Fröhliche Tanzmusik schallte durch das kleine, alte Dorf, auf dessen Marktplatz sich alle Bewohner um ein loderndes Feuer versammelt hatten, um dem traditionellen Mondfest beizuwohnen. Stimmungsvoll sangen einige von ihnen althergebrachte Lieder, während andere beschwingt miteinander tanzten oder an hölzernen Tafeln sitzend Wein tranken und dem Geschehen von dort aus zusahen.
Es war kurz vor Mitternacht und der für gewöhnlich weiße Mond hatte sich bereits blutrot verfärbt. Nur noch wenige Minuten, dann würde sich das Rot in ein leuchtendes Violett verwandeln. Alle fünfzig Jahre fand dieses Phänomen statt und nach altem Brauch würde gleich der neue Mondscheinprinz gewählt werden.
Jeweils fünf junge Männer und Frauen, gekleidet in weißen Gewändern, stiegen soeben auf das vor der Feuerstelle ruhende Steinpodium und stellten sich nebeneinander in einer Reihe auf. Um ihren Hals trugen sie ein braunes Lederband, an dem ein silberfarbenes Amulett befestigt war, in dessen Mitte eingefasst ein runder, weißer Stein ruhte. Nur zwei der sogenannten Mondsteine würden sich in wenigen Minuten verfärben. Violett stand für den neuen Mondscheinprinzen und Rot für dessen Herzensmensch, mit jenem der Prinz vermählt werden würde. Die Zeremonie sollte – so stand es in den alten Schriftrollen geschrieben – nach sieben Tagen vollzogen werden und erst nach dieser bekäme der Prinz die Krone aufgesetzt und wäre damit der neue amtierende König von Lunamalia. Das Geschlecht seines Partners spielte dabei keine entscheidende Rolle, denn der Erdtrabant hatte sich bisher nie geirrt, wenn es darum ging, zwei Menschen aneinander zu binden, die füreinander bestimmt waren.
Ihre Aufgabe bestünde aus dem Beschützen des Dorfes und dem Wohlergehen aller Bürger. Eine ehrenvolle als auch anspruchsvolle Verpflichtung, die nicht jedem zugesprochen wurde.
Ursprünglich beruhte alles auf einer alten Sage, die auf den ersten König Lunatius und damit auch der Gründer von Lunamalia zurückzuführen war. Laut den überlieferten Erzählungen hieß es, er sei eines Nachts durch eine leuchtende Erscheinung aus seinem Schlaf geweckt und von dieser zu einer Lichtung geführt worden, an welcher er neun Menschen um einen fluoreszierenden Felsbrocken stehend vorgefunden hatte. Dort habe ihn die geisterhafte Gestalt wortlos an einen Platz zwischen den anderen geführt und aus dem Gestein zehn kleine Stücke herausgelöst, die sie jedem in die Hand gelegt haben soll. Daraufhin soll sich die Erscheinung zu einer Kugel verwandelt haben und in den nächtlichen Himmel aufgestiegen sein, wo sie bis heute in jeder Nacht zu sehen war und über das Dorf zu wachen schien. Lunatius habe dann auf dem Felsen eine Inschrift vorgefunden, die ein detailliertes Ritual beschrieben haben soll, das er mit den anderen abgehalten hätte. Nachdem Lunatius auserwählt und später, wie gefordert, ein Dorf mit seiner ebenso auserwählten Gemahlin Vivalia errichtet haben soll, habe er um den Felsen herum ein Podest errichten lassen.
Und auf ebendiesem stand unter anderem gerade Samidu. Ein junger Mann mit hellblonden Haaren und von kräftiger Statur, die er durch die schweren Holzarbeiten bei seinem Vater erreicht hatte. Er blickte abwartend gen Himmel und seine Aufregung stand im schier im Gesicht geschrieben, auch seine unruhige Körperhaltung zeigte seine momentane Verfassung mehr als deutlich. Vor drei Wochen war ihm vom amtierenden König Amatus schriftlich mitgeteilt worden, dass er zu den zehn Anwärtern gehören würde. Seine Freude darüber hatte sich allerdings sehr in Grenzen gehalten. Wie sollte er auch mit seinen gerade einmal neunzehn Jahren ein Dorf führen können, geschweige denn, sich an jemanden binden?
