Am Fenster stehend schaute ich runter auf die schneebedeckte Straße. Einige Fußstapfen waren zu erkennen und endeten an den Eingängen der Häuser. Nur an meinem waren keine zu erkennen – hätte mich auch gewundert. Zu lange ist es schon her, dass mich jemand über die Feiertage besuchte, anrief oder geschweige denn eine Nachricht schrieb. Früher war alles anders. Früher waren wir zu dritt, bis zu dem Moment, als es passierte. Als du damals sagtest, dass wir zu deinen Eltern fahren würden und sie uns bereits erwarteten, dachte ich nicht an ein Unheil.
Sie haben lange gewartet, vergebens. Unser Sohn meinte noch zuvor, dass es das tollste Weihnachten werden würde und er sich auf den Weihnachtszauber freute. Und das tat er wirklich. Er liebte die vielen Lichter und
die lustige Theateraufführung in der Stadt. Ich erinnere mich noch an das eine Jahr, als David sich eine Geige gewünscht hatte und unbedingt berühmt werden wollte. Weißt du David, du wärst sicherlich der beste Violinist auf der ganzen Welt geworden. Wenn ich mir so dein Bild auf dem Kamin ansehe und deine braunen Kulleraugen betrachte, wäre dir sicherlich jeder verfallen. Es war eine verdammt nochmal dumme Idee gewesen, bei dem Schneesturm zu fahren. Und hätte ich gewusst, was passieren würde, wäre ich nie gefahren. Alle sagten, ich hätte keine Schuld gehabt, aber ich sah das anders. So auch meine Schwiegereltern.
Ich hauchte die Glasscheibe an und malte mit meinem Finger mehrere Kreise, so wie es David früher immer tat. Schatz, du hattest ihn dafür immer gerügt, während ich nur amüsiert zugesehen habe. Ich wünschte, er würde jetzt an meiner Stelle hier stehen und die Kreise malen.
Julian, von gegenüber, rannte gerade mit seiner Schwester Marie über den Gehweg und bewarf sie mit kleinen Schneebällen. Und jedes Mal musste ich an David denken. Er und Julian hätten Zwillinge sein können, so ähnlich waren sie sich. Er winkte mir zu, was ich mit einem Lächeln erwiderte.
Diese verdammten Tränen, obwohl ich ihnen längst abgeschworen hatte. Ich musste hier raus, was anderes sehen oder machen. In der Küche lagen noch immer die drei Sets auf dem Küchentisch – so wie damals. Ich sollte das vielleicht ändern und neu anfangen. Aber irgendwie konnte ich sie nicht in die Schublade packen. Es hatte mir immer das Gefühl gegeben, dass ihr noch hier wart und jeden Augenblick durch dir Tür kommen würdet. Euer Lachen konnte ich auch noch immer hören, fast so, als stündet ihr im Raum.
Erschrocken fuhr ich zusammen, als das Telefon klingelte. Das war das erste Mal seit vielen Jahren, dass es das tat. Zitternd nahm ich ab.
»Hallo?«
»Hallo, Markus. Hier ist Sabrina von gegenüber«, hörte ich meine Nachbarin sagen.
Was wollte sie?
»Hi, Sabrina. Was gibt's?«
»Hör’ mal, Julian erzählte gerade, dass er dich am Fenster gesehen hat. Er fragte mich, ob du nicht zu uns rüber kommen möchtest. Ich hab’ einen großen Braten gemacht und könnte wahrscheinlich die halbe Straße damit versorgen«, lachte sie, »also, wenn du Lust hast, du bist herzlich eingeladen.«
Was sagt man dazu? Sabrina und ihr Mann Marvin waren wirklich sehr nett und wussten von dem damaligen Unfall.
Was mache ich jetzt? Ja oder Nein? Warum nur wollten sie mich ausgerechnet dabei haben?
»Markus? Bist du noch dran?«
»Ja, natürlich.«
Ja oder Nein? Eigentlich war ich es gewohnt alleine zu sein. Aber sollte ich nicht langsam neu anfangen und was anderes sehen wollen?
»Okay, gib mir fünf Minuten, ja?«
»Prima. Dann decke ich für dich mit ein. Bis gleich.«
Oh Gott. Das erste mal seit acht Jahren nicht alleine. Es ist ein wirklich komisches Gefühl.
Als ich das Haus verließ und gerade die Einfahrt hinunter ging, standen Julian und Marie an der Laterne, direkt an meinem Tor und bewarfen mich laut lachend mit Schneebällen.
»Na, wartet ihr kleinen Gauner«, rief ich ihnen lachend nach und rannte zum Tor, ihnen hinterher bis zum Haus. Laut kichernd liefen sie in die Küche, vorbei am Vater.
