Gedankenlos stand ich am Fenster und schaute hinaus. Es wurde bereits dunkel und die Laternen, die im starken Wind hin- und herschwankten, sprangen an und fluteten die Straße meiner Wohnsiedlung in warmweißes Licht. Auf der Fahrbahn bildeten sich tanzende Schatten, deren Ursprung die kahlen Äste der alten Birke waren, die im Schein der Lichtquelle stand und gefährlich gegen die Hauswand des gegenüberliegenden Haus peitschte. Stören würde es dort niemanden mehr, geschweige denn überhaupt hören. Die Hausbesitzerin war vor zwei Wochen in das Krankenhaus gekommen und kurz darauf an einem Herzversagen gestorben. Sie hatte seit über sieben Jahren alleine dort gewohnt, da ihr Mann bei einem Feuerwehreinsatz sein Leben verloren hatte. Oft hatte ich mit Erika zusammen gesessen. Im warmen Sommer waren wir immer auf meiner Terrasse gewesen, da die angrenzenden Gärten auf meiner Straßenseite nicht durch Zäune oder meterhohen Hecken versteckt oder abgegrenzt waren. In der kühleren Zeit hatten wir bei ihr im Wintergarten gesessen, den ihr Mann in den Siebzigern errichtet hatte. Rolf war ein seltsamer Kautz gewesen, der immer sein eigenes Ding gemacht hatte.
Ein paar Wochen später, nachdem ihr Mann gestorben war, hatte ich Erika auf der Straße getroffen und sie hatte mir erzählt, dass ihr das Haus plötzlich so leer vorgekommen war. Noch am gleichen Nachmittag hatten wir bei ihr im Wintergarten bei einer Tasse Tee gesessen und sie hatte mir einige Geschichten aus ihrer gemeinsamen Ehe erzählt, worüber wir manches Mal gelacht hatten.
Ab diesem Tag hatten wir uns regelmäßig getroffen.
»Und? Ist die Welt da draußen schon weggeweht?«, riss mich die Stimme meines Mannes aus meinen Gedanken. Ich schüttelte meinen Kopf und sah in der Fensterscheibe sein Spiegelbild, das auf mich zukam. Warme Arme legten sich um meine Taille und zogen mich kurz darauf an den warmen Körper meines Mannes, der mich federleicht in meinen Nacken küsste. Eine Gänsehaut überkam mich. Sein Eau der Toilette stieg mir in die Nase, das ich ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Eine leichte Lavendelnote mit einem Hauch von Seife und Vanille.
»Gehts dir gut?«, fragte Sascha in mein Ohr geflüstert und legte seinen Kopf auf meiner Schulter ab. Er kannte Erika ebenfalls gut, aber nicht so gut wie ich sie kannte. Er wusste, dass sie mir sehr wichtig war und hatte sich, nachdem ich ihm von Erikas Tod berichtete, frei genommen, um für mich da zu sein.
»Ich weiß es nicht. Ich bin nicht traurig oder so, momentan fühle ich gar nichts. Ich bin wütend und irgendwie ... es gehen immer die guten Leute. Obwohl ich mir schon lange wünsche, dass mein Alter endlich ins Gras beißt.«
»Man wünscht niemanden den Tod«, rügte mich Sascha.
»Ach, nein?«, empörte ich mich, »Hat er doch auch zu mir gesagt.«
Gut, er hatte es etwas anders ausgedrückt, aber die Botschaft war die Gleiche gewesen.
Als ich mich damals geoutet und Sascha meinen Eltern vorgestellt hatte, war er regelrecht ausgerastet und hatte uns alles mögliche an den Kopf geworfen. Kurz darauf hatte er uns rausgeworfen und noch gemeint, dass ich nicht mehr sein Sohn wäre und verrecken sollte, auch, dass ich eine Schande für die Familie wäre, rief er uns noch hinterher, als wir auf dem Weg zu unserem Auto waren.
Erika war da ganz anders. Sie hatte selbst einen Sohn, der mit einem anderen Mann zusammenlebte. Nur wohnte der weit weg und war selten zu Besuch gekommen. Somit war ich ihr zweiter Sohn – und genauso behandelte sie mich auch. Da auch meine eigene Mutter sich nicht mehr meldete, war Erika in diese Rolle geschlüpft. Und jetzt war sie nicht mehr da.
»Ja, ich weiß, Damian. Aber jetzt denk’ nicht mehr drüber nach. Das ist lange her. Und außerdem: Ich habe das Essen fertig.« Er küsste mein Ohr und löste die Umarmung. »Gibt auch Nachtisch«, schnurrte er an meinem Hals und entfernte sich.
Ich drehte mich um und folgte ihm in die Küche. Vielleicht würde mir das Essen helfen, auf andere Gedanken zu kommen.
Vielleicht brauchte ich auch einfach etwas Zeit, bis ich wieder etwas fühlte. Es brodelte in mir, aber es kam nicht heraus. Aber ich war mir sicher, dass die Stunde noch kommen würde, in der meine Welt erneut würde zusammenbrechen, genau wie damals, als ich verstoßen wurde. Sascha würde mich auffangen, halten und trösten. So, wie er es immer getan hatte, wenn etwas schlimmes geschehen war.