***Weiterer Teil zu folgenden Geschichten:
2. https://belletristica.com/de/books/19214-sixty-minutes-die-challenge/chapter/112776-56-luftschloss
Im Flugzeug sitzend blicktest du nervös aus dem Fenster. Über der Tragfläche hinweg erkanntest du bereits die Landebahn und das weitläufige Gelände des Flughafens. Mehrere Maschinen standen bereits sicher auf dem Boden und es herrschte ein reges Treiben auf den Bahnen. Allmählich baute sich ein Druck in deinen Ohren auf, als die Höhe sich drastisch verringerte, und du versuchtest kauend und schluckend dagegen anzugehen. Diesen Tipp hatte dein bester Freund Melvin dir zuvor auf dem Hinflug gegeben, aber gegen die innere Unruhe, die sich mit jedem weiteren Meter in die Tiefe ausbreitete, konnte dir niemand helfen. In deinem Kopf drehte sich alles um Marcel. Der Mann, der dir gestern noch versprochen hatte, dass er dich heute in Empfang nehmen würde.
»Jan, geht es dir gut?«, wollte Melvins Freundin wissen und legte dir ihre Hand auf den Unterarm. »Du siehst angespannt aus.«
»Ja, alles gut, aber ich mag Landungen nicht.«
Miranda stimmte dir zu und ließ für die noch verbleibende Zeit in der Luft deinen Arm nicht los. Innerlich danktest du ihr dafür und machtest dich auf das Unvermeidliche bereit. Erst als die Räder den Boden berührten, fiel deine Anspannung von dir ab, jedoch schnellte dein Herzschlag in die Höhe, als das Bild von Marcel vor deinem geistigen Auge auftauchte. Sein Duft stieg dir in die Nase, obwohl er nicht an Bord sein konnte. Du versuchtest dich in Geduld, jedoch war es zwecklos, denn dein Körper entzog dir jegliche Kontrolle.
»Wir haben es geschafft, Janni. Mann, was bin ich froh, wieder auf festem Boden zu sein«, teilte dir Miranda mit. Sie erhob sich wie von der Tarantel gestochen und nahm sich ihre Handtasche aus dem Stauraum.
»Ich auch.«
»Mann, ihr seid echt zwei Weicheier«, sagte Melvin belustigt. »Ihr tut so, als hättet ihr gerade das Schlimmste erlebt.«
»Haben wir«, sagten du und Miranda wie aus einem Mund, woraufhin Melvin nur lachte. Dann öffnete eine Stewardess die Tür und ließ die Passagiere aussteigen. Frische Luft wehte dir um die Nase, als du die erste Stufe der Treppe betratst. Unten angekommen holtest du sofort dein Smartphone aus der Gürteltasche und stelltest den Flugmodus aus. Aber es kamen keine neuen Nachrichten. Selbst auf der Fahrt mit dem Bus zum Gebäude blieb das Gerät abermals ruhig. Schwermütig stecktest du es wieder weg und versuchtest die tonnenschwere Last, die sich in deinem Magen bildete, zu ignorieren.
In der Gepäckausgabe wies Melvin dich auf deinen Koffer hin, der auf dem Laufband liegend bereits an dir vorbeigefahren war. Die liefst hinterher und nahmst dein Gepäck an dich. Jeder Schritt wurde zunehmend schwerer, als du auf die Tür zuliefst, und deine Füße wurden schwer wie Blei. Neben dir tauchte Miranda auf, in ihrer Hand ihr pinkfarbener Koffer.
»Janni? Was ist denn los mit dir?«
»Ach … Marcel hat sich nicht mehr gemeldet und irgendwie habe ich das Gefühl, dass er nicht kommt.«
»Papperlapapp, der steht da draußen und schließt dich gleich filmreif in die Arme, Wetten? Darf ich Fotos machen?« Mirandas überschwängliche Art verfehlte ihre Wirkung bei dir.
»Warten wir es erstmal ab.«
Die Flügel der Schiebetür öffneten sich vor dir und viele Menschen sahen erwartungsvoll in deine Richtung. Du suchtest in der Menge nach deinem Traummann, fandest ihn aber nicht.
»Hast du ihn schon gesehen?« Miranda hielt bereits ihr Smartphone in der Hand.
