Eine weitere Fortsetzung u.a. zu „Probelauf“
https://belletristica.com/de/books/19214-sixty-minutes-die-challenge/chapter/117141-60-probelauf-4-5
Die tief stehende Sonne, die zwischen den Bäumen hindurchschien und die Blätter in bunte Farben tauchte, traf auf deine Haut. Die angenehme Wärme und der erdige Waldduft entlockten dir ein zufriedenes Seufzen, als du dich auf einen Baumstumpf setztest, dessen Lage dir einen fantastischen Blick auf die vor dir liegende Lichtung bot. Neben dir raschelte es im Gebüsch und du erkanntest das braun gescheckte Fell eines Kaninchens, das schnuppernd zwischen Kiefernnadeln, Moos und Blättern etwas zu suchen schien. Wie aus dem Nichts lief ein Eichhörnchen unmittelbar vor deinen Füßen her und du erschrackst einen kurzen Moment. Es blieb stehen und schaute dir direkt ins Gesicht. Die Art, wie es dich mit aufgestellten Ohren interessiert musterte, ließ dich unweigerlich Lächeln. Du spürtest deine Gesichtsmuskeln leicht zittern, weil du sie seit deiner Rückkehr von Gran Canaria zum ersten Mal anspanntest. Zwangsläufig tauchte vor deinem geeistigen Auge das Bild von dem Menschen auf, der deine Heiterkeit auf einen Schlag ausgelöscht hatte. Marcel. Der Mann, dessen Versprechen, dich vom Flughafen abzuholen, wie eine Seifenblase zerplatzt war. Mit dem Ärmel wischtest du dir schnell eine Träne von der Wange und holtest tief Luft. Keine weitere würdest du ihm nachweinen, das war dein Plan. Plötzlich ertönte ein lautes Pfeifen, dessen Echo im Dickicht träge verebbte. Im nächsten Moment hörtest du schneller näherkommende Schritte. Die Eichkatze rannte augenblicklich los und verschwand kurz darauf auf einem Baum. Ein Bellen.
Deine Augen weiteten sich, als du den schwarzen Labrador direkt auf dich zukommen sahst. Deine Angst gegenüber Hunden nahm dich schlagartig gefangen. Jeder Muskel spannte sich wie eine Sehne eines Bogens an und hinderte dich daran aufzuspringen. Dann passierte alles ganz schnell. Die Schnauze berührte dich an deiner Hand. Panik überkam dich. Mit zusammengekniffenen Augen verhieltest du dich ruhig. Nur dein Herzrasen verriet deine momentane Verfassung.
»Gismo! Hier hin!«, rief eine Männerstimme, deren Tonfall keine Widerrede duldete. Der Unbekannte pfiff erneut und tatsächlich ließ der Vierbeiner sofort von dir ab. »Hier hin und sitz!«
Deine zur Faust verkrampften Finger entspannten sich und bildeten wieder eine Hand. Zaghaft öffnetest du die Augen und fixiertest die Lichtung. Tiefe Atemzüge nehmend, trat nur langsam eine Beruhigung ein.
»Hey, alles okay mit dir? Tut mir leid, dass Gismo dich so überfallen hat. Aber ich kann dich beruhigen, denn der schmust dich höchstens zu Tode, als dass er irgendwem etwas tut.«
Du konntest seinen Worten kaum folgen und nicktest stumm.
»Gehts dir wirklich gut? Du siehst ziemlich blass aus.«
Raschelnd näherten sich dir Schritte und du richtetest automatisch deine Augen auf das Laub vor dir. Dir war es unangenehm, wenn dich jemand während einer Panikattacke vorfand. Graue mit Schlamm und Blätterresten bedeckte Turnschuhe traten in dein Blickfeld, die Beine lagen frei und zeigten viele farbige Flecken. Dann berührte der Unbekannte dich an der Schulter.
»Soll ich einen Arzt rufen?«
Mit einem Kopfschütteln verneintest du.
»Bist du dir sicher?«
»Ja«, sagtest du. »Es geht schon wieder.« Zunehmend drangen allmählich die natürlichen Tierlaute der Umgebung in deine Ohren und das Tinnitusartige Geräusch verebbte nur gemächlich.
»Okay. Du magst keine Hunde, oder?«
»Nein.«
»Tut mir wirklich leid. Ich hab Gismo erst seit einer Woche und muss ihm noch viel beibringen, aber irgendwie bekomme ich das noch nicht richtig hin. Eine Freundin meinte, ein Hund wäre genau das Richtige für mich nach dem …« Er stockte. »Na ja, jedenfalls bin ich echt froh ihn zu haben. So komme ich viel raus aus der Bude und sehe etwas anderes, als nur die eigenen vier Wände. Wir haben heute Kastanien gesammelt, aber Gismo scheint mehr an Kaninchen und anderen Tieren interessiert zu sein. Hier, schau mal … daraus will ich morgen mit meiner Nichte Männchen basteln.«
Sogleich legte der Mann dir ein kleines Netz mit Kastanien in deine Hand. Große und kleine, darunter auch wenige herzförmige, nach denen du als Kind immer Ausschau gehalten hattest, erkanntest du auf Anhieb. »Sie sind schön«, sagtest du. »Dann wünsche ich dir viel Spaß beim Basteln.« Du strichst über die Fundstücke und nahmst eines der besonderen zwischen deine Finger.
»Danke. Ich hoffe, ich finde noch ein paar tolle Exemplare. Sarah soll verdammt wählerisch sein, hab ich mir sagen lassen. Leider kann ich mich nicht mehr …« Er unterbrach sich, als dir aus Versehen eine Kastanie herunterfiel und direkt vor seine Füße rollte. Der Unbekannte ging sofort in die Hocke und hob sie auf. Als er sie zurück ins Netz legte, dir sein Gesicht zeigte und mit seinen saphirblauen Augen in die deine sah, entglitten dir sämtliche Gesichtszüge.
»Ich heiße übrigens Marcel und du?«