Durch seine eigenen Schreie geweckt, wurde Daniel aus dem Schlaf gerissen. Sich den Schweiß aus dem Gesicht wischend, setzte sich der junge Mann auf und blickte sich hektisch in der Dunkelheit des Schlafzimmers um. Warum nur träumte er wieder davon, was vor Jahren geschah? Das lag lange zurück und er hatte sich doch geschworen, diese Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu verbannen. Es war alles so real. Als hätte er das tatsächlich noch einmal erlebt und IHM gegenübergestanden.
»Ist alles gut?«, erkundigte sich Mike mit verschlafenen Stimme, der durch Daniels Schreie geweckt wurde. Mike war Daniels fester Freund und sie beide wohnten seit einigen Jahren zusammen in einem Haus.
»Ja, hab’ nur schlecht geträumt«, erwiderte der Dunkelblonde. Es war ihm unangenehm, seinen Freund geweckt zu haben, zumal es halb vier Uhr morgens war – laut den roten Leuchtziffern auf dem Nachttisch – und Mike gegen sechs Uhr aufstehen musste.
»Was hast du denn geträumt? Du hast geschrien.« Mike schaltete die kleine Lampe auf dem Nachttisch an und setzte sich auf. Daniel sah völlig fertig aus, als hätte er im Traum etwas ganz schlimmes erlebt, dachte er.
»Ach, ich hatte Besuch aus der Vergangenheit. Ich war im Traum wieder Schüler und ... sie waren alle da. Es war so echt ...«, erzählte er leise und rieb sich mit beiden Händen durch das Gesicht, dann schnaufte er erschöpft.
Daniel hatte Mike schon vor langer Zeit erzählt, was damals auf seiner Schule geschah. Die ständigen Mobbingattacken seiner damaligen Mitschüler hinterließen tiefe Narben. Manche davon wollten nie verheilen und begleiteten ihn durch den Alltag.
»Hey«, sagte Mike sanft, »sie sind nicht hier. Komm’ her.« Mit diesen Worten rutschte er etwas mehr in die Mitte vom Bett und legte die Arme um seinen Freund. Fest drückte er ihn an sich und küsste ihn auf den Hals. »Sie werden nie wieder auftauchen, okay? Nie wieder«, murmelte er gedämpft.
Mike kannte die Geschichten und fragte sich immer wieder, wie Menschen dazu in der Lage sein konnten, andere zu verletzen, nur weil sie anders waren. Erst letzte Woche hatte er einen Bericht über eine Frau gelesen, die in ihrem eigenen Land ermordet wurde, weil sie zum einen homosexuell war und zum anderen sich für die Rechte von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten einsetzte. Und das im einundzwanzigsten Jahrhundert, hatte er noch gedacht, als er den Bericht zuende gelesen hatte.
»Danke«, flüsterte Daniel an Mikes Hals, »danke, dass du bei mir bist und mich liebst.« Und das meinte Daniel auch genau so und drückte seinen Freund stärker an sich.
»Wir unterstützen uns doch immer gegenseitig, schon vergessen? Na komm’, lass’ uns wieder schlafen«, wisperte er leise und hörte eine gebrummte Zustimmung von Daniel. Mike löste die Umarmung und drehte sich zum Nachttisch, löschte das Licht und wandte sich seinem Freund wieder zu, den er zu sich zog und leise »Gute Nacht« ins Ohr hauchte.