Fortsetzung zu "Weißer Nebel".
Nachdem das langgezogene Stöhnen verklungen war, stand Darius auf und nahm sich eine Karte von dem Stapel auf dem Tisch. Als er den Begriff las, musste er schmunzeln. Das würde sein Teamkollege Vincent hoffentlich schnell erraten. »Stellt bitte jemand den Timer? Dann leg’ ich los.«
»Klar.« Raphael griff nach der kleinen Anzeige und startete die Zeit. »Läuft. Dann zeig’ uns mal, was du kannst.«
Darius stellte sich vor die anderen und grinste.
»Ein Honigkuchenpferd?« Raphael beömmelte sich über seinen eigenen Einwurf.
»Ich hab’ noch gar nicht angefangen, du Trottel.«
»Ich geb’ dir gleich "Trottel".« Raphael verschränkte seine Arme vor der Brust und warf Darius giftige Blicke zu.
»Könnt ihr jetzt aufhören zu streiten? Schatz, jetzt fange bitte an. Du hast noch eine Minute und vierzig Sekunden.« Martin hielt, für Darius sichtbar, die Digitalanzeige in die Höhe.
»Ja, ja.« Er schloss sich den Mund mit einem imaginären Schlüssel zu und warf diesen über seine Schulter nach hinten.
»Ein Geheimnis bewahren?«
»Was abschließen?«
»Ich hab immer noch nicht angefangen«, rief Darius erneut in die Runde und verdrehte die Augen. Wie zurückgeblieben waren die Bitteschön, fragte er sich. Allerdings war das dämliche Spiel auch nicht gerade für anspruchsvolle Spieler gedacht, fand er.
Jetzt hob er die rechte Hand, legte sie waagerecht an seinen Hals und ließ sie mit pulsierenden Bewegungen hin und her gleiten.
»Ab mit dem Kopf!«, rief Raphael zwischen seinem Lachen heraus. »Herzkönigin?«
»Lass’ mal den Sprit weg, Schatz.« Vincent schüttelte kaum merklich mit dem Kopf und streckte seinem Mann die Zunge heraus.
»Wieso? Die Herzkönigin hat das auch immer so gemacht. Ach, das ist so ein toller Film, den müsst ihr unbedingt...«
»Jetzt nicht, Schatz. Konzentriere dich bitte auf das Spiel.«
»Menno ...« Raphael lehnte sich zurück und zog die Unterlippe vor.
»Ruhig sein?«
»Stille?«
»Innehalten, nichts sagen dürfen?«
Darius kam aus dem Kopfschütteln überhaupt nicht heraus. Nun machte er seine Hand zur Faust, streckte den Zeigefinger von sich weg und den Daumen nach oben. Immer wieder zuckte er mit der Hand etwas nach vorne.
»Jemanden erschießen?«
»Pistole?«
»Cowboy?«
»Abahatchi, Winnetouch?«
»Wasserpistole?«
Das durfte nicht wahr sein, dachte Darius und überlegte sich etwas anderes. Er raufte sich seine blonden Haare und presste beide Lippen aufeinander, gleichzeitig schaute er nach oben.
»Überlegen?«
»Nachdenken?«
»Das ist dasselbe, Raffi.«
»Martin, "Nachdenken" und 'Überlegen" ist ein Unterschied. Wenn ich nachdenke, dann denke ich über etwas nach. Aber wenn ich überlege, dann überlege ich mir etwas.«
»Vergiss es einfach.«
»Schatz, trink dir noch ein Sektchen, hm?« Er legte seine rechte Hand auf den Oberschenkel seines Mannes und streichelte diesen.
»Gute Idee.« Raphael griff zu seinem Sektglas und nippte, während er über dem Glasrand blickend Darius weiter zusah.
Darius stellte sich leicht nach vorne gebückt hin, hielt beide Hände abgeknickt nach unten vor seine Brust und ließ seine oberen Schneidezähne auf der Unterlippe ruhen. Derweil verzog er den Mund und spannte immer wieder seine Oberlippenmuskulatur an, die auch seine Nase bewegte.
»Hase?«
»Osterhase?«
»Schatz, Hase und Osterhase ist so ziemlich das Gleiche.«
»Stimmt doch gar nicht«, empörte Raphael sich und schnappte trotzig nach dem Sektglas, dessen Inhalt er in einem Zug leerte. Sein Mann, der neben ihm saß, winkte daraufhin nur belustigt ab.
»Irgendwas mit Ostern?« Martin versuchte alles mögliche aus den dargebotenen Figuren zu erkennen.
Darius nickte.
»Osterei?«
»Osterhase?«
»Hatten wir schon, Raffi.«
So langsam verlor Darius die Lust am Spiel. So begriffstutzig konnte doch niemand sein. Jetzt bekreuzigte er sich.
»Irgendwas mit Religion?«
Darius bejahte. Noch dreißig Sekunden auf der Uhr.
»Köpfen, Erschießen, Ostern und jetzt Glaube ...« Vincent kräuselte die Stirn und dachte angestrengt nach.
Jetzt kniete sich Darius auf alle Viere und lief auf dem cremfarbenen Teppich im Kreis.
»Elefant?«
»Oster- ... ähm ... Osterlamm?«
Darius riss die Augen auf und nickte Martin vage zu. Komm’ schon Vincent, wollte er laut ausrufen, bremste sich aber im letzten Moment. Er hielt den Daumen hoch und verneinte, zeigte dann zwei Finger und nickte.
»Ostern ist falsch. Lamm ist richtig?« Martin lehnte sich mit den Ellenbogen auf seine Knie und überlegte weiter. »Lamm ...«
»Unschuldslamm!«
»Ich hab's ! Opferlamm«, rief Vincent in die Runde und sah Darius erleichtert nicken. »Echt jetzt?«
»Ja, echt jetzt. Alter, das war doch jetzt nicht schwer. Was seid ihr denn alle für Anfänger? Aber hey! Wir haben den Punkt. Tschakka!« Grinsend stand Darius vom Boden auf und lief mit hochgehaltener Hand zu Vincent, der in sie einschlug.
»Opferlamm? Da braucht man aber auch echt viel Fantasie, oder?«
»Hör’ auf zu jammern, Raffi. Nächstes Mal klappt es ganz bestimmt bei euch.«
»Nächstes Mal klappt es ganz bestimmt bei euch«, äffte Raphael Darius’ Worte nach und goss neuen Sekt in sein Glas ein.
»Kann da jemand nicht verlieren?«
»Darius, wenn er eins nicht kann, dann ist es verlieren.«
»Stimmt doch gar nicht. Martin, wir müssen jetzt aber Gas geben.«
»Klar! Die nächsten Runden gehören uns«, sagte Martin verschwörerisch, nahm sein Bierglas vom Tisch und hielt es Raphael zum Prosten hin.
»Auf unseren Sieg!«
»Auf unseren Sieg!« Kichernd stieß Raphael an.