CN: Missbrauch, SVV, Selbstmordgedanken
»Hast du mich verstanden?«, fraß sich die grollende Stimme in meinen Verstand.
Ich versuchte zu nicken, schaffte es jedoch nicht.
»Ich hab gefragt, ob du mich verstanden hast?«
Ruckartig wurde mein Kopf nach oben gerissen, Luft durchflutete meine Lungen. Gierig saugte ich sie auf, während sich ein verzweifelter Schmerzensschrei den Weg aus meiner Kehle bahnte. Noch bevor er ganz heraus war, wurde mein Gesicht zurück ins Kissen gedrückt. Zu gern hätte ich dem Mann geantwortet, der auf mir hockte, immer wieder schmerzhaft in mich stieß und mich dabei anschrie.
Ich wollte ihn fragen, was los war, ihm sagen, dass er mir wehtat, ihn anflehen aufzuhören! Doch das Kissen, in welches er mich unerbittlich drückte, schluckte jeden Laut, hinderte die Luft daran, in meine Lungen zu dringen. Meine Tränen hatten es mittlerweile völlig durchnässt.
Immer wieder schrie er mich an, verfluchte mich. Ich konnte kaum noch verstehen, was er sagte. Meine Sinne schwanden und seine Stimme war vor Wut völlig verzehrt. Nur meinen Namen, den konnte ich immer wieder ausmachen. Immer wieder stieß er ihn voll Verachtung aus. »Isaac. Miststück.«
Je länger es ging, desto wütender wurde er, griff brutaler zu, drückte meinen Körper tiefer in die Matratze unter mir. Zuerst hatte mich die Überraschung gelähmt, nun lähmte mich die Angst, hinderte mich an jeder Art von Widerstand.
Immer seltener hob er meinen Kopf, ließ mir kaum noch Luft zum Atmen. Verzweifelt versuchte ich, doch irgendwie Luft in die Lungen zu ziehen. Mein Brustkorb hob und senkte sich vergeblich. Die Panik löste die Starre und ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien, doch er verstärkte ihn nur noch. Der Schmerzensschrei entließ auch die letzte verbleibende Luft aus meinen Lungen. Er verhalte ungehört im Kissen.
Meine Lungen schmerzten. Langsam überkam mich die Erkenntnis: Ich würde ersticken. Und ich hatte es verdient. Ich war ein widerliches, verlogenes Miststück. Die Tränen versiegten. Gleich, gleich war es so weit. Ich hatte es verdient ...
Panisch sog ich die Luft in meine Lungen und schlug die Augen auf. Mein Atem ging schnell und unkontrolliert. Ich hatte das Gefühl, meine Lungen würden durch den plötzlichen Lufteinfall bersten. Ich musste mich aufsetzen. Raus aus dem Bett!
Eine Weile saß ich auf der Bettkante, das Gesicht in den Händen vergraben, brachte meinen Atem unter Kontrolle und versuchte, meinem Körper klarzumachen, dass alles gut war, dass genug Luft vorhanden war und er sie auch durch normales Atmen aufnehmen konnte.
Nur langsam beruhigte ich mich, kam ins Hier und Jetzt zurück. Als ich wieder vollständig in dem kleinen, dunklen Schlafzimmer angekommen war, suchte ich es mit den Blicken nach meinem Mitbewohner ab. Er lag mit dem Rücken zu mir, atmete gleichmäßig und ruhig im Schlaf. Gut, ich hatte ihn nicht geweckt.
Vorsichtig erhob ich mich, was das Bettgestell mit einem leisen Protest quittierte.
Die andere Gestalt drehte sich etwas herum und murmelte verschlafen: »Wo willst du hin?«
»Nur kurz unter die Dusche. Sorry, ich wollte dich nicht wecken«, entschuldigte ich mich leise. Ich musste ganz dringend aus den verschwitzten Klamotten raus und mich waschen.
Der Rotschopf grummelte etwas und drehte sich noch weiter in meine Richtung. Noch immer halb im Schlaf fragte er: »Muss ich mitkommen?«
»Nein, ich komm alleine klar.« Jedes Mal dasselbe! Ich war doch kein kleines Kind, das man ständig überwachen musste.
»Gut. Ich geb dir zehn Minuten, sonst komm ich rein. Wehe, du schließt ab!« Mit diesen Worten drehte er mir wieder den Rücken zu.
