»Was willst du damit? Stell’ das wieder weg.«
»Wieso?«
»Alter, bist du blind? Das Teil geht gar nicht.« Darius deutete auf die Kunstmöwe, die sein Freund in den Händen hielt. Grau, aus Plastik, schlecht bemalt und schief auf einen Holzpfahl sitzend.
Martin stöhnte auf. »Kannst du mal bitte damit aufhören, ständig an allem etwas auszusetzen? Ich finde sie schön. Die macht sich im Flur neben dem Spiegel ganz gut.«
»Das Ding kommt definitiv nicht in unseren Flur.«
»Das hast du bei dem Strandkorb auch schon gesagt. Ach … und beim Leuchtturm, den Seesternen und den Muscheln …« zählte Martin auf und war Inbegriff das Kunsttier in den Einkaufskorb zu legen, jedoch zog sein Freund diesen weg. »Darius! Hör’ jetzt mit dem Mist auf.«
»Wer hat denn angefangen? Mann, Martin, ich will so ’n Scheiß nicht in der Bude haben.«
»Aber guck doch mal, die ist ein toller Blickfang …«
»So wie die schielt, ist das auch kein Wunder …«
Martin stieß ein Geräusch der Verzweiflung aus. Er wollte doch bloß ein paar Andenken aus dem Urlaub mitnehmen, sie zu Hause aufstellen und damit das Haus verschönern. Jedoch verließ ihn allmählich die Lust, nach weiteren Accessoires Ausschau zu halten. »Und was ist hiermit?« Er zeigte auf zwei Figuren. Beide waren von rundlicher Statur und stellten ein Ehepaar am Strand dar. Der Mann hielt ein Fernglas in der Hand, trug eine blaue Badeshorts mit aufgedruckten Palmen, ein gelbes Kopftuch und unter seinem Oberlippenbart zierten seine Lippen ein verschmitztes Grinsen. Die Frau trug einen roséfarbenen Hut und einen geblümten Bikini. Unter ihrem rechten Arm klemmte ein blaues Badetuch.
»Dein Ernst? Mach doch gleich ein paar Bilder vom Strand, dann hast du wenigstens die Originale drauf. Warum nimmst du nicht sowas hier?« Darius hielt ein Ortsschild vom Urlaubsort in der Hand. Es bestand aus blau und grau gefärbtem Holzbrettern, die aneinander geleimt die Rückseite bildeten. Eine weiße Muschel war linksseitig angebracht und in Schreibschrift stand daneben »Grömitz«.
Ohne zu überlegen, entriss Martin seinem Freund das Objekt und legte es zu den anderen Sachen in das Körbchen. »Warum nicht gleich so?«
»Weil du anscheinend blind bist. Wenn du schon das ganze Haus mit dem Mist zupflastern musst, dann such auch Sachen aus, die gut aussehen. Haben wir’s jetzt oder willst du den ganzen Laden leerkaufen?«
»Schatz, wir sind gerade einmal im ersten Gang, da kommt noch jede Menge. Außerdem wollte ich deiner Mutter, deiner Schwester und meiner Familie noch was mitbringen. Ach, und Postkarten müssen wir auch noch holen.« In Martins Gesicht bildete sich ein Grinsen. »Was hältst du davon, wenn du die aussuchst? Dann kann ich hier noch etwas stöbern.«
»Vergiss es! Das machen wir schön zusammen. Ich seh dich nämlich schon mit zwei Körben an der Kasse stehen.«
Martin versuchte weiterhin seinen Freund von seiner Idee zu überzeugen. Er gab es nach drei weiteren Anläufen schließlich auf und schlenderte gemütlich an den Regalen und Aufstellern entlang. Vor einem großen Leuchtturm blieb er stehen. »Der ist ja toll. Den können wir in den Garten stellen, was meinst du dazu? Und dann stecken wir daneben das Holzschiff und das Surfbrett ins Beet. Dann haben wir etwas Urlaubsflair, wenn wir auf der Terrasse sitzen.«
»Okay, pass auf: Ich geh’ freiwillig Karten aussuchen und warte dann vorne vor der Kasse auf dich. Und: Ich gucke mir alles an, was du eingepackt hast.«
»Klasse«, sagte Martin wie aus der Pistole geschossen. »Ich meinte natürlich: Toll, Schatz.« Ein breites Grinsen legte sich auf seine Lippen.
