Die frühe Morgensonne blinzelte zwischen dem Geäst der umstehenden Bäumen hindurch auf die Fahrbahn. Schatten tanzten auf dem Asphalt, während der Nebel, der sich über Nacht auf die Felder gelegt hatte, gemächlich sich aufzulösen schien. Ein friedvolles Bild, wäre da nicht ein herannahendes Auto gewesen, dessen Motor in unregelmäßigen Abständen stotterte. Einige Krähen, die am Rand der Straße saßen und im Laub nach Nahrung suchten, bemerkten die Unruhe. Sie suchten schnell das Weite und gaben krächzende Laute von sich, als würden sie sich über die Ruhestörung beschweren.
Der dunkelblaue Wagen kam dem Dortmunder Ortsschild näher, bis er nach einem letzten Ruckeln ausrollte und schließlich stehenblieb. Rauch stieg auf und die Fahrertür öffnete sich schwungvoll.
»So eine Scheiße! Kurz vor Ende muss die Karre ihren Geist aufgeben«, beschwerte sich Darius. Er stieg aus und lief ums Auto herum. Missmutig riss er die Motorhaube förmlich auf und versuchte mit beiden Händen die Schwaden zu vertreiben. »Du und deine dämlichen Ideen. Das ist das letzte Mal, dass ich auf dich höre.«
»Was kann ich denn jetzt dafür?«, rief Martin aus dem heruntergelassenen Fenster seinem Freund zu. Er entriegelte die Tür. Mit einem herzhaften Gähnen hievte er sich vom Sitz hoch und betrat die Fahrbahn. Ausgiebig streckte er sich, dabei knackten einige seiner Wirbel. »Außerdem bist du gefahren, nicht ich.«
Darius sah auf. »Ja klar, weil der werte Herr noch seinen Schönheitsschlaf halten wollte, während ich uns nach Hause bugsieren sollte.«
»Ich habe dich gefragt und du wolltest fahren«, verteidigte sich Martin. »Konntest du am Motor schon was erkennen?«
»Guck doch selber nach. Sehe ich aus wie ein Mechaniker?« Darius trat zur Seite, um seinem Freund Platz zu machen. Mürrisch sah er sich um, dabei fand er ein Überbleibsel einer verwitterten Vogelscheuche auf einem der Felder.
»Bist ja wieder Witzig heute.« Martin holte sein Smartphone hervor und wählte aus seinen Kontakten Raphael aus. Hoffentlich war der befreundete Nachbar zu Hause. Und hoffentlich konnte der ihnen aus der misslichen Lage heraushelfen.
Darius trat derweil einen Stein von der Fahrbahn. Dieser prallte gegen einen Baum, auf dem eine weitere Krähe saß. Sie ergriff sofort die Flucht. Er sah ihr blinzelnd hinterher. Immerhin konnte das Tier nach Hause fliegen, während er inmitten von Stoppelfeldern mit dem in die Jahre gekommenen Wagen stehengeblieben war. Es ärgerte ihn ungemein, so sehr, dass er dem störrischen Auto ebenfalls einen Tritt versetzte. »So ’ne Scheiße«, schrie er ungehalten.
»Jetzt beruhige dich mal«, sagte Martin. »Vincent und Raphael kommen gleich vorbei und helfen uns.« Er näherte sich seinem Freund, dabei suchte er seinen Blick. »Guck nicht so grimmig. Davon wird es auch nicht besser. Denk lieber an Grömitz und an unsere gemeinsame Zeit dort.«
»Das bringt uns auch nicht nach Hause.«
»Stimmt, aber jetzt haben wir noch ein wenig Zeit, bis die beiden kommen.« Martin drückte Darius einen Kuss auf die Lippen und schlang beide Arme um dessen Körper. »Ich fand den Urlaub toll und habe mal im Netz nach anderen Zielen gesucht. Was hältst du davon, wenn wir nächstes Jahr nach Holland fahren? Texel soll sehr schön sein.«
»Zu den Käsefressern? Dein ernst?«
»Darius! Du bist unmöglich!« Martin beendete die Umarmung und trat zurück. »Es war nur ein Vorschlag. Was hast du denn jetzt gegen die Niederländer?«
»Nix. Nur fressen die eben Käse.«
Mit einem Kopfschütteln lief Martin an Darius vorbei zurück zu seinem Sitzplatz. Er setzte sich in die Polster und schenkte sich einen Kaffee aus der Thermoskanne ein. Durch den schmalen Spalt, der durch die geöffnete Motorhaube entstanden war, sah er seinen Freund, der sich gegen das Auto lehnte. Noch gestern war die Stimmung ausgelassen und harmonisch gewesen, als sie den Tag am Strand verbrachten und abends in einem rustikalen Restaurant an der Promenade ihren Urlaub ausklingen ließen.