»Nein.«
»Komm, lass uns da vorne mal gucken, der wird hier schon irgendwo sein, hm?«
»Mensch, Jan, jetzt mach mal ein anderes Gesicht. Meine Süße hat recht, wirst schon sehen.«
Mittlerweile waren zehn Minuten vergangen, in denen Marcel sich weder gemeldet hatte, noch aufgetaucht war. Deine Anrufe gingen direkt auf seine Mailbox, also war sein Handy aus. Dir kam das seltsam vor und dir lief bereits die erste Träne an deiner Wange hinab.
»Hey, nicht weinen, Janni. Komm her.« Augenblicklich nahm Miranda dich fest in den Arm. »Wir können ja draußen Mal gucken, ob er dort ist, hm?«
»Hatte der Typ dir nicht versprochen, hier zu sein, wenn du ankommst? Alter, wenn der dich angelogen hat, hau’ ich den aus dem Leben«, mischte sich Melvin ein. Seine Worte trafen dich mehr als er wahrscheinlich beabsichtigt hatte.
»Lasst uns nach Hause fahren, ja?« Du nahmst deinen Koffer in die Hand. »Er wird nicht mehr kommen.«
»Bist du sicher?« Miranda sah dich prüfend an. »Was, wenn er doch noch kommt?«
»Wird er nicht. Sein Handy ist aus und er ist nicht hier. Das sagt doch alles.«
Sie nickte betroffen und nahm ihren eigenen Trolley in die Hand. »Hey, tut mir wirklich leid, Jan.« Ihre Hand legte sie auf deine Wange und strich mit ihrem Daumen deine Tränen fort.
»Schon gut. Es sollte einfach nicht sein.« Enttäuscht machtest du dich auf den Weg nach draußen. Du brauchtest frische Luft, denn in diesem Gebäude war es plötzlich so stickig geworden und jeder Atemzug fiel dir schwerer. Du hörtest, wie dein Freund angeregt mit Miranda sprach. Er versprach ihr, diesen Marcel eine reinzuhauen, würde er ihn jemals Wiedersehen.
Draußen angekommen sogst du tief die Luft ein und bliebst stehen. Die erhoffte Erleichterung blieb aus, stattdessen wurde dir übel, als du einen Rettungswagen und ein Polizeiauto auf der linken Seite stehen sahst. Beide Polizisten redeten lautstark auf einen Mann ein, der sichtlich betrunken war, da er deutlich schwankte. Allerdings erregte deine Aufmerksamkeit eine am Boden liegende Person, über deren Körper die beiden Sanitäter ein weißes Tuch legten. Als die beiden Rettungsassistenten sich einen Blick zuwarfen und der linke mit dem Kopf schüttelte, lief dir ein eiskalter Schauer über den Rücken und du wandtest dich von dem Geschehen ab.
»Oh, wie schrecklich«, sagte Miranda mit vorgehaltener Hand, als sie das Geschehen betrachtete und hielt inne.
★
Heute, vierzehn Tage später, löschtest du Marcels Nummer, auch wenn dir dieser Schritt nicht leicht fiel. Seine letzte Mitteilung, die er dir am Morgen deines Rückfluges geschickt hatte, besahst du dir noch eine ganze Weile.
„Ich freue mich schon auf dich und habe eine Überraschung dabei.“
Immer wieder glitten deine Augen über den kleinen Text und eine weitere Träne fiel auf den Bildschirm deines Smartphones. Du fragtest dich, warum er dich belogen hatte. Und du warst dir so sicher gewesen, dass er es ernst mit dir gemeint hatte. Dir fielen seine letzten Worte ein, die er dir ins Ohr gehaucht hatte.
»Jan, ich meine es ernst mit dir. Sehr ernst. Wenn wir beide wieder in Deutschland sind, dann möchte ich einen Probelauf mit dir starten.«
Als Marcel das gesagt hatte, war die Bedeutung seiner Worte noch nicht bei dir angekommen. Es hatte etwas gedauert, bis dir ein Licht aufgegangen war und du freudestrahlend in sein Gesicht nach Anzeichen einer Lüge gesucht hattest.
Du entferntest seine Nachricht endgültig, legtest dein Handy auf den Nachttisch und zogst danach deine Bettdecke über deinen Kopf. Dir war bewusst, dass du loslassen musstest, auch wenn es dir schwerfiel.