»Es geht los!« König Amatus’ durchringende Stimme brachte ihm volle Aufmerksamkeit ein. Die Musik verstummte augenblicklich und das Stimmengewirr stellte sich ein, während der König mit wehendem Umhang die steinerne Treppe des Podiums emporstieg und sich anschließend vor die Anwärter stellte. Zum Volk blickend hob er seine rechte Hand, dadurch verebbte auch das letzte Gemurmel in der hintersten Ecke, und wandte sich gemächlich an die zehn jungen Kandidaten. Seine zweite Hand gen Himmel hebend rief er: »Weiser Mond von Lunamalia, so zeige uns deine Wahl und wir werden sie gebührend annehmen!«
Alle Bürger blickten abwechselnd zum Erdtrabanten, dessen Farbe sich von innen nach außen ins Violette färbte, und zu den Auserwählten, die wie gebannt ihre Augen nicht von dem spektakulären Farbwandel abwenden konnten. Die Spannung war in diesem Moment nahezu greifbar.
Dann geschah es. Zunehmend erhellten sich die Mondsteine der Auserkorenen in einem weißen Licht und erreichten dabei eine Intensität, die jede Flamme in den Schatten stellte.
Samidu spürte die von seinem Amulett ausgehende Wärme auf seiner Brust und sein Körper spannte sich augenblicklich an. Sein Blick schweifte von den Bürgern zu seinen Kontrahenten hinüber.
Wer von diesen würde es werden?
Plötzlich begann seine Brust zu kribbeln und zaghaft riskierte er einen Blick auf seinen Mondstein, der sich in diesem Moment in ein helles Violett verwandelte. Sein Puls beschleunigte sich und die Unterlippe zwischen seine Zähne ziehend sah er auf, dabei bemerkte er, wie König Amatus ihn mit einem sanften Lächeln wissend ansah und der sich ihm mit gemächlichen Schritten näherte.
»Samidu, mein Junge, herzlichen Glückwunsch, du bist unser neuer Prinz!« Die Worte des alten Königs lösten bei den Bewohnern eine Hochstimmung aus. Immerzu hörte Samidu seinen eigenen Namen aus unterschiedlichen Richtungen. Sollte er sich nun freuen oder nicht?
Als Amatus bei ihm angekommen war, legte der ihm beide Hände auf die Schulter und sah ihm fest in die Augen. »Nun, mein Junge, ich freue mich, dass du es geworden bist. Du warst der Erste, der mir bei meiner Vorauswahl in den Sinn kam. Und jetzt werden wir dein Gegenstück ausfindig machen.« Der König klopfte ihm väterlich auf die Schulter und schenkte ihm ein warmes Lächeln, bevor er ein paar Schritte nach hinten trat und seinen Blick über die anderen Kandidaten schweifen ließ.
In Samidu flammte eine innere Unruhe auf und nervös blickte er zu seinen Kontrahenten hinüber. Noch waren die Steine der anderen weiß, aber das würde sich in den nächsten Sekunden verändern.
Die Spannung steigerte sich für Samidu ins Unermessliche und er ballte seine Hände zu Fäusten, während er tief Luft holend sich zu entspannen versuchte.
Er sah, wie Amatus die rechte Hand hob. Augenblicklich kehrte wieder Ruhe ein und nach einem kurzen Blick in die Menge sah es für Samidu so aus, als hielten die anwesenden Bürger die Luft an. Dass er ebenfalls aufgehört hatte zu atmen, bemerkte er erst, als das Klopfen seines Herzen stetig kräftiger und schneller wurde, bis er gierig seine Lungen mit frischem Sauerstoff versorgte und sich auf einen Punkt konzentrierte, der seitlich am Feuer vorbei zu einem See führte, auf dessen Oberfläche sich der Erdtrabant spiegelte. Nur das Knacken und Zischen der Holzscheite im Feuer und das Blätterrauschen der umstehenden Bäume wurden durch die Luft getragen. Gespannt, aber auch unsicher, wagte Samidu einen Blick zu den anderen und dann sah er den blutrot leuchtenden Stein, der auf der Brust eines dunkelhaarigen Mannes ruhte, dessen Namen Samidu nicht wusste, da er ihn nur vom Sehen her kannte. Somit stand nun fest, mit wem er sein zukünftiges Leben verbringen würde. Glaubte er den alten Geschichten, die sich die Leute erzählten, oder den seit der Gründung von Lunamalia an geführten Schriftrollen, in denen mit der königlichen Tinte alle Paare und deren hinreichend dokumentiertes Leben zu Lesen waren, dann bestünde ihm ein glückliches Leben bevor, sofern die Niederschriften der Wahrheit entsprachen.
