»Habt ihr Waschbären?«, fragte ich und legte mich leise murrend neben Toby zurück ins Bett.
Die letzten Wochen hatte ich immer dort geschlafen, wenn wir allein waren. Das lag nicht daran, dass ich glaubte, dass Roger etwas dagegen hatte. Ich hatte viel mehr das Gefühl, dass er mir aus dem Weg ging. Mittlerweile war er kaum noch da, wenn ich zu Besuch kam und wenn doch, warf er mir ständig diese Blicke zu, die ich nicht deuten konnte. Egal welche Deutung ich ihnen gab, es wollte einfach nicht passen. Nur dabei, dass sie nichts Positives bedeuteten, war ich mir sicher. Immerhin lächelte er mich jedes Mal sofort an, wenn er bemerkte, dass ich ihn ebenfalls ansah. Mehr als einmal war ihm dieses Lächeln jedoch missglückt. Da wollte ich nicht auch noch stören, indem ich bei ihnen im Bett schlief.
Toby schien noch genauso müde wie ich, obwohl sicher schon Mittag war. Er war am Abend zu einem unserer Konzerte gekommen und dann gemeinsam mit Lance und mir bei der Aftershow-Party geblieben, bis die erste Bahn nach Medford gefahren war. Roger hatte leider nicht kommen können, weil er heute wieder arbeiten musste, aber ihn störte es vermutlich auch gar nicht. Er hatte zumindest nicht traurig geklungen, als er das verkündete.
Toby öffnete nach einer Weile doch die Augen und richtete sich auf. Kurz schien er zu lauschen.
Da, schon wieder dieses leise Scharren!
Er lachte leise, dann stockte er. »Oh Gott, wie spät haben wir es denn schon?« Er blickte auf den Wecker, beantwortete sich die Frage damit selbst, und ließ sich dann stöhnend zurückfallen. »Ich werd zu alt für so einen Scheiß.«
»Natürlich, alter Mann.« Neckisch schmiegte ich mich an seine nackte Brust und streichelte sanft darüber.
Ich hatte mit meiner Vermutung wirklich recht behalten. Solange es in einem harmlosen Rahmen blieb, war es kein Problem, Toby anzufassen, und ich genoss es, so oft es ging. Daran, ihn auch in weniger jugendfreien Situationen zu berühren, arbeiteten wir. Im Moment hatte ich dann noch immer diese Stimme im Kopf, die mich sofort zur Ordnung rief, mich daran erinnerte, dass ich keinen anderen Mann anzufassen hatte. Doch sie wurde mit jedem Mal leiser. Ich konnte nicht vergessen, was geschehen war, aber ich konnte mit Tobys Hilfe lernen, es in den Hintergrund zu rücken. Dabei war ich mir sicher.
Ich hoffte nur, dass ich es dann auch auf andere Männer würde übertragen können. Denn im Moment konnte ich das noch nicht. Noch immer wurde ich nervös, wenn ich im nüchternen Zustand mit ihnen redete, und anfassen durften sie mich erst recht nicht.
Als es wieder ruhig im Zimmer wurde und Toby mir über den Rücken streichelte, vernahm ich erneut die undefinierbaren Geräusche. »Was zur Hölle ist das?«
»Roger ist schon wieder von der Arbeit zurück und hat sich wohl Gesellschaft mitgebracht.«
Bildete ich mir das ein? Toby klang gezwungen neutral. Das machte mir etwas Angst.
Doch nachdem er es erwähnt hatte, konnte ich in den Geräuschen auch einen gewissen Rhythmus ausmachen. Oh Gott, ich hatte nicht damit gerechnet, dass man so gut hören konnte, was in der Wohnung oben vor sich ging.
Ich sah in Tobys Gesicht und konnte auch dort keine Gefühlsregung ausmachen. Wobei, doch ein klein wenig Ärger war darin.