»Da sind sie!«, hörte er Darius und schaute daraufhin seitlich aus dem Fenster. Das rote Cabrio, aus dessen Beifahrerfenster Raphael winkte, kam näher und hielt keine drei Sekunden später direkt vor ihnen. Martin stieg erneut aus, um die beiden zu begrüßen. Raphael löcherte ihn sofort mit Fragen über den Urlaub, die Martin in Erinnerung schwelgend beantwortete. Darius hingegen wetterte über das Auto und die Schuldfrage nach dem Warum. So fand er, dass Martin an allem Schuld war. Daraufhin mischte sich Raphael ein.
»Was kann Martin jetzt dafür? Du bist gefahren, nicht er. Und so wie ich dich kenne, hast du das Möhrchen mal wieder bis zum äußersten gequält, stimmt’s?«
»Klappe, Feuermelder. Wenn man keine Ahnung hat: Einfach mal die Fresse halten«, murrte Darius zornig.
»Ho, ho, ho, Leute. Jetzt beruhigen wir uns mal wieder ganz schnell. Wieso, weshalb und warum der Motor streikt, klärt sich in der Werkstatt.« Beschwichtigend hob Vincent beide Hände, dabei schaute er abwechselnd zwischen seinem Mann und Darius hin und her, die sich ein düsteres Blickduell lieferten. »Schatz, holst du bitte das Seil aus dem Kofferraum?«
Grummelnd nickte Raphael, der sogleich zum Cabrio trottete. Mit dem Abschleppband kam er zurück und hielt es Aufforderung seinem Mann entgegen, der sich sofort an die Arbeit machte, und beide Wagen miteinander verband.
»So, das hätten wir. Dann können wir euch jetzt nach Hause bringen, bereit?«
Ja, das waren sie. Vincent ließ sich sodann auf den Sitz seines Cabrios fallen, sah schmunzelnd in den Rückspiegel. Dort fand er Darius wild gestikulierend vor. Anscheinend machte er Martin erneute Vorwürfe. Doch der schüttelte vehement mit dem Kopf und winkte mit der Hand ab, bevor er sich ins Auto setzte.
Die Beifahrertür öffnete sich. Schwungvoll ließ sich Raphael auf den Ledersitz fallen und zog damit Vincents Aufmerksamkeit auf sich. »Die beiden sind unglaublich … wie Pech und Schwefel, oder?«
»Allerdings. Aber du weißt doch: Was sich liebt, das neckt sich.« Mit diesen Worten betätigte Vincent die Zündung.
Weniger harmonisch ging es bei den anderen beiden zu. Darius mäkelte ungehalten weiter, bis es einen Ruck gab und das Fahrzeug sich in Bewegung setzte. Sie passierten in gemächlichen Tempo das Ortsschild ihrer Stadt. Hinter den letzten Bäumen und Sträuchern tauchten erste Dächer auf, sogar Florians Turmspitze war in der Ferne auszumachen. Das Gefühl von Heimat machte sich in Darius breit und seine Anspannung verflog.
Martin schielte derweil auf die Instrumentenanzeigen, stutzte und fragte: »Sag mal, warum leuchtet die Ölwarnlampe rot?« Tat sie das etwa schon länger, fragte er sich. Seiner inneren Eingebung folgend, fixierte er das Gesicht seines Freundes, der lediglich einen kurzen Blick auf die besagte Anzeige warf.
»Ups …«
Bitte?
»Das ist jetzt nicht wahr, oder?«, entrüstete sich Martin. »Mich motzt du an, ich wäre an allem Schuld, obwohl die ganze Zeit die Lampe leuchtet?« Ein undefinierbarer Laut entfloh seinen Lippen.
»Ich hab’s nicht gesehen. Okay? Und jetzt beruhige dich mal, du führst dich auf wie eine Diva.«
»Ich führe mich wie eine Diva auf? Wer hat mich denn dafür verantwortlich gemacht? Ich frag mich nur, wer von uns beiden hier wirklich geschlafen hat. Anscheinend ja wohl du, sonst wären wir längst zu Hause … mit intaktem Auto, wohlgemerkt.«
Darius stöhnte auf. »Ich musste mich auf den Verkehr konzentrieren, während du genüsslich gepennt hast.«
Darauf sagte Martin nichts mehr. Für ihn galt das Thema als beendet, die Schuldfrage geklärt. Ein unangenehmes Schweigen trat ein, bis sie in die Bachstraße einbogen und schlussendlich vor ihrem Haus hielten. Darius betrachtete einen kurzen Moment den heimischen Vorgarten, in dem bereits heruntergefallene Blätter auf den Gehwegplatten ruhten. Dann wandte er sich an Martin. »Tut mir leid …«, sagte er kleinlaut. Es brauchte Überwindung das zu sagen. Ohne auf eine Antwort abzuwarten, stieg er aus.
Martin sah ihm perplex nach. Was war das denn eben? Ein Schmunzeln legte sich auf seine Lippen. Das war das erste Mal, dass sein Freund sich entschuldigt hatte. Anscheinend gab es doch noch eine Hoffnung auf einen besseren Menschen. Zufrieden stieg er aus.