»Remis!«, rief Amatus und löste damit eine erneute Euphorie bei dem Volk aus, während der sich dem Jungen näherte und kurz darauf beide Hände auf dessen Schulter legte. Er sagte etwas zu Remis, was Samidu nicht verstehen konnte, aber die aufhellende Mimik der beiden zeigte sehr deutlich, dass Amatus dem Jungen ganz ähnliche Worte zugesprochen haben musste, die er vor wenigen Minuten selbst von dem König zu hören bekommen hatte.
»Samidu, mein Junge, komme bitte zu mir.«
Er kam der Bitte des Königs nach und als er neben diesem stehenblieb, musterte er aus nächster Nähe seinen zukünftigen Lebenspartner, der ihn ebenso interessiert ansah. Als er in Remis Augen blickte, war er einen Moment lang darin gefangen, bis er die Stimme des Königs vernahm, die ihn aus seinem Starren befreite.
»Ihr habt gleich noch alle Zeit der Welt, euch näher kennenzulernen. Jetzt aber …«, Amatus machte eine Pause und wandte sich zu den Dorfbewohnern um, nahm jeweils eine Hand der beiden Jungen in die Seinigen und hob diese gen Himmel, »werde ich euch erstmal meinem Volk präsentieren.«
Samidu nickte und straffte seine Schultern. Den Blick hebend hätte er am liebsten wieder weggesehen. Zwischenzeitlich hatten sich die Bewohner unmittelbar vor dem Podium versammelt und jeder von ihnen musterte Samidu und Remis ganz unverhohlen, als versuchten sie damit ihre unersättliche Neugierde zu Stillen.
»Meine lieben Mitbürger und Mitbürgerinnen von Lunamalia«, begann Amatus mit kräftiger Stimme. »Der Mond hat heute Nacht seine Entscheidung getroffen und ich bin mehr als nur zufrieden mit der Wahl. Ich freue mich, die beiden euch voller Stolz offiziell vorstellen zu dürfen. Erweist ihnen die Ehre und begrüßt eure zukünftigen Könige von Lunamalia. Lasset uns Prinz Samidu und seinen Lebenspartner Remis gebührend feiern.«
Als erneute Jubelschreie ausbrachen, setzte auch die Musik wieder ein und sorgte damit für eine ausgelassene Atmosphäre.
Einer der Bewohner träufelte eine Flüssigkeit aus einer Glasphiole ins Feuer, das daraufhin aufzischend die Farbe veränderte. Die äußeren Flammen färbten sich violett, während der Kern sich in ein sattes Rot verwandelte.
Amatus, der zwischen den beiden Prinzen stand, trat einen kleinen Schritt zurück und führte über seinem Kopf die Hände der beiden Jungen zusammen. »Ein Hoch auf Samidu und Remis. Möget ihr ein langes und glückliches Leben haben!« Seine Stimme klang wie die eines echten Königs; kraftvoll und herrschend, dennoch schwang deutlich eine Freude in seinem Timbre mit.
In Samidu wich die Sorge, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Stattdessen entfachte in ihm eine nie dagewesene Euphorie, die seine negativen Gedanken in Luft auflösen ließ. Die Verpflichtung, die ihm der Mond auferlegt hatte, würde er jetzt mit Freude antreten. Und wenn es seine Bestimmung war, das Amt gemeinsam mit Remis zu bestreiten, dann sollte es so sein.
»Wisst ihr eigentlich, wie lange ich auf diesen Tag gewartet habe?« Amatus Stimme wurde sanft, als er beide Männer nacheinander ansah. Er zog sie an sich heran und legte ihnen einen Arm um die Schulter. »Als ich damals auserwählt wurde, habe ich mir geschworen, eine ebenso gute Wahl der potenziellen Anwärter zu treffen, wie es einst mein König tat. Seit über einem Jahr habe ich euch alle reiflich unter die Lupe genommen und ich möchte euch auf den Weg geben, dass ihr es später genauso sorgfältig macht, wie ich und unsere Vorfahren. Alles andere besprechen wir, wenn ihr morgen zu mir kommt. Und jetzt lasst uns mit Wein anstoßen, das muss gefeiert werden.«
Samidu hatte aufmerksam zugehört und schenkte Amatus ein Lächeln. »Ich danke Euch, mein König. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Euch nicht zu enttäuschen.«
Auch Remis wandte sich Amatus zu. »Mein König ich schließe mich den Worten Samidus an und möchte mich bei Euch bedanken, dass ihr mich in Eure Wahl mit einbezogen habt. Ich fühle mich sehr geehrt und werde alles Erdenkliche tun, um das Volk zu schützen.« Seine Worte waren ehrlich und aufrichtig, genau wie sein Blick, mit dem er den König ansah.