»Jaja, schon klar.« Darius winkte ab und trottete zu dem Postkartenständer. Angekommen musterte er die bunte Vielfalt und warf gelegentlich einen Blick in den hinteren Teil des Ladens, wo er seinen Freund vermutete. Er verstand bis heute nicht, was genau die Menschheit an diesem billig hergestellten Plunder gut fanden. Ob er das jemals würde, stand auf einem anderen Blatt geschrieben.
Währenddessen hielt Martin weiterhin Ausschau nach Ziergegenständen. Sein Herz schlug plötzlich höher, als er erneut auf eine Möwe stieß. Ihr Gefieder bestand aus echten Federn und beide Augen waren akkurat angeordnet. »Und dich nehme ich jetzt mit«, flüsterte er. Er verstaute das Tier unter den anderen Teilen und machte sich auf den Weg zur Kasse. Dabei fand er noch zwei Teelichthalter; sie stellten Rettungsringe dar, und ein dickes Seil, an welchem hölzerne Seesterne, Anker und Seepferdchen angebracht waren. Einen passenden Platz hatte Martin dafür auch schon ins Auge gefasst. Jetzt galt es nur noch seinen Freund davon zu überzeugen. Und genau auf diesen lief er geradwegs zu. Allerdings war sein Freund mit etwas beschäftigt und stand mit dem Rücken zu ihm. »Ich bin fertig«, sagte Martin. »Zeig mal die Karten und … was ist das?«
Darius wandte sich um. »Das sind Urzeitkrebse. Die habe ich als Kind schon mal gehabt.«
»Du auch? Die waren damals das Gimmick vom YPS-Heft. Ist ja witzig … wusste gar nicht, dass man die auch so kaufen kann.«
»Wusste ich auch nicht. Haben deine denn lange gelebt? Meine hat Elena gekillt. Sie war der Meinung, sie würden Cornflakes fressen. Mama hat sie dann im Klo runtergespült. Und weil ich so sauer war, hab ich Elenas Poly-Pocket-Puppen direkt hinterhergeworfen.«
»Nicht dein ernst, oder?«
»Aber sowas von. Hättest mal sehen müssen, wie aufgebracht sie war«, sagte Darius und lachte. »Jetzt zeig schon her, was du alles eingepackt hast.«
Martin hievte den Korb auf die Ablage der Kasse und ließ seinen Freund nachsehen. Erstaunlicherweise blieb Darius ruhig, während er jedes Teil einzeln in die Hand nahm und musterte. Dann stockte er, als er auf die Möwe stieß.
»Martin? Hatte ich nicht eben gesagt, dass das Vieh nicht mit nach Hause kommt?«
»Das ist aber eine andere. Guck doch mal … die Augen sitzen gut, kein Plastik und der Poller ist sogar aus echtem Holz.«
»Und wo ist da jetzt das Gold verarbeitet?«
Verwundert sah Martin seinem Freund ins Gesicht und überlegte, wie Darius auf so eine absurde Idee kam.
»Anscheinend hast du es also auch nicht gefunden. Schön, dann sind wir schon zu zweit. Du willst nicht wirklich sechzig Mücken für das Ding ausgeben, oder?«
»Sie gefällt mir. Und vielleicht lässt der Verkäufer noch mit sich handeln und wir …«
»Das glaubst du doch selbst nicht«, fiel Darius ihm ins Wort. »Touristenort, Souvenirladen … na, klingelt’s da bei dir? Wach auf. Die verdienen ihr Geld mit dem Schrott.«
»Wir können es doch wenigstens versuchen, oder?«
»Bitte, nur zu.«
Das ließ Martin sich nicht zweimal sagen. Er legte die Waren aufs Band und bemerkte, nachdem alles ausgepackt war, das noch etwas Wichtiges fehlte. »Wo sind die Postkarten, Schatz?«
»Hier«, erwiderte Darius breit grinsend und wedelte zur Bestätigung mit seiner Hand, in der sich mehrere der bedruckten Grußkarten befanden. »Hab’ für Vincent und Raphael auch eine.« Er legte die Papierkarten mit dem Bild nach unten auf das Laufband.
Währenddessen tippte die ältere Verkäuferin die Preise in die Kasse. Bei der Möwe hielt Martin sie auf. »Entschuldigen Sie bitte, aber kann man am Preis noch etwas machen?«
Die Dame sah auf und hob eine Augenbraue. »Was soll ich denn daran machen? Ihn abknibbeln? Bunt anmalen? Suchen Sie sich was aus.«
Martin lachte unsicher auf. »Der war gut. Nein, ich meine, ob wir über den Preis noch verhandeln können.«
»Wollen Sie die Möwe jetzt haben, oder nicht?« Ungeduldig tippte sie mit ihrem Zeigefinger auf das Gehäuse der Kasse.