Ich fragte mich, worüber er sich ärgerte. Doch ich war mir sicher, er wollte nicht darüber sprechen. Also kuschelte ich mich weiter an ihn, zog mit den Fingern Kreise auf seiner Brust und fragte: »Wie spät ist es denn?«
»Schon fast halb drei. Ernsthaft, so lange wach bleiben ist einfach nichts mehr für mich.« Er schien sich etwas zu entspannen und drückte mich fester an sich.
»Na ja, dafür hast du ja mich, um dich wach zu machen«, bemerkte ich neckisch und strich ihm über den Bauch.
Automatisch zog er ihn ein und murrte etwas. Offenbar kitzelte es. Das war nur noch mehr Grund, es erneut zu tun.
»Hörst du auf, du Frechdachs!« Lachend griff er nach meiner Hand, zog leicht daran, bis ich nachkommen musste und halb auf ihm lag. »Du wirst grad ganz schön mutig für so einen kleinen Mann.«
»Tse, als hättest du eine Ahnung, wie frech ich wirklich sein kann.«
»Nein, leider nicht. Aber ich hoffe, es irgendwann zu erfahren. Ich mag es, wenn du frech bist und nicht so verschreckt.« Seufzend ließ er seinen Kopf gegen meinen sinken, während ich versuchte, es mir bequem zu machen, ohne dass mein Penis ihn berührte oder ich seinen.
Es war albern, er war vermutlich noch nicht einmal hart, genauso wenig wie ich, dennoch hatte sich diese Tabuzone so sehr eingebrannt, dass Berührungen einfach nicht möglich waren. Sofort war mein Hals wie zugeschnürt und ich konnte nur noch mit Mühe atmen. Aber das würde werden, da war ich sicher. Immerhin waren auch leichte Berührungen am Steißbein oder in der Nähe des Hosenbundes schon wieder in Ordnung. Meistens zumindest. Wenn ich einen schlechten Tag hatte, durfte Toby mich überhaupt nicht anfassen. Aber diese wurden seltener. Dennoch fragte Toby bei den meisten Berührungen noch immer nach, da ich nicht jeden Tag alles gleich gut vertrug. So konnte er sich den einen Tag problemlos auf meine Beine setzen, während ich nackt bis auf die Unterhose auf dem Bett oder der Couch lag, und mir sowohl den Rücken als auch die Beine massieren, an anderen bekam ich schon Angst, wenn er mich nur mit leicht rauer Stimme darum bat, die Hose auszuziehen.
Ich verstand immer mehr, was ich eigentlich von ihm verlangte und war mittlerweile auch nicht mehr böse, wenn er danach einfach aufstand und zu Roger ging. Ein paar Mal hatte ich auch meine Neugier nicht zügeln können. Dann war ich zu ihnen gegangen und hatte mir das aus sicherer Entfernung angesehen.
Einmal war Roger auch ins Schlafzimmer gekommen, als Toby gerade noch dabei war, mich zu massieren. Vor Schreck war ich zügig ins Bad geflüchtet und duschen gegangen. Ich hatte plötzlich wahnsinnige Angst gehabt, dass Roger sich daran stören könnte, dass meine Erregung nicht nur sehr offensichtlich zu sehen, sondern auch zu hören war. Doch das schien nicht der Fall. Während ich unter der Dusche gestand, hatte ich deutlich gehört, was im Schlafzimmer geschah. Und das war eindeutig kein Streit gewesen. Zuerst hatte ich versucht, die Geräusche auszublenden, war jedoch gescheitert. Dann hatte ich mich einfach gegen die Wand gelehnt und war mit meinen Händen und Gedanken den Lauten gefolgt. Ich wusste, dass, selbst wenn sie je erfahren hätten, was ich getan hatte, sie mich niemals dafür verurteilt hätten. Es war das erste Mal seit langem, dass mir der Gedanke an einen – nein, zwei! – Männer keine Angst machte. Ich hatte mich einfach dem Gefühl hingegeben, dass ich dafür verantwortlich war und sie sicher kein Problem damit hätten, wenn ich ebenfalls dabei wäre.
Die Geräusche von oben waren lauter geworden und dann und wann mischte sich ein lustvoller Laut unