23:52 Uhr, 31. Oktober 1991,
Luftschutzbunker B134a in Braunsbreda.
Er sah sie alle. Jeden einzelnen von ihnen, wie sie ungehalten zu wummernden Bässen zappelten und sich dem Alkohol hingaben. Eine Halloween-Party nannten sie diese Veranstaltung, wie er von der mit Kunstblut verschmierten Gästeliste am Eingang wusste. Sein Name fehlte, aber das war ihm egal, denn er war der wahre Gastgeber, und das würden sie alle bald erfahren. Für sie war es nur ein weiterer Spaß in ihrem jugendlichen Leichtsinn. Davon zeugten viele geradezu lächerlich wirkenden Imitationen von Spinnen, die mit ebensolchen Netzen das blanke Mauerwerk verunstalten, und die unzähligen Kerzen, die überall aufgestellt als einzige Lichtquelle dienten. Sein Reich, wie er es nannte, diente heute Abend als Schauplatz seiner Begierde, für sein Spiel, das er sich eigens für sie ausgedacht hatte. Dem Sieger bestand etwas Großartiges bevor, daher lehnte er sich vorfreudig im Stuhl zurück und zog ein weiteres Mal genussvoll an der Zigarette, deren Rauch er kreisförmig gegen die Bildschirme ausblies. Sie ließen ihn am Geschehen teilhaben, boten fantastische Perspektiven und Details. Ein Monitor zeigte den Eingang, der sich in diesem Moment wie von Geisterhand verschloss, und die Uhrzeit. Die letzte Minute vor Mitternacht war angebrochen, und mit ihr, die Startsequenz seines Spiels. Das metallische Klicken, als er den Finger vom Knopf nahm, bescherte ihm augenblicklich einen Adrenalinkick. Sein Blick ruhte auf der herunterzählenden Anzeige in der linken Bildschirmecke.
Noch 59 Sekunden
Sogleich erhöhte er die Lautstärke der Lautsprecher, denn nichts wollte er von alledem verpassen. Bislang drangen rhythmische Klänge aus ihnen, doch beginnen würde die richtige Musik erst gleich.
Noch 57 Sekunden
Malte, der angebliche Gastgeber im lächerlichen Frankenstein-Kostüm, stoppte die Musik, was allgemeines Stöhnen verursachte. Sogleich hob er beschwichtigend beide Arme. »Leute, beruhigt euch! Es ist kurz vor zwölf. Setzt euch im Kreis ums Pentagramm und fasst euch an die Hände.«
Zügig bildete sich ein Ring um den Drudenstern. Es war nicht das erste Mal, das sie das taten, keine Frage.
Noch 49 Sekunden
Dann sah Malte zu der einzigen noch im Raum stehenden Person hinüber. »Miri, du kannst loslegen.«
Noch 47 Sekunden
Die Angesprochene mit langen schwarzen Haaren und offensichtlich als Vampir verkleidet nickte. Sie begab sich ins Zentrum der Runde, ließ sich nieder und breitete eine Karte mit Buchstaben vor sich aus.
Noch 43 Sekunden
»Schließt eure Augen. Stellt eine Verbindung zu eurem Nachbarn her. Verknüpft eure Energien, lasst sie zu eins werden. Konzentriert euch darauf«, wies Miri ruhig und deutlich an. Sie selbst sah sich um.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, nicht wahr, Miriam?
Noch 34 Sekunden
»Lasst uns beginnen.« Sie griff in ihren schwarzen Mantel und holte einen metallischen Gegenstand hervor. Diesen legte sie in ihre freie Handfläche und umschloss ihn mit der anderen. Ihr Blick ruhte darauf, dann schloss sie die Augen.
Noch 22 Sekunden
Miriam befreite sich aus ihrer Starre, indem sie das Metallstück zur Karte führte, auf der sie es ablegte, jedoch nicht losließ. Darauffolgend summte sie einen Ton, in den die anderen nacheinander mit einstimmten. Das Licht flackerte auf.
Noch 15 Sekunden
»Gütiger Meister, erhöre uns. Erwache aus deinem Schlaf und nimm einen Teil unserer Energie als Geschenk. Erhebe dich aus dem Reich der Toten und komm zu uns ins Reich der Lebenden.« Miriam hielt inne. Schlagartig erloschen einige Kerzen. Weitere flimmerten auf.
Noch 6 Sekunden
Sie öffnete ihre Augen, sah sich hektisch um.
Er beobachtete genau ihr Gesicht, in dem sich deutlich die Angst widerspiegelte. Seine Genugtuung wuchs mit jedem weiteren Wimpernschlags des Mädchens.
Unerwartet sprang Miriam auf.
»Leute! Hier stimmt was nicht«, rief sie sichtlich panisch. »Hört ihr das nicht?« Sie wirbelte mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger in der Luft herum. Die Gruppe stellte das Summen ein.
Noch 2 Sekunden
»Miri, das Einzige, was ich hier höre, bist du. Was soll schon sein?« Malte erhob sich.
0 Sekunden
Vorgang gestartet …
»Scheiße! Sind das Spinnen?«, rief der Typ im Kürbiskostüm und schnappte sich sogleich eine der brennenden Kerzen.
»Was? Wo?«
»Scheiße! Oli hat recht!«
»Raus hier!«
Er sah zu, wie sie alle zum Eingang stürmten. Kurz darauf erklang ein metallisches Poltern, Schreie folgten.
»Wer hat die Tür zugemacht?«
»Leute! Ich will hier raus.«
Jedes einzelne Wort genoss er, verinnerlichte es, um später davon zehren zu können, wenn seine Party längst beendet war, die Gruppe verstummt und begraben, von der Menschheit aufgegeben und vergessen.