»Mama?«
Der sechsjährige Leon zupfte aufgeregt am Pullover seiner Mutter, die am Fenster stand.
Sie blickte gedankenverloren nach draußen in die Dunkelheit und schien ihren Sohn nicht wahrzunehmen. Immer wieder drehte sie das Perlenarmband an ihrem Handgelenk. Es war ein Erbstück ihrer verstorbenen Mutter. Ihr Ableben lag auf den Tag genau ein Jahr zurück.
»Mama?«
Erneut versuchte sich der Junge bemerkbar zu machen und hielt inne, als er die Tränen im Gesicht der Mutter bemerkte. Erst ihr Schluchzen bewegte Leon dazu, ihre Nähe aufzusuchen und sie fest zu umarmen.
Ellens Blick klärte sich, als sie im Spiegelbild der Glasscheibe ihren Sohn erkannte und dessen Hände um ihren Körper spürte.
»Was ist denn, mein Spatz?«
Sie bemühte sich, ihre Verstimmung zu verbergen.
»Ich hab grade einen Engel gesehen«, sagte Leon aufgeregt. »Ich hab mit Lego gespielt und dann hab ich was gehört und bin zum Fenster hin. Ich dachte erst, das ist Papa, aber dann stand da ein weißer Engel bei uns im Garten. Und der hat geleuchtet und dann hab ich gewunken … der Engel dann auch.«
Ein Schmunzeln legte sich auf Ellens Lippen, das jedoch genauso schnell verblasste, wie es gekommen war. Sie strich ihrem Sohn durchs Haar und fragte: »Wirklich? Und was hat der Engel dann gemacht?«
»Der hat irgendwie gezaubert.«
»Gezaubert?«
»Ja. Da waren auf einmal ganz viele Lichter und die wurden immer mehr. Das waren bestimmt Millionen, oder so. Und dann hab ich ihre Stimme gehört.«
»Ihre Stimme? Dann war es eine Frau?«
»Nein, Mama, ein Engel … hab ich doch gesagt. Du hast mir nicht zugehört«, beschwerte sich Leon.
»Entschuldige, Spatz«, sagte Ellen und hockte sich vor ihr Kind, dessen Nase sie mit ihrem Zeigefinger anstupste.
»Und was hat der Engel nun gesagt?«
»Ich soll genau hinsehen, und das hab ich auch gemacht. Und dann war da plötzlich ein Weihnachtsbaum mit einem riiieesigen Stern oben drauf. Der war voll hell, so … wie Papas Taschenlampe.«
»Das ist wirklich hell«, pflichtete Ellen ihm bei. Wo nahm der Junge nur die Fantasie her, fragte sie sich.
»Sag ich doch!«
»Was ist dann passiert, Mausebär?«
»Der Engel hat mir eine Geschichte erzählt. Die war voll schön.«
»Und worum ging es?« Ellen legte eine Hand an die Wange des Jungen und strich mit dem Daumen sanft über die Haut.
»Da war so ein Mädchen, das Weihnachten ganz allein war. Sie hieß Lieselotte oder so ähnlich. Die saß alleine im Kinderheim, in dem es keinen Baum und Geschenke gab. Sie war ganz traurig und dann …«
»Kam ein Engel vorbei, der ihr versprach, sie würde bald den prächtigsten Weihnachtsbaum sehen und ein riesiges Geschenk bekommen«, murmelte Ellen die Geschichte weiter. »Am nächsten Tag wurde Lieselotte endlich adoptiert und verbrachte ein paar Tage später ihr erstes richtiges Weihnachten bei einer neuen Familie, die das kleine Mädchen herzlich bei sich Aufnahmen und ihm Liebe schenkten. Dort stand ein riesiger Baum, genauso wie der Engel es ihr versprochen hatte. Geschmückt mit den schönsten Kugeln, die Lieselotte jemals gesehen hatte. Aber am schönsten war der goldene Stern, der auf der Spitze thronte und funkelte. An diesem Abend war Lieselotte das glücklichste Mädchen auf der ganzen Welt und erhielt von ihren neuen Eltern ein Perlenarmband, das sie seit jeher nicht mehr ablegte.«
»Du kennst die Geschichte?«, wollte Leon wissen.
»Ja, Spatz. Meine Mama, also deine Oma, hat sie mir früher erzählt, wenn ich ins Bett gegangen bin. Aber immer nur am Tag vor Heiliabend.«
Ellen kannte das Märchen um Lieselotte, dass ihre Mutter selbst erfunden hatte. Wie konnte jemand anderes davon wissen? Ellen schluckte.
»Voll schön. Aber der Engel hat noch was gesagt.«
»So? Was denn?«
»Er sagte, er schenkt mir zwei Schneeengel. Und dann waren auf einmal im Schnee zwei Schneeengel. So richtig große, so wie du … und Papa. Und dann hat der Engel gesagt, dass er uns alle liebt und uns etwas schenken möchte.«
»Tatsächlich? Das ist aber lieb vom Engel. Hat er auch gesagt, was es ist?«
»Nein. Aber er sagte, wir werden uns sehr darüber freuen.«
»Ach Spatz«, sagte Ellen und wollte gerade fortfahren, als das Telefon läutete. Es war die Klinik. Man hatte endlich ein Spenderherz für ihren Mann gefunden.