Es war ein Tag wie jeder andere, dachte Ralf, als er seine Reiseunterlagen durchschaute und sortierte. Der Wellnessurlaub war schon lange geplant gewesen, denn es war an der Zeit, dass Ralf aus dem Alltagstrott herauskam. Mit gepackten Koffern stand er im Flur seines Hauses und schaute durch die runde Glasscheibe der Haustür, auf der Suche nach dem bestellten Taxi, das schon vor fünf Minuten hätte da sein sollen.
»Oh Mann …« stöhnte er gegen die Scheibe, die daraufhin beschlug. Das durfte doch jetzt nicht wahr sein! Kommt das Auto direkt aus Niedersachsen oder müsste das erst noch gebaut werden?
Soeben fuhr der elfenbeinfarbige Wagen vor und hielt in der Einfahrt, direkt vor dem Hauseingang.
Erleichtert darüber griff Ralf nach seinem schwarzen Koffer und hängte sich die blaue Stofftasche über die Schulter. Er war noch nicht ganz draußen, da erkannte er auf dem Rücksitz eine weitere Person. Stirnrunzelnd schloss er hinter sich die Tür ab und ging zum Kofferraum, um sein Gepäck dort unterzubringen. Die Zeiten, dass die Taxifahrer das machten, waren schon längst vorbei. Immerhin öffnete sich der Deckel automatisch. Nachdem sein Hab und Gut neben einem lilafarbenen Trolley verstaut war, stieg er auf der Beifahrerseite ein.
»Hallo«, begrüßte ihn der Taxifahrer. Ein älterer Mann mit Halbglatze und einer silberfarbenen Brille. »Zum Bahnhof, richtig?«
»Ja, genau.» Ralf erinnerte sich, dass die Taxizentrale nach dem Ziel gefragt hatte. Er drehte sich um und erblickte eine junge Dame mit blonden Haaren und blau gefärbten Strähnen. In rasanter Geschwindigkeit tippte sie auf ihrem Smartphone und schob sich mehrfach ihre schwarze Brille mit dem Zeigefinger nach oben. »Und darf ich fragen was sie hier machen?«
In der Regel war es unüblich, dass der bestellte Fahrdienst weitere Fahrgäste mit sich führte. Hatte sich das neuerdings geändert?
Sie hob kaum den Kopf und blickte über den Rand ihrer Sehhilfe hinweg direkt in Ralfs Augen. »Ich muss auch zum Bahnhof. Der Herr war so freundlich mich mitzunehmen, da Sie den gleichen Weg haben.«
So war das also. Nun musste er sich mit anderen den Wagen teilen. Na, prima.
»Aha.« Mit diesen Worten drehte Ralf sich wieder um und wurde gleichauf durchgerüttelt, als der Wagen losfuhr. Unfähiger Fahrer, dachte Ralf und las sich den Namen auf der am Handschuhfach pappenden Visitenkarte durch. "Klaus Steiner, Taxizentrale Köln", stand dort geschrieben und in diesem Moment schwor er sich, beim nächsten Mal eine andere Nummer zu wählen. Hinter Ralf war bereits das hektische Treiben zu einem aggressiven Klopfen geworden, das rasant an Tempo gewann, genauso wie die Geschwindigkeit des Autos, obwohl sie sich in einem verkehrsberuhigten Bereich befanden. Das hämmernde Geräusch machte Ralf wahnsinnig. Hinzu kam ein ständiges »Ooh« oder ein »Naaw«, das die Frau auf der Rückbank sitzend von sich gab.
»Entschuldigen Sie bitte, junge Frau, aber können sie bitte etwas leiser sein?« Fragend blickte Ralf über seine Schulter nach hinten.
»Könnte ich, ja, kann ich aber gerade nicht. Und außerdem bin ich ein Mann.»
Keine Sekunde später ging das gleiche Spiel in Form von klackernden Fingernägeln auf dem Smartphone von vorne los. Die Aufmerksamkeit war ihr gewiss, mit dieser Aussage. Irritiert drehte sich Ralf noch einmal um und betrachtete die Person hinter sich. Hatte er sich vertan? Das war doch eine Frau.
»Ja, so habe ich auch geguckt«, begann der Taxifahrer, »aber heutzutage gibt es so ziemlich alles, wissen Sie? Auch wenn unser Herrgott das nicht gutheißt, ich übrigens auch nicht, müssen wir uns wohl oder übel damit abfinden. Ist sowieso alles nur ’ne Modeerscheinung wenn s’e mich fragen…«
Wovon sprach der Kerl bitte? War der Fahrer streng gläubig? Ein Gegner der Regenbogenwelt?
Ralf ließ sich zurück in seinen Sitz sinken und starrte geradeaus durch die Frontscheibe. Jetzt bloß nichts falsches sagen, hämmerte er sich selbst ein. Würde er jetzt noch Öl in das Feuer kippen, mit der Bemerkung, dass er selbst eher an der Männerwelt interessiert war, würde die Fahrt sicherlich noch andere Ausmaße annehmen.
»Hey! Ich scheiße auf Gott. Ich bin wie ich bin und keine Modeerscheinung. Eine Erscheinung, ja. Eine gute!«, mischte sich der selbsternannte Mann ein und bewegte in einem Affenzahn seine Finger auf dem Touchscreen munter weiter.
