheiß. Dirty Dancing«, murrte er. Während er sprach, massierte er sich abwechselnd die Schläfen und Augen.
»Schön, dann weißt du ja auch, dass wir gleich bei den beiden Jungs sein müssen. Vincent hat Neujahrshörnchen gemacht. Also ’ne Stunde Zeit hast du noch.« Mit diesen Worten stand Martin auf und holte ein Glas Rollmöpse aus dem Kühlschrank. »Hier, iss die! Ich mach’ dir einen Kaffee dazu.«
»Oh Mann ...«
★
»Können wir nicht einfach absagen und hier bleiben?« Darius stand zähneputzend im Türrahmen des Badezimmers und beobachtete seinen Freund beim Umziehen. »Hey! Und wenn du das Teil wieder ablegst, wirst du auch kein Hörnchen mehr brauchen.« Vielsagend wackelte er mit den Augenbrauen, verzog aber sofort das Gesicht, da diese Muskelbewegungen ihm ganz und gar nicht gut tat.
»Na, das glaube ich wohl eher weniger. Spätestens wenn dein Kopf das Kissen erreicht, bist du auch schon wieder im Schlummerland. Also versprich nichts, was du nicht halten kannst. Und jetzt mach’ hinne«, lachte Martin und knöpfte sich die schwarze Jeans zu. Martin hörte seinen Freund noch aus der gleichen Richtung brummen und warf sich nun einen Pullover über.
»Bist du soweit?«, erkundigte sich Martin und lief in den Flur.
»Sklaventreiber«,knurrte der Blonde und lief ins Schlafzimmer.
Martin lachte auf und ging die Treppe herunter.
Kurze Zeit später, hörte der Schwarzhaarige langsame Schritte auf der Holztreppe und der Blondschopf betrat die Küche.
»Wir können.«
»Schön, dann komm, Schatz.« Im vorbeigehen drückte Martin ihm einen Kuss auf die Wange und warf sich im Flur den Mantel über.
»Wir können immer noch hier bleiben, mir geht's auch schon etwas besser.« Darius bemühte sich um ein Lächeln.
»Umso schöner. Dann schmecken dir die sahnigen, cremigen, fettigen, üppigen, süßen...«
»Halt die Klappe!«, grätsche Darius dazwischen, »das liebst du, oder? Immer schön Salz in die Wunde reiben.«
»Stell’ dich nicht so an. Und jetzt komm’! Wir sind schon zehn Minuten drüber.« Martin amüsierte sich insgeheim noch immer, aber wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht sorgen.
Zusammen überquerten sie die Straße, die noch immer trostlos und verlassen aussah. Auch der tiefgraue Himmel sorgte für ein eher geschundenen Jahresanfang.
»Jetzt renn’ doch nicht so. Hast du den gar kein Mitleid?« Der Blonde hatte ersichtlich Mühe, seinem Freund zu folgen.
»Ach Schatz, soweit ist es nun auch nicht«, sagte Martin, während er bereits die Treppenstufen erreichte.
»Hey, ihr zwei. Da seid ihr ja«, begrüßte sie Raphael erfreut. Der Rothaarige stand im Türrahmen und schlug die Arme um seinen Körper.
»Hi, Raffi. Tut mir leid, aber Darius brauchte etwas länger, nicht wahr, mein Schatz?« Ein spöttisches Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit und deutete mit dem Daumen auf seinen Freund, der noch bei der ersten Stufe war.
»Na, dann kann er sich gleich zu Vincent auf die Couch setzen, oder besser legen. Der ist nämlich auch nicht ganz fit. Kommt rein.« Mit einer einladenden Handgeste trat er zur Seite und ließ die Besucher eintreten.
»Hi, na ihr!« Vincent sah nicht viel besser aus als Darius. Anscheinend war er erst vor kurzer Zeit aufgestanden.
»Hey, Vin! Ist deiner auch so ein Sklaventreiber?« Mürrisch warf er seinem Freund einen kurzen Blick zu und wandte sich wieder dem Brünetten zu.
»Hör’ mir bloß auf«, lachte er, »mein Göttergatte kennt da keine Gnade.«
»Das ist doch ’ne Verschwörung oder?«
»Ich glaube es auch«, flüsterte Vincent amüsiert.
»Das haben wir gehört«, mischte sich Martin ein. Er und Raphael beobachteten ihre Partner und schüttelten belustigt und synchron mit dem Kopf.