»Hi Marvin. Hast du die beiden auf mich angesetzt?«
Zuzutrauen wäre es ihm.
»Was? Wieso? Was haben sie gemacht?«
»Mich hinterhältig abgeschossen«, empörte ich mich gespielt und zeigte ihm die Schneereste an meiner Jacke.
»Ach, lass’ ihnen den Spaß. Wer weiß, wann wir das nächste Mal wieder Schnee bekommen. Aber gut getroffen haben sie, dass muss ich ihnen lassen. Ganz meine Kids. Komm’ her ... fröhliche Weihnachten.«
Lächelnd zog er mich in eine feste Umarmung.
Wie sehr ich das vermisst habe. Es fühlt sich gut an, dass jemand mich drückt.
»Fröhliche Weihnachten, Marvin.« Ich klopfte ihm auf die Schulter, wandte mich ab und hängte die Jacke an die Garderobe.
»Hey Markus, fröhliche Weihnachten. Setz’ dich schon mal ins Esszimmer. Schatz, kommst du mir helfen?« Sabrina stand lächelnd mit einem Handtuch in der Küchentür und sah etwas gestresst aus. Sie zwinkerte ihrem Mann zu.
»Weißt ja, wo du hin musst, ne?« Marvin klopfte mir auf die Schulter und ging Richtung Küche.
»Klar. Wenn ich euch bei etwas helfen kann, sag’ nur.«
»Du kannst den Wein schon mal öffnen. Ich glaub’, Mark könnte Hilfe gebrauchen.« Den letzten Satz flüsterte er mir noch zu, während er nun in die Küche lief.
Mark? Nie gehört.
»Wer ist das?«
»Sabrinas Bruder!«, rief Marvin aus der Küche.
Und tatsächlich stand ein Mann im Esszimmer, die Weinflasche in der Hand und versuchte diese zu öffnen.
»Hallo, ich bin Markus von gegenüber. Frohe Weihnachten.«
Ich hielt ihm meine Hand zur Begrüßung hin. Er schaute auf.
Wow. Was ein hübscher Mann. Diese schwarzen verwuschelten Haare, diese stechend grünen Augen.
»Hi Markus, ich bin Mark. Dir auch frohe Weihnachten.«
Diese sanfte Stimme.
Statt mir die Hand zu schütteln, drückte er mir die Weinflasche in meine ausgestreckte Hand.
»Kannst du das bitte machen? Ich bekomme sie nicht auf«, lachte er und drückte mir den Korkenzieher dazu in die andere Hand. Unsere Hände berührten sich dabei.
Diese Wärme. Oh Gott.
»Ähm ... Ja klar.«
Hatte ich eben gestottert? Peinlich.
Jetzt geh’ schon auf, du blödes Ding. Was soll der denn von mir denken?
»Der sitzt echt fest, was?« Mit gekräuselten Lippen sah er mich jetzt auch noch belustigt an.
»Ich hab's gleich.«
Gott sei gedankt. Geschafft.
»Tadaa.« Triumphierend hielt ich den Korken in die Höhe.
»Danke. Sonst hatte das immer mein Exfreund gemacht. Zuhause habe ich jetzt so einen mit einem Hebel, kennst du die?«
Was? Exfreund? Er spielt für mein Team? Haben die hier die Heizung auf dreißig Grad eingestellt? Mir ist warm.
»Äh ... Ja, ich ... äh ... habe auch so einen. Automatik heißen die.«
Oh Mann, ich sollte wieder gehen. Ich mache mich hier gerade lächerlich.
»Die beste Erfindung, oder? Ich schwöre dir, ich würde ohne diese Teile verdursten.«
Dieses warme Lächeln. Hat er mir eben zugezwinkert?
»Aber gut zu wissen, dass du auch so einen hast. Nächstes Mal klingel’ ich direkt bei dir an, wenn es wieder soweit ist. Die beiden lachen mich nämlich jedes Mal aus. Du wärst dann mein Retter.« Er zeigte zur Küche und zwinkerte erneut.
Flirtet er gerade mit mir? Echt jetzt?
»Ähm ... «
Was soll ich darauf jetzt sagen?
"Ja Klar, würde mich freuen" oder "Sag’ ihnen die sollen so einen Korkenzieher kaufen" ?
»Kannst du gerne machen.«
Wow, nicht gestottert.
»Cool. Aber nächstes Mal bringe ich einfach eine Flasche für uns beide mit.«
Das. Hat. Er. Jetzt. Nicht. Wirklich. Gesagt. Das kann ja noch ein heiterer Abend werden.
»So, Jungs. Das Essen kommt!« Maria und Marvin kamen gerade mit jeweils zwei Tellern in den Händen in das Esszimmer. Aber wieso grinsen die so dämlich?