»Gut, gut. Und jetzt geht mir aus den Augen, sonst trinkt meine liebreizende Gattin noch den ganzen Wein ohne mich.« Amatus verstrubbelte lachend die Haare der beiden Jungen und begab sich daraufhin zur Treppe, die er mit erhobenem Hauptes hinabstieg. Die anderen Kontrahenten gratulierten der Reihe nach den neuen Prinzen und verließen das Podium auf demselben Weg, wie der König, und mischten sich unter die Menschen.
Unfähig sich zu bewegen, da die ganze Zeremonie an seinen Nerven gezerrt hatte, sah Samidu zu Remis. »Und was machen wir jetzt?«
»Wir lernen uns jetzt näher kennen und ich bin schon ganz gespannt darauf, mehr von dir zu erfahren. Lass uns zu den anderen an die Tafel setzen und bei einem Kelch Wein über uns reden.« Zielstrebig griff er Samidus Hand und verwob ihre Finger ineinander. »Ich bitte um Verzeihung, aber meine Hände sind ziemlich schwitzig. Die Zeremonie war für mich sehr aufregend. Wie ist es bei dir?«
Erleichtert atmete Samidu auf. »Mir geht es nicht anders. Aber sag mir, bist du zufrieden mit der Entscheidung?« Er war sich nicht sicher, ob Remis es war. Vielleicht hätte der lieber eine Frau an seiner Seite gehabt, oder gar einen anderen Mann.
Er fühlte die warme Hand des anderen und es kam ihm so vor, als wäre sie das passende Gegenstück zu der Seinigen.
»Na ja, also eigentlich …«, sagte Remis, dabei wog er seinen Kopf hin und her, und machte eine Pause. Schweigsam taxierte er Samidu und schien etwas in dessen Gesicht zu suchen. »Jetzt guck nicht so. Mir beliebt es zu Scherzen, daran wirst du dich gewöhnen müssen. Aber würde dir das hier als Antwort reichen?« Er beugte sich zu Samidu herüber und hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Die plötzliche Nähe des anderen und dessen Lippen auf seiner Haut machten Samidu unfähig zu handeln. Die Stelle begann zu kribbeln und schien sich von dort aus auf seinen Körper auszubreiten. Zaghaft nickte er und senkte den Blick, da er sich nicht zu verhalten wusste.
»Ich möchte ehrlich zu dir sein«, sagte Remis aufrichtig und schien sich seine nächsten Worte genau zu überlegen.
»Als ich davon erfahren habe, dass du dabei bist, habe ich von diesem Moment an gehofft, dass der Mond uns zusammenführt.« Ein rötlicher Schimmer legte sich auf seine Wangen.
Überrascht von der Ehrlichkeit seines Gegenübers sah Samidu auf und suchte Remis Blick.
»Wirklich?«
»Ja, wirklich.« Jetzt war es Remis, der den Blickkontakt unterbrach. Ein schüchternes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. »Komm, wir können uns auch noch unten unterhalten. Ich habe das Gefühl, dass die uns alle wie Freiwild anstarren.« Er ließ seinen Blick in die Menschenmenge schweifen. »Nein, sie starren uns an. Sieh nur …«
Als Samidu der Aufforderung folgte, wurde ihm unwohl. Die Leute tuschelten offensichtlich über ihn und Remis, aber in ihren Gesichtern glaubte er Freude zu erkennen; manche nickten ihm zu oder schenkten ihm gar ein warmes Lächeln, das er zu erwidern versuchte.
»Wird Zeit, hier zu verschwinden.«
»Mein Reden«, sagte Remis und deutete mit einem Kopfnicken zur Treppe.
Beide setzten sich in Bewegung und Samidu hielt auf ihrem gemeinsamen Weg die Hand des anderen weiterhin fest in der Seinigen. Es war für ihn eine ungewohnte Vorstellung, von nun an jemanden an seiner Seite zu wissen, aber in diesem Moment glaubte er fest daran, dass der Mond die richtige Entscheidung getroffen hatte und flüsterte mit dem Blick nach oben gerichtet ein »Danke« in den Himmel.
***
In der Audiodatei hört ihr die Mondscheinsonate von Ludwig van Beethoven (Opus 27. Nr. 2 in cis-moll), von mir eingespielt. Es war nicht der Name, der mich zum Einspielen animierte, sondern die weichen, getragenen Klänge, die – für mein Empfinden – in dieser Geschichte vorzüglich zu Geltung kommen und das mystische Ereignis damit untermalen.