Ich seufzte und verließ leise das Zimmer in Richtung Bad. Ich wusste nur zu gut, dass er es ernst meinte.
Im Bad angekommen, zog ich mich aus, stieg in die Dusche und drehte das warme Wasser bis zum Anschlag auf. Ich wollte einfach nur die Wärme auf meinem Körper spüren, den Traum damit fortspülen. Am liebsten hätte ich ihn aus meinen Körper gebrannt. Doch ich wusste, dass es hoffnungslos war. Er würde wiederkommen.
Er war immer zurückgekommen. Egal was ich versucht hatte. Er war nicht gegangen, als ich versucht hatte ihn in Alkohol zu ertränken, er hatte sich nicht herausprügeln und nicht herausschneiden lassen. Auch noch fast drei Jahre später verfolgte er mich, erinnerte mich daran, wie naiv ich gewesen war. Dabei war es nur ein Traum von vielen. Mittlerweile hatte ich einsehen müssen, dass mir nichts blieb, als mit ihnen zu leben.
Tatsächlich kam niemand ins Bad, obwohl ich fast eine halbe Stunde dort verbrachte. Als ich wieder ins Schlafzimmer kam, schlief Lance tief und fest. Ich überlegte kurz, ob ich mein Bett neu beziehen sollte, entschied mich aber dagegen. Ich wollte schlafen und hoffen, dass ich für den Rest der Nacht von den Albträumen verschont blieb. Nur noch ein paar Stunden das süße Vergessen genießen, das der Schlaf eigentlich versprach.
Zum Glück blieb die restliche Nacht tatsächlich traumlos. Ich erwachte am nächsten Morgen, weil jemand meine Decke anhob. Verschlafen öffnete ich die Augen. Sofort sah ich Lance’ roten Haarschopf vor meinem Gesicht. Er hatte sich vor mein Bett gehockt und griff unter die Decke nach meinen Händen. Ich zog sie weg und fuhr ihn giftig an: »Verpiss dich!«
»Ich will deine Arme sehen!« Erneut versuchte er, nach mir zu greifen, doch ich wand mich weg.
»Boah, nerv nicht!« Völlig entnervt setzte ich mich auf und hielt ihm meine Arme vors Gesicht. Er sollte mich nicht wegen so einem Scheiß wecken! Ich hätte sicher noch etwas schlafen können. »Hier! Da ist nichts!«
Nach einem kurzen Blick nickte er zufrieden und stand auf, während ich mich in mein Bett zurück kuschelte. Dennoch konnte ich mir einen Kommentar nicht verkneifen: »Du weißt schon, dass das nicht die einzige Möglichkeit ist, oder?«
Entsetzte starrte er mich an. »Hast du ...? Scheiße, Isaac, du sollst den Mist lassen!«
»Nein, hab ich nicht! Jetzt lass mich schlafen, ich hab erst um zehn die erste Vorlesung.« Nach einem letzten bösen Blick drehte ich ihm mit einem Ruck den Rücken zu. Ich konnte gerade noch aus den Augenwinkeln sehen, dass er den Kopf schüttelte, bevor er den Raum verließ.
Er wusste ganz genau, dass er mich mit dem Scheiß nicht nerven sollte! Das damals war eine scheiß Idee gewesen und mittlerweile schon fast ein dreiviertel Jahr her. Ich hatte ja nicht mal den Mut aufgebracht, tief genug zu schneiden, dass Narben blieben. Gut, dass er von den anderen Versuchen, meine Träume loszuwerden, nichts mitbekommen hatte. Sonst hätte er mich vermutlich gar nicht mehr aus den Augen gelassen.
Mir war bewusst, dass er sich einfach nur Sorgen um mich machte, dafür war ich meinem besten Freund auch dankbar. Aber er sollte mich nicht ständig bemuttern!
Das änderte nämlich gar nichts an der Situation, ich würde mit den Entscheidungen, die ich getroffen hatte, leben müssen. Für etwas anderes hatte ich ja sowieso nicht den Mut.
»Einen Schwur auf die Reinheit der Liebe spricht
Die Zunge des Scharlatan; und dennoch,
Das Rechte nicht mit Lügen sticht.
So heiße ich Euch frei willkommen!
Habt teil an meinem Tanz,
Das Drama hat begonnen!
Den Schmerz, den mir die Nacht bescherte,
Benutze ich als Leiter,
und immer höher, weiter,
Der Himmel neue Sicht gewährte!«
Samsas Traum – Der Prolog im Himmel