Am Nachmittag steuerte Raphael das kleine Café, das in der Seitenstraße der Altstadt lag, an und ließ sich an einem der Tische im Halbschatten nieder. Vor zwei Jahren war es einmal der Treffpunkt mit seiner besten Freundin Ella gewesen. Wie oft hatten sie zu zweit hier schon gesessen? Raphael wusste es nicht mehr. Es mussten unzählige Male gewesen sein. Mittlerweile wohnte Ella zwei Autostunden entfernt in einer anderen Stadt, da sie dort Kunst studierte. Das war schon damals ihr größter Traum gewesen.
Als sich Raphael niederließ und einen Blick in die Karte warf, kamen ihm ein paar der häufig geführten Gespräche mit Ella in den Sinn. Gespräche über Jungs. Darüber schmunzelnd schüttelte Raphael unmerklich mit dem Kopf und strich verträumt mit dem Finger über die Karte, die sich seit jeher nicht verändert zu haben schien und nur noch weitere Erinnerungen weckten, als er die absurdesten Namen der Kaffeespezialitäten wiedererkannte, die schon damals für reichliche Lacher gesorgt hatten.
»Hallo, haben sie schon gewählt?«, fragte eine Kellnerin Raphael und holte ihn damit schlagartig in die Realität zurück.
»Ähm … nein. Ich warte noch auf eine Freundin. Danke.« Raphael schenkte der jungen Dame mit der weißen Schürze ein Lächeln und sah beiläufig auf seine Uhr am Handgelenk. Er selbst war fünf Minuten zu früh und würde sicherlich noch eine Viertelstunde auf seine Freundin warten müssen, da Ella es noch nie so genau mit den vereinbarten Zeiten genommen hatte.
»Okay, dann komme ich später wieder.« Den Stift zurück in die Tasche steckend, wandte sich die zierliche Servicekraft um und lief zu der offenstehenden gläsernen Tür des Cafés.
Einen Moment sah Raphael der Frau hinterher und beobachtete das schwarze lange Haar, das zu einem Zopf zusammengebunden war und sich bei jedem Schritt der Kellnerin sanft hin und her wiegte. Die Männer standen sicherlich Schlange bei der italienischen Schönheit und Raphael seufzte leise auf. Wenn sich doch bloß nur ein Mann für ihn interessieren würde, dann wäre er schon zufrieden gewesen. Noch in diesen Gedanken versunken blickte Raphael zu dem gegenüberliegenden Tisch und merkte nicht, dass der Gast, der an diesem saß, ihn verstohlen musterte. Ein unsicheres Lächeln, das Raphael aber nicht wahrnahm und auch nicht wahrnehmen konnte, da der andere es mit einem Buch verdeckte, zierte die Lippen des blonden Mannes. Ein leises Seufzen entfloh dem Unbekannten.
Erschrocken sah Raphael auf sein Telefon, das eine eingehende Nachricht meldete und durch die Vibration auf dem Tisch sich zu bewegen begann. Die Meldung, dass Ella sich verspäten würde, ließ Raphael nun amüsiert mit dem Kopf schütteln. Es war so typisch für seine Freundin, aber böse war er ihr deswegen nicht. Das Mobilgerät zurück auf den Ursprungsort legend, ließ Raphael seinen Blick über die anderen Tische schweifen und entdeckte den anderen Mann – diesmal bewusst.
Viel konnte Raphael nicht erkennen, aber die faszinierenden Iriden, die von dem warmen Schein der Sonne in einem dem Horizont gleichen himmelblau leuchteten, ließen Raphael nicht los. Augenblicklich wurde sein Mund trocken und sein Adamsapfel hüpfte nervös auf und ab. Träumte der unbekannte Mann vor sich hin und fixierte ihn damit nur unbewusst? Je länger der Blickkontakt zwischen ihnen standhielt, desto höher hoben sich Raphaels Mundwinkel zu einem Lächeln. Um Raphael herum schien alles zu verschwinden. Weder das Café selbst noch einer der zahlreichen Tische fanden seine Aufmerksamkeit. Nur der Blick des Anderen und sonst nichts.
Der Blonde ließ langsam das Buch in seinen Händen auf den Tisch sinken und entblößte damit sein Gesicht. Ein tonloses »Hi« verließen seine Lippen und augenblicklich legte sich eine zarte Röte auf seine Wangen.
Von dieser Reaktion geweckt und zurück in das Hier und Jetzt befördert, bemerkte Raphael erst jetzt die südländische Bedienung neben sich, die mit einer Hand vor seinem Gesicht hin und her wedelte und sah sie an.
»Was? Oh, Entschuldigung. Ich war in Gedanken«, stotterte Raphael ertappt und fuhr sich nervös durch die Haare, die er damit in ein heilloses Durcheinander brachte.
»Na, bei dem wäre ich auch in Gedanken gewesen«, sagte dieselbe Kellnerin von zuvor mit einem Augenzwinkern und deutete wissend mit dem Kopf zu dem attraktiven Mann, dessen Antlitz erneut hinter der Lektüre verborgen lag.
Raphael errötete augenblicklich und streifte sich nervös die feuchten Hände am schwarzen Stoff seiner Jeans ab.
»Ein hübscher Mann, aber leider bin ich schon anderweitig versprochen«, plapperte die Bedienung gespielt bedauernd und wandte sich zurück an Raphael.
»Also, darf ich Ihnen jetzt etwas bringen?«, setzte die Schwarzhaarige erneut an und tippelte mit dem Kugelschreiber auf dem kleinen Notizblock in ihrer Hand.
»Ein kaltes Wasser mit Zitrone und Eis, bitte.« Eigentlich hatte sich Raphael auf einen dieser klebrig süßen Latte Macchiato mit Karamell und viel Milchschaum gefreut, aber er brauchte jetzt etwas Anderes, das ihn schnell abkühlte und zur Besinnung kommen ließ. Fast schon enttäuschend blickte er auf die Karte mit den vielen Leckereien vor sich und beschloss einfach später sein geliebtes aus Milchschaum und Espresso bestehendes Getränk zu bestellen.
»Na, für sie mach’ ich auch noch eines unserer Schirmchen rein«, bemerkte die Servicekraft keck, als sie die bedauernde Mimik ihres Gastes bemerkte. Raphaels Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln. Die Bestellung auf den Block schreibend, beugte sich die Südländerin zu Raphael herunter. »Und mal unter uns: der Gedanke von eben sieht sie wieder an und scheint herzukommen. Viel Glück.« Mit diesen geflüsterten Worten und einem warmen Lächeln in dem gebräunten Gesicht, machte die schwarzhaarige Schönheit kehrt und ließ einen verwirrt dreinblickenden Raphael zurück.
Nur zögerlich schaute er auf und beobachtete den blonden Typ dabei, wie der das Buch in einen Rucksack packte und Raphael versank erneut in Gedanken. Die strohblonden Haare des Mannes bildeten einen deutlichen Kontrast zu der von der Sonne geküssten Haut. Wie Karamell, fiel Raphael spontan dazu ein und fragte sich, ob die Haut des Anderen genauso süß auf seinen Lippen schmecken würde, wie die Süßigkeit selbst. Erschrocken von diesen Gedanken zuckte Raphael zusammen und schüttelte mehrmals den Kopf. Wie konnte er nur an so etwas denken?
Außerdem würde jeden Augenblick Ella kommen und die würde ihm sofort ansehen, was Sache war. Als Raphael zurück zu dem Tisch sehen wollte, wurde ihm die Sicht versperrt. Schluckend sah Raphael auf und blickte genau in diese blauen Augen.
»Hi. Ähm … ich heiße Mark.«