Es ist ein Genuss, ihnen dabei zuzusehen, wie sie unter Zeitdruck von A nach B eilen. Sie alle. Niemand nimmt sich Zeit, einen Moment lang innezuhalten und das, was die Welt uns bietet, zu betrachten. Auch ich zählte einst dazu, doch fand ich einen Weg, mich davon zu lösen. Ein lukratives Geschäft, das mir deutlich mehr Freizeit schenkt. Lediglich die Nachtschichten waren zu Beginn gewöhnungsbedürftig, aber daran habe ich mich schon lange gewöhnt. In der Dunkelheit zu Arbeiten, erfordert ein gutes Auge, Gehör und natürlich eine ruhige Hand. Präzision ist mir sehr wichtig, denn erst, wenn jedes Detail stimmt, ist mein Meisterwerk perfekt und ich zufrieden. Noch habt ihr es nicht gefunden, aber ich sehe zu, wenn es so weit ist.
Es herrschte reges Treiben im Stadtzentrum, denn heute war der wöchentliche Markttag. Verkäufer richteten an ihren Ständen die Waren zurecht, um sie bestmöglich zu präsentieren. Doch kaum jemand scherte sich darum. Die Leute hasteten vorbei, vermutlich um rechtzeitig zu wichtigen Terminen zu kommen. Dabei bot der sonnige Tag mit sommerlichen Temperaturen geradewegs zu einem Bummel ein. Vielleicht auch eine kurze Auszeit im netten Café direkt am Stadtbrunnen, doch die Stühle blieben frei. Lediglich zwei ältere Damen saßen am Fenster des benachbarten Bäckers und frühstückten. Sie unterhielten sich währenddessen, lachten und hielten sich gegenseitig ihr Smartphone entgegen. Vermutlich tauschten sie Bilder ihrer Enkel und Familie aus.
Plötzlich schrie auf der gegenüberliegenden Seite eine Frau entsetzt auf. Sie ruderte mit ihren Armen, dabei fiel ihre Tasche zu Boden.
»Ruft die Polizei! Hier ist ein Toter im Schaufenster!«
Schnell versammelten sich weitere Passanten um das Geschehen, die sich erschrocken die Hände vor den Mund schlugen. Andere telefonierten und blickten sich mehrfach um, doch sahen sie wiederkehrend zum Opfer. Zu sehen war ein Mann im dunkelbraunen Anzug. Seine Pose entsprach der anderen Schaufensterpuppen. Der rechte Arm ruhte auf der Hüfte, der andere hing gerade herunter. Ein brauner Hut saß auf seinem Kopf, unter dem wenige graumelierte Haarsträhnen hervorlugten. Die Augen starrten trüb geradeaus.
»Das ist der Bürgermeister«, rief eine andere Stimme.
Rhein-Zeitung
Dienstag, 3. November 2020
Am vergangenen Montagmorgen fanden Passanten den leblosen Körper von Bürgermeisters C. Heitkamp vor. Die Ermittlungen der örtlichen Polizei laufen bereits auf Hochtouren. Weiterhin ist bekannt, dass ein Brief beim Leichnam gefunden wurde. Laut Pressemeldung handelt es sich ausnahmslos um die Handschrift von C. Heitmann. Im Text geht hervor, er habe seine eigene Familie ermordet und sie im hauseigenen Keller begraben. Auch heißt es, er bekenne sich schuldig und bitte durch sein Ableben um Vergebung. Die Polizei ging diesem Hinweis nach und fand noch am selben Abend die auf brutaler Weise zugerichteten Körper von Frau A. Heitmann (43) und beiden Kindern (12 und 14) vor. Die Polizei geht stark davon aus, dass die Tat eine Kurzschlussreaktion seitens C. Heitmann gewesen sei. Eine enge Freundin der Familie sagte aus, dass A. Heitmann geplant habe, sich von ihrem Mann zu trennen und mit beiden Kindern zurück in ihre Heimatstadt Köln zu ziehen.
Doch wer hat Bürgermeister Heitkamp auf dem Gewissen?
Der Pressesprecher der örtlichen Polizei teilte uns mit, es sei kein Selbstmord gewesen und es gebe keine Hinweise auf den Täter, aber man arbeite Tag und Nacht daran, den Täter schnellstmöglich zu fassen.
Wir, von der Redaktion, halten Sie auf dem Laufendem.
Redakteur, S. Brambrink.
In einem Hotelzimmer am Marktplatz legte ein schwarz gekleideter Mann die Zeitung aus der Hand. Er blickte darauffolgend durchs Fenster direkt auf den gestrigen Tatort. Weiträumig war dieser durch ein rot-weiß gestreiftes Band gegen unbefugtes Betreten abgesperrt. Dann glitt sein Blick über die Dächer der Stadt, bevor er sich davon abwandte und dem grauhaarigen Mann im Sessel seine Aufmerksamkeit schenkte. »Wer ist der Nächste?«