Na, das wurde ja immer besser hier. Erst musste er sich das Auto mit einem weiteren Fahrgast teilen, dann war der Taxifahrer irgend so ein fanatischer Bibelheini und er selbst mittendrin. Er wollte doch nur in Ruhe zum Bahnhof gebracht werden. Nicht mehr – nicht weniger.
»Junge Frau …«
»Nochmal zum Mitschreiben: Ich. Bin. Ein. Mann!«, unterbrach die männliche Person den Taxifahrer, der daraufhin nur aufstöhnte.
»Wie auch immer … ich habe meine Einstellung und sie Ihre. Was meinen Sie denn dazu?« Der Fahrer blickte kurz von der Fahrbahn zu Ralf, bevor er sich wieder auf den Straßenverkehr konzentrierte.
»Ähm … nun … also ich denke, wenn sich jemand als Mann fühlt und auch so behandelt werden möchte, sollte doch das Erscheinungsbild anders sein, nicht? Ich bin da jetzt überfragt …«, erklärte Ralf und wandte seinen Kopf zur Rückbank herum, »Aber männlich sehen sie nun wirklich nicht aus. Wie sollen das andere wissen, dass Sie als Mann angesehen werden möchten?«
Es schallte ein genervtes Stöhnen durch den Wagen, als der Mann mit den blauen Strähnen aufblickte und in seiner Tätigkeit innehielt. »Leute … ich kann sprechen. Ich bin eben kein typisch aussehender Mann, wozu auch? Wem es nicht passt, der soll mich in Ruhe lassen. Reicht das jetzt? Oder muss ich erst noch weiter ausholen?« Abwartend wurde eine der gezupften Augenbraue gehoben.
»Ich brauch’ keine Erklärung. Wenn man als Mann oder Frau geboren wurde, dann hat man sich auch so zu verhalten und auszusehen. Punkt«, grätschte der Ältere dazwischen und bremste den Wagen vor einer Ampel ab, so, dass der Wagen abrupt zu stehen kam und die Fahrgäste in ihren Sitzen kurz den Halt verloren.
»Wie fahren sie überhaupt? Jetzt ist mir mein Handy runtergefallen.« Mit angesäuertem Gesichtsausdruck beugte sich das Mädchen alias Mann vor und fingerte das Mobilgerät vom Boden.
»Lass’ das mal meine Sorge sein, Mädchen«, erwiderte der bebrillte Wagenlenker und sorgte mit dem letzten Wort – das er absichtlich betonte – dafür, dass die Stimmung sich zuspitzte. Das war nicht nur Ralf aufgefallen, denn sogleich begann weiteres Gekeife von der Rückbank aus.
»Mann! Mein Gott, das ist doch nicht so schwer. Jeder, der mich kennt, weiß was ich bin.«
»Können wir jetzt bitte die Diskussion wieder einstellen? Ich habe noch eine anstrengende Zugreise vor mir.«
Und erstaunlicherweise brummten beide zustimmend.
-
Ralf und der weitere Fahrgast waren bereits ausgestiegen und sahen dem wegfahrendem Taxi einen Moment lang hinterher.
»Was ’n Penner«, motzte ungehalten der selbsternannte Mann und griff mit der einen Hand nach seinem Trolley, während er mit der anderen noch immer das Telefon malträtierte.
»Nun, es ist jetzt vorbei.«
Er selbst war nicht gläubig gewesen, aber in diesem Moment dankte allen Göttern im Himmel.
Ralf war schon in Begriff zu Gehen, als sein Gegenüber noch einmal moserte.
»Scheiße! Ich bin weg vom Fenster.« Mit weit aufgerissen Augen starrte die Person mit den blauen Strähnen auf das Mobilgerät.
»Wie Bitte?« Ralf drehte sich noch einmal zu der Person um.
»Na weck. W- E- C- K. Egal, galt nicht Ihnen. Ich bin in einem LGBT-Forum unterwegs, aber irgendwie komme ich nicht mehr auf die Plattform. Ich leiste Aufklärungsarbeit und unterstütze Gleichgesinnte. Und das, was sie eben im Auto erlebt haben, erlebe ich tagtäglich mit anderen virtuellen Menschen. Ich ecke damit oft an, das weiß ich, aber ich lasse mir von niemanden einen Maulkorb verpassen, bloß weil ich so bin, wie ich bin. Verstehen Sie?«
»Ähm … ein bisschen.«
»Ich kann es ihnen gerne näher erklären, also …«
»Nein, nein, schon gut. Ich muss auch zu meinem Zug.«
»Dann ’ne gute Reise«
»Danke, Ihnen auch.«
Mit diesen Worten machte Ralf kehrt steuerte die Treppe neben dem Hinweisschild mit der Aufschrift "Gleis 4" an.
Das war ja eine aufgedrehte Person, sinnierte er, während er die Treppen zum Bahnsteig hinaufstieg.
Gut nur, dass er sich nicht weiter in die hitzige Diskussion eingemischt hatte, andernfalls wäre die Taxifahrt erheblich ungemütlicher geworden. Solche Fahrer sollten definitiv nicht mehr eingesetzt werden und dafür würde er sorgen. Gleich, wenn er im Wellnesshotel angekommen sein würde, wäre sein erster Griff zum Telefon.