Als Erik den Schotterweg betrat, hielt er inne und betrachtete die Blumen in seinen Händen, bevor er sich an seinen Freund wandte. »Meinst du, die würden ihr auch wirklich gefallen?«
»Natürlich«, erwiderte Ben verhalten und wagte einen kurzen Blick zu den weißen Orchideen. Sie waren genauso schön, wie auf dem Hochzeitsfoto, das im Flur neben dem Spiegel hing. Es zeigte seine Mutter und seinen Vater lächelnd vor einem Oldtimer stehend. Ein Herz bestehend aus demselben Blattgefüge und cremefarbenen Schleifen zierte die Motorhaube. Seine Mutter hatte ihm einmal erzählt, wie schön sie diesen Tag empfunden habe. Auch, dass sein Vater sie mit dem Wagen überrascht hätte. Mit diesem waren sie später in die Flitterwochen gefahren. Nach Venedig. Das war vor über dreißig Jahren gewesen, aber sie hatte immer mal wieder davon erzählt, lächelnd.
Er sah zu Erik auf und legte seinen Arm um dessen Taille. »Sie wird sie lieben.«
Erik brummte zustimmend und suchte den Blick des anderen. »Sollen wir weiter?«
»Ja, sie wartet auf uns.«
Ben schmiegte sich enger an seinen Freund und machte den ersten Schritt. Jeder weitere ließ den Schotter unter seinen Füßen knirschen, dabei kam es ihm so vor, als würde sich dieses Geräusch in seinen Kopf einbrennen.
Als er wenig später den weichen Wiesengrund betrat, hob er seinen Blick und sah sich um. Tief Luft holend, konzentrierte er sich auf einen prächtig gewachsenen Rosenstrauch, der zwischen zwei kunstvoll geformten Buchsbäumen einen deutlichen Kontrast mit seinem leuchtenden Rot erzielte.
»Wir müssen hier lang, Schatz«, hörte er die Stimme seines Freundes und löste den Blick von den Rosen.
»Ja, ich weiß.«
Nach wenigen weiteren Schritten, vorbei an gelben Lilien und einem Meer aus farbenfrohen Stiefmütterchen, erreichte sie ihr Ziel.
»Hallo Martina, alles Gute zum Geburtstag«, sagte Erik. »Schau, wir haben dir deine Lieblingsblumen mitgebracht.« Er präsentierte die weiße Blütenpracht und wollte sie sogleich aus seinen Händen geben, doch Ben stoppte ihn in seiner Bewegung und flüsterte: »Warte.«
»Hey, Mama. Alles liebe zum Geburtstag.« Er nahm Erik die blühenden Pflanzen aus der Hand und roch an ihnen. »Sie sind zwar noch klein, aber der Florist meinte, sie würden noch viele Blüten bekommen.» Er hörte ihre vertraute Stimme, die sich bei ihm bedankte, und ihr unverkennbares Lachen, dass sie ihm schenkte. »Ich hoffe nur, dass er recht damit hat.« Eine einzelne Träne entfloh seinem linken Auge, doch lächelte er dabei. »Weißt du noch, als ich dir damals erzählt habe, wie man sie noch nennt?« Natürlich wusste sie das. Wieder vernahm er ihr Gekicher, genau wie damals, als er ihr von seinem Fund berichtet hatte. Schon von Kind an hatte er von ihrer Liebe zu den Orchideen gewusst und war spontan an einem Tag ins Internet gegangen, um etwas über diese Gattung zu erfahren.
»Wie heißen sie denn?«, erkundigte sich Erik und sah interessiert zu Ben auf.
»Knabenkrautgewächs.« Beinahe hätte der Klos in Bens Hals dafür gesorgt, dass er es nicht hätte aussprechen können.
»Klingt aber komisch. Und warum nennt sich das so?«
»Weil die Knollenwurzeln wie zwei Hoden aussehen. Im Griechischen bedeutet Orchis Hoden. Witzig, oder? Mama hat sich damals darüber kaputtgelacht und gemeint, ich würde sie veräppeln wollen. Dann habe ich ihr die Bilder im Netz gezeigt und daraufhin hat sie eine ihrer Pflanzen aus dem Topf geholt, um nachzusehen. Und ich sage dir: Wir haben noch nie so lange gelacht, wie an diesem Tag. Selbst als Papa abends von der Arbeit nach Hause kam, haben wir noch gegeiert.«
Eriks Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und seine Gesichtszüge wurden weich. »Klingt wirklich witzig. Zeigst du es mir nachher?«
»Klar, mache ich.« Mit diesen Worten setzte er die Blumenschale auf die in der Erde eingelassene Steinplatte, direkt vor dem Grabmal. »Ich hab dich lieb.« Er sah auf das im Monument eingefasste Bild seiner Mutter und hauchte diesem einen Luftkuss zu. Unvorhergesehen kam eine Windböe und wehte eine einzelne Rose zu seinen Füßen.