Aufgeregt kam der kleine Lukas auf Socken aus seinem Zimmer gerannt. »Papaaaa, können wir in den Park gehen?«
Christoph sah von seinem Laptop auf und schob die Lesebrille tiefer auf seine Nase. »Und was machen wir dann da?«
»Na, einen Drachen steigen lassen. David hat mir heute im Kindergarten gesagt, er wäre mit seiner großen Schwester auch da und hat mich gefragt, ob ich auch komme. Außerdem hat er von seinen Eltern einen riesigen Drachen zum Geburtstag bekommen, und den will ich unbedingt sehen. Bekomme ich auch so einen? Bitte …«, plapperte Lukas ohne Punkt und Komma und schob die Unterlippe vor.
Lachend lehnte sich Christoph im Stuhl zurück, den Jungen musternd. »Aber du hast doch einen Drachen.«
»Der ist was für kleine Kinder. Ich bin doch schon groß. Und große Menschen brauchen einen großen Drachen. Oma sagt auch immer, wie groß ich schon bin.«
»So? Sagt sie das?«, erkundigte sich Christoph. »Dann muss sie ja recht haben, hm?« Er legte die Sehhilfe auf den Tisch und rieb sich die Nase.
»Außerdem will ich mich nicht vor David blamieren. Nachher hält der mich noch für ein verspieltes Kind oder so«, trug Lukas ernst vor.
»Ach, Spatz, du bist erst fünf. Aber weißt du was?« Christoph erhob sich und ging anschließend vor dem Jungen in die Hocke. »Eine Pause tut mir mal ganz gut und frische Luft …«
»Weckt die Lebensgeister«, unterbrach das Kind seinen Vater. »Oma sagt das auch immer. Also gehen wir?«
Nickend erhob sich Christoph und erntete daraufhin einen Jubelschrei seines Sohnes. »Zieh dir bitte schon mal die blaue Jacke und die braunen Stiefel an. Ich geh eben auf den Dachboden. Und sag deinem Vater bitte, er möchte sich auch anziehen.« Mit diesen Worten lief er zur Treppe und hörte hinter sich seinen Sohn über die Fliesen rennen. »Lauf langsam, Lukas, sonst fällst du noch.« Die Stufen nach oben gehend, bildete sich ein Schmunzeln auf seinen Lippen. Gleich würde Lukas große Augen machen, wenn er ihn mit seinem Heiligtum aus Kindertagen überraschte. Das Objekt der Begierde fand er schnell in einem der verstaubten Kartons, auf dessen Deckel sein eigener Name in der ihm vertrauten Handschrift seiner Mutter stand. Mit einer großen Tüte trat er zurück in den Flur, wo er seinen ratlos dreinblickenden Mann und seinen fertig angezogenen Jungen vorfand.
»Wir gehen in den Park, hat man mir eben gesagt?« Stefan lehnte mit vor der Brust verschränkten Arme am gemauerten Rundbogen zum Wohnzimmer.
»Ja, zieh dich bitte an. Dir tut eine Pause auch ganz gut. Außerdem möchte unser großer Junge zu David. Seine Eltern haben ihm wohl einen riesigen Drachen geschenkt.« Während Christoph erklärte, schnappte er sich seine Jacke und zog sie über.
»Ja? Das klingt ja richtig spannend. Dann nichts wie hin.«
»Und was ist mit einem neuen Drachen?«, wollte Lukas wissen und seine eben noch fröhliche Miene wich einer traurigen.
»Wart’s ab, mein Spatz. Papa hat was ganz besonderes für dich.«
-
»Da vorne ist David«, sagte Lukas und hob die Hand. »DAAAAVIIIIIID!« Er rannte über die mit Laub bedeckte Wiese zu einem Jungen in einer gelbfarbenen Jacke.
Beide Väter lachten auf.
»Der wird gleich Augen machen, jede Wette«, ließ Christoph seinen Mann wissen.
»Ja? Wegen dem, was in der Tüte ist?«
»Na Logo. Das ist der Drache aller Drachen. Die haben mich früher alle darum beneidet. Ein Meter Spannweite, zweihundert Meter Schnur und … er sieht auch aus, wie ein echter Drache. Hier, guck mal …« Knisternd zog Christoph das Flugobjekt aus der Tasche und legte es auf den Boden.
»Ich hatte nur einen kleinen, weil meine Mutter Angst hatte, ich würde damit in die Luft gerissen werden.«
»So einen Blödsinn. Deine Mutter ist auch eine echte Helikoptermutter, wie sie im Buche steht«, erwiderte Christoph. »Halt das hier mal eben fest.«
Stefan Tat, wie ihm befohlen und kniete sich neben seinem Mann. »Sie ist nur fürsorglich. Kein Grund sie so zu betiteln.«
»Jaja …« Christoph winkte ab und steckte sogleich mehrere Stäbe ineinander, die das Gerüst des Flugkörpers bildeten.
»Was heißt hier: Jaja? Du bist schon genau wie deine Mutter. „Vorsicht“ ist bei euch in der Familie ein Fremdwort, was?«
»Kannst du mich sehen?«
Verdutzt hob Stefan seinen Kopf und musterte seinen Mann. »Natürlich kann ich das.«
»Siehste! Mir ist nie was passiert. Und jetzt komm, lass uns unserem kleinen Tiger eine Freude bereiten, die er hoffentlich nie wieder vergisst.«
Beide erhoben sich. Christoph stopfte die Tüte in seine Jackentasche und schnappte sich daraufhin das große Flugobjekt. Zusammen liefen sie auf ihren Jungen zu, der mit in den Nacken gelegten Kopf begeistert in den Himmel starrte.
»Lukas? Sollen wir denen mal zeigen, was ein richtiger Drache ist?«
Sofort wandte sich das Kind vom Papierflieger seines Freundes ab und riss sogleich die Augen weit auf, als es das schwarze mit feuerroten Bändern versehene Flugobjekt seines Vaters erblickte.
»Wow! Ist der für mich? Der ist ja voll toll …«
»Komm her, dann zeige ich dir, wie man ihn fliegt«, erwiderte Christoph. Ihm kam eine schöne Kindheitserinnerung in den Sinn. Sein Vater hatte ihn im Herbst mit diesem Drachen überrascht. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie viel Spaß sie an diesem Tag hatten. Und genau dieses Erlebnis würde er jetzt seinem Sohn schenken.