»Sag’ mal, was hast du denn jetzt schon wieder zu meckern?« Martin saß auf dem Sessel im Wohnzimmer und taxierte seinen Freund, der mit mürrischer Miene das Flyer in der seinigen Hand betrachtete. Martin hatte ihm eben das Blatt in die Hand gedrückt, da er gerne auf die Silvesterparty gehen würde – und zwar mit seinem Freund. Auch sollten Darius’ Schwester Elena und die beiden Nachbarn von gegenüber mitgehen. Nur schien das dem Blonden nicht wirklich zu gefallen.
»Das ist doch auch nur wieder so ein Rumgehopse, oder? Schau mal hier«, er hielt Martin die aufgeschlagene Seite entgegen und tippte mit dem Finger auf das Bild, in welchem mehrere kostümierte Personen ausgelassen feierten, »das ist doch jetzt nicht dein Ernst, oder?«
»Warum? Das ist doch toll. Vor allem ... Willst du Silvester Zuhause verbringen und gar nichts machen?« Martin verstand einfach nicht, warum Darius sich immer gegen alles wehrte.
»Das habe ich doch gar nicht gesagt. Aber wenn du glaubst, dass ich mich wie Batman oder Superman im sexy Latexanzug auf so ’ne Party schwinge, hast du dich geschnitten.« Darius ließ sich wieder ins Sofa zurückfallen und blätterte weiter in der Broschüre. Kopfschüttelnd und murrend betrachtete er die neuen Informationen.
»Was in Gottes Namen ist eigentlich passiert, dass du alles, was Spaß machen könnte, sofort ablehnst? Kannst du nicht einmal alles negative ausblenden und mit mir dahin gehen, um Spaß zu haben? Manchmal wünschte ich mir, dass man dir die negativen Gedanken auslöschen würde. Tabula Rasa – und schwupps hätten wir Spaß ... « Und das meinte Martin wirklich so. Er konnte sich einfach nicht erklären, weshalb sein Freund alles abwehrte. Irgendwas muss ihm doch widerfahren sein, dass ihn derart prägte – prägte fürs Leben.
»Du meinst "Geblitzdingst"? Coole Idee, dann wüsste ich auch nicht mehr, wer meine Mutter ist. Lass’ uns direkt anfangen.« Ruppig setzte Darius sich gerade auf und sah den Schwarzhaarigen abwartend an. Wenn es das war, was Martin meinte, wäre er sofort dabei.
»Du bist unmöglich. Das war als Metapher gemeint. Mal im Ernst: Gab es irgendwelche Auslöser dazu, dass du Weihnachten, Karneval oder Ostern nicht magst?« Martin war durchaus bewusst, dass nicht Jedermann an diesen Festivitäten gefallen fand, aber er kannte auch niemand anderen, der sich derart weigerte. Nicht einmal Darius’ Mutter war so, ganz im Gegenteil – sie liebte Weihnachten oder Ostern.
»Weißt du ... wenn du als Kind ständig so ’n scheiß Kostüm anziehen musstest und auf den Feiern dann etliche Fotos gemacht wurden, sie dir später immer und immer wieder unter die Nase gerieben werden, dann hängt dir der Mist auch irgendwann zum Halse raus. Es gibt nicht ein Familienfest, wo sie nicht die Alben herausholt. Okay ja ... letztes Weihnachten nicht.« Darius erinnerte sich an die vielen Szenarien zurück. Ob Nikolaus, Rudolph–das Rentier, Elf und ganz schlimm ein Marienkäfer im Kindergarten, hingen ihm heute noch nach. Einmal wollte er gerne als Sheriff gehen, aber seine Mutter hatte ihm die Pistole verboten. "In dem Alter spielt man nicht mit so etwas herum. In anderen Ländern wird damit tatsächlich geschossen". Mit diesen Sätzen wurde er regelmäßig abgespeist und durfte entweder das Kostüm seiner älteren Schwester tragen oder es wurden andere gekauft. Irgendwann verlor er die Lust darauf und fand die ganze Sache nur noch nervig.
»Hey, was soll ich denn sagen? Du bist hier nicht der einzige, der damit aufgezogen wird. Erinnerst du dich noch an meinen Geburtstag im letzten Jahr? Mama und Papa haben dir abwechselnd die tollsten Geschichten über mich erzählt. Und was glaubst du, wie ich das fand?« Er verstand Darius durchaus, aber auch er selbst hatte einiges ertragen müssen. Dennoch hätte er nie den Spaß an der Sache verlieren können, wie einst sein Freund es tat.
»Hey, wir könnten ja beide dieses Tabula irgendwas machen. Ist das ’ne Sekte oder wie ’ne Hypnose bei einer Raucherentwöhnung?« Wenn so etwas wirklich ginge, dann wäre er dabei, aber musste man die Erinnerungen der anderen nicht auch auslöschen? Oder die Beweismittel in Form von Bildern vernichten? Murrend sackte er wieder zusammen und zog die Beine an seinen Körper. »Vergiss’ den Scheiß. Ich besaufe mich einfach besinnungslos, das sollte ausreichen. Oder machen die auch Gruppensitzungen?«
»Ach Darius ...«, stöhnte Martin und dachte zurück an das Weihnachtsbowling. Darius hatte so viel Glühwein mit Vincent getrunken gehabt, dass beide Muffel mit Weihnachtsmütze zur Musik tanzten. Der Tag danach war mehr als nur schlimm gewesen.
»Hey, die haben hier ’ne Getränkeflat«, rief er begeistert und riss seinen Freund damit aus den Gedanken.
»Ja, weiß ich. Also gehen wir jetzt dahin oder nicht? Ich muss dann Karten bestellen.«
»Geil! Und ich weiß auch schon, was ich anziehen werde. Ich muss unbedingt Vincent anrufen – wir müssen uns absprechen.« Er war im Begriff aufzustehen, als Martin mit panisch aufgerissenen Augen aufsprang und sich vor ihn stellte.
»Du wirst nicht wieder irgendeinen Mist machen!« Martin dachte zurück an den Weihnachtsball bei Darius Schwester. Aus Santa wurde Bad Santa. Das Kostüm war hinüber und Darius musste dafür viel Geld an den Verleih bezahlen.
»Mach’ dir kein Kopp’, ihr werdet Augen machen. Vincent wird begeistert sein von meiner Idee.« Mit diesen Worten sprang er auf und rannte zum Telefon.
»Auf was habe ich mich nur eingelassen ...« Martin sank auf das Sofa, auf dem gerade noch sein Freund gesessen hatte. Was würde er sich dieses Mal wohl einfallen lassen?