»Kommt, wir gehen ins Wohnzimmer. Schatz, holst du bitte die Hörnchen und die Sahne? Ich hole den Kaffee.« Ein leichter Unterton schwebte mit, der keine Widerrede zuließ.
Kurze Zeit später saßen alle vier am gedeckten Tisch und tranken Kaffee.
Vier Augen starrten Raphael und Martin an, die genüsslich das Waffelgebäck mit Sahne verschlangen.
»Ich glaub mir wird gleich schlecht«, gurgelte Darius und wandte den Blick ab.
»Soll ich uns ’n Ouzo holen? Dann geht's gleich besser. Funktioniert übrigens genauso gut wie ein Konterbier.« Vincent zwinkerte Darius verschwörerisch zu und erntete ein leichtes Nicken von dem Blonden.
Einige Ouzos später schien die Welt wieder in Ordnung zu sein, zumindest für Darius und Vincent. Ihre beiden Partner sagten zwar nichts dazu, jedoch waren sie mit der Situation auch nicht wirklich glücklich.
»Ich sach’ es dir ... das sollten wir öfter machen«, sagte Vincent und füllte die nächsten Gläser ein.
»Definitiv, mein Freund. Wer braucht schon Kaffee und Süßes, wenn wir Flüssignahrung haben.«
»Hey! Die habe ich gemacht. Die sind wirklich gut«, pries er an, »nur heute nicht«, sagte er fast tonlos. Der Brünette betrachtete die Hörnchen eher missmutig, aber es hing auch ein klein wenig Wehmut in seinem Blick. Schließlich hatte er dafür stundenlang in der Küche gestanden.
»Nicht böse gemeint«, sagte Darius an Vincent gerichtet, »ein einziges von den Dingern und ich kann für nichts garantieren.«
Während Martin und Raphael weiterhin genüsslich ins neue Jahr schlemmten, stiegen bei Darius und Vincent die Promille. Die beiden kicherten wie kleine Kinder und leerten die Flasche.
»So, wir gehen jetzt nach Hause. Danke für alles«, bedankte sich Martin und stand auf. Raphael tat es ihm gleich. Nur die beiden Rotnasen lagen sich noch in den Armen und bekamen von der Aufbruchsstimmung nichts mit.
»Darius, kommst du bitte?«
»Wie? Hier und jetzt?«, lachte der Blonde und gab Vincent einen Handschlag.
»Darius!« Martin errötete, die Peinlichkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Was denn?«
»Du bist unmöglich. Jetzt steh’ auf, wir gehen nach Hause.«
»Die Pflicht ruft. Und glaub’ mir, die zwei haben sich verbündet. Lass’ uns ’n Neuanfang machen, nur du und ich. Nie wieder Nikolaus und Osterhase, und meine Mutter stell’ ich dir auch nicht vor. Das verspreche ich hoch und heilig«, lachte Darius und hörte seinen Freund hinter sich erneut zischen.
»Du bist mir einer«, lallte Vincent, »aber ich komme nochmal darauf zurück, wenn es wieder soweit ist.« Erneut hielt Vincent seine Hand hoch und verabschiedete Darius mit einem Handschlag.
»Fängst du jetzt auch schon an?«, stöhnte Raphael und stemmte die Hände in die Hüfte.
»Sorry, Schatz«, entschuldigte sich der Brünette belustigt und flezte sich ins Sofa.
»Also, nochmal vielen Dank für eure Mühe. Das nächste Mal ist dann aber bei uns. Darius? Bist du soweit?«
»Ja–ha!«
»Okay, macht's gut ihr zwei. Bis die Tage, nh?« Raphael begleitete die zwei Nachbarn noch zur Tür.
»Alles klar. Macht's gut.«
»Ciao!«
Wenige Minuten später lagen Martin und Darius im Bett.
»Na, wie schaut's aus? Darf ich jetzt auch mein Hörnchen haben?« Darius streckte sich lasziv auf dem Bett und wackelte anzüglich mit den Augenbrauen.
»Dir scheint der Ouzo ja geholfen zu haben, was? Komm’ schon her du Spritnase.«
So ähnlich verlief es auch bei den Nachbarn von gegenüber, nur, dass Vincent direkt ins Bett fiel und keine Minute später bereits die dicksten Bäume absägte, so laut wie er schnarchte.