Es war dieses eine Lied aus alter Zeit, das Eva aus dem Schlaf hochschrecken ließ. Was ist jetzt los?, fragte sie sich und schaltete die Nachttischlampe ein. Blinzelnd sah sie sich im Schlafzimmer um, aber die Musik kam von woanders her. Als käme sie von unten aus dem Wohnzimmer.
Ihr lief bei dieser Vorstellung ein eiskalter Schauer über den Rücken. Waren Einbrecher ins Haus eingedrungen? Augenblicklich schlug sie die Bettdecke zur Seite und erhob sich aus dem Bett. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür, deren Quietschen beim Öffnen ihren Puls ansteigen ließ. Sie horchte in die Dunkelheit. Keine Schritte. Kein hektisches Treiben. Doch dann sah sie es, als sie an der Treppe angelangt war. Ein Lichtstrahl spiegelte sich in der Haustür, und Eva wusste genau, dass es aus der Wohnstube kam. Und in diesem Moment verfluchte sie sich selbst, weil sie kein Handy besaß. Sie trat die ersten drei Stufen hinunter, hielt inne und beugte sich über das Geländer, damit sie um die Ecke sehen konnte. Das Telefon!
Es lagen nur weitere acht Stufen und vier Schritte bis dorthin. Jedoch stand der Apparat direkt neben der Wohnzimmertür. Ein Schatten! Eva zuckte zusammen und hielt die Luft an. Sie musste handeln und zum Telefon kommen. Geräuschlos überwand sie die letzten Stufen, verharrte hinter der Balustrade. Zwischen zwei Balustern linste sie direkt auf die Tür. Gerade als sie um die Ecke huschen wollte, stoppte die Musik. Stille. Nur das leise Ticken der Standuhr drang zu ihr herüber.
Jetzt oder nie!
Zielsicher schlich sie zum Telefon. Sie hielt den Hörer bereits in der Hand, als erneut Musik einsetzte. Und dieses ließ ihren Atem stocken. Unser Lied, sinnierte sie. Zur Melodie ertönte plötzlich ein Summen. Diese Stimme kam ihr sehr bekannt vor, aber das war unmöglich.
»Eva? Ich habe dich längst gehört«, sagte die Stimme hinter der angelehnten Tür. »Komm zu mir und wir tanzen, so wie früher.«
Das musste ein schlechter Scherz sein. Eva donnerte den Hörer zurück aufs Telefon und stieß im nächsten Moment die Tür auf.
»Was zur Hölle soll der Mist? Nehmt mein Geld, meinen Schmuck, aber mit so was spaßt …« Der Rest blieb ihr im Halse stecken, als sie ihn vor dem Grammophon stehend vorfand.
»Liebes, den Schmuck habe ich dir selbst geschenkt und das Geld gehört sowieso uns, aber all das brauche wir nicht mehr«, sagte er schulterzuckend.
»Das ist ein ganz schlechter Scherz, oder? Wer sind Sie?«
»Also bitte … Erkennst du mich nicht mehr? Gut, es ist dreizehn Jahre her, aber hast du mich etwa schon vergessen?« Der Mann drehte sich vollends zu ihr herum und lächelte. »Jetzt guck nicht so, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
Eva erstarrte. »Das ist nicht möglich.«
»Doch, ich bin es. Ich kann es kaum glauben, dich endlich wiederzusehen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich dich vermisst habe.« Er näherte sich ihr und blieb direkt vor ihr stehen.
»Das kann nur ein Traum sein.« Eva kniff sich in den Arm, jedoch als sie wieder aufsah, stand noch immer Norbert vor ihr. Ihr verstorbener Mann.
»Schatz, du träumst nicht. Das hier ist echt. Ich bin nämlich hier, um dich abzuholen. Aber erst möchte ich mit dir tanzen, bevor wir gehen.«
Eva löste sich aus ihrer Starre. »Wohin?«
»Eva, Liebes, das mag jetzt seltsam klingen, aber dein Herz hat heute Nacht zu schlagen aufgehört. Ich muss schon sagen: Mit deinen siebenundneunzig hast du lange durchgehalten, aber mich auch sehr lange warten lassen.«
»Ich bin tot?«, entflohen ihr die Worte. Sie sah an sich herunter, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches feststellen. Obwohl …
»Ja, Liebes. Was ist nun? Tanzen wir, bevor wir gehen?« Er streckte ihr auffordernd seine Hand hin.
Eva zögerte. Das, was sie eben gesehen hatte, war eindeutig nicht der Körper einer fast einhundert Jahre alten Frau. Sie drehte sich herum zum Spiegel und erschrak sogleich. Außer der Möbel war dort nichts zu sehen, obwohl sie unmittelbar davorstand.
»Eva?«
»Wohin gehen wir, wenn wir getanzt haben?«
»Das zeige ich dir. Und glaub mir: Du wirst es lieben. Darf ich bitten?«
Dieses Mal kam Eva der Aufforderung nach und ließ sich von Norbert in die Mitte des Wohnzimmers führen. Sogleich bewegten sie sich zum Takt der Musik. Und während die Platte sich dem Ende näherte, zog Norbert sie näher an sich heran und küsste sie. »Ich liebe dich, Eva«
»Ich dich auch«, erwiderte sie und schlang ihre Arme um ihn.
Im Hintergrund schlug die Standuhr, und mit diesem verblasste das tanzende Paar, bis schließlich nichts mehr von ihnen zu sehen war.