»Frau Hansen«, mischte sich Darius ins Gespräch ein und stellte sich direkt vor die Verkäuferin. »Mein Freund möchte den Vogel gerne haben, ich nicht, aber das spielt jetzt keine Rolle. Machen Sie dreißig, dann nehmen wir ihn mit.«
»Wir sind hier doch nicht auf einem Basar«, echauffierte sich die Frau. »Ich führe den Laden jetzt seit über vierzig Jahren und …«
»Man sieht’s«, bemerkte Darius und erntete ein entsetztes »Wie Bitte?« seitens Frau Hansen.
Martin fuhr mit dem Kopf herum und zischte den Namen seines Freundes, dabei stieß er ihm seinen Ellenbogen in Seite.
Unbeirrt fuhr Darius fort. »Jetzt machen Sie schon, dann empfehlen wir ihren Schuppen auch weiter.«
»Guter Mann, entweder Sie nehmen die Möwe jetzt oder nicht. Ich werde den Preis nicht ändern. Ich geb’ Ihnen noch einen Lolli dazu«, erwiderte die Verkäuferin. Sie griff unter die Theke und hielt im nächsten Moment einen roten Lutscher in ihrer Hand.
»Ihr Ernst? Für wie Alt halten Sie mich? Fünf?«
»Das spielt keine Rolle. Wollen Sie jetzt das Teil? Der Lolli ist übrigens mit Kirschgeschmack, ich würde mir den nicht entgehen lassen.«
»Wir nehmen die Möwe, aber nur, wenn sie uns zwei von den Lollis geben«, sagte Martin lächelnd. »Schatz, packst du die Sachen bitte schon mal in die Tasche?«
»Moment … du lässt die Verhandlung wegen zwei lausigen Lutschern platzen?«
»Ja, genau. Außerdem kenne ich dich und ich möchte Schlimmeres vermeiden.« In Martins Kopf bildete sich eine Szene, in der eine hysterische Verkäuferin und ein angriffslustiger Darius die Hauptrollen spielten. Fatal.
Währenddessen legte Frau Hansen zwei der Schleckstängel auf die Ablage und registrierte alsdann die restlichen Preise in die Kasse. Martin staunte nicht schlecht über den hohen Preis, dennoch ließ ihn die Vorstellung, dass jedes einzelne Teil zu Hause seinen Platz finden würde, den Betrag schnell vergessen.
Draußen vor dem Laden kramte Darius in der Tüte herum und hielt in nächster Sekunde die Süßigkeit in der Hand. »Hier, genieße ihn, der war teuer.«
Martin näherte sich seinem Freund und nahm ihm den Schleckstängel aus der Hand. »Danke, dass du es wenigstens versucht hast, Schatz.« Er beugte sich vor und küsste Darius auf die Lippen. »Komm, wir suchen uns jetzt ein nettes Lokal, essen dort was und gehen dann zurück. Und dann können wir noch zur Strandbar gehen, was hältst du davon?«
»Geht klar, aber bevor wir zur Strandbar gehen, hab ich noch was anderes vor.«
»Ja? Was denn?«
»Na, meine kleinen Racker zum Leben erwecken«, sagte Darius und hielt demonstrativ die Packung der Urzeitkrebse hoch.
»Wo hast du die jetzt her? Die lagen doch gar nicht auf dem Band«, wunderte sich Martin und blieb stehen. »Du hast die doch nicht etwa mitgehen lassen, oder?«
»Nicht absichtlich. Aber beim Einpacken hatte ich sie noch in der Hand. Und da die Alte uns kein Stück mit dem Preis entgegenkam, habe ich sie in die Tüte geworfen. Ich schwöre dir, sie hat es nicht bemerkt.«
»Du bist unmöglich!«, zischte Martin. »Das ist Diebstahl.«
»Und was hat sie gemacht? Uns ausgenommen wie ’ne Weihnachtsgans. Ich hätte vielleicht noch ein paar Schlüsselanhänger einpacken sollen …«
Kopfschüttelnd setzte Martin sich wieder in Bewegung. »Lass uns gehen.«
Beide schlenderten durch die kleinen Gassen der Altstadt, vorbei an zahlreichen Cafés, Restaurants und kleinen Läden. Einer davon verkaufte ähnliche Souvenirs, unter anderem dieselbe Möwe, die sie vor nicht einmal fünf Minuten erworben hatten. Martin las den Preis von knapp zwanzig Euro und bekam große Augen. Sein Freund durfte davon nichts erfahren, also hielt er den Mund und schlug eine andere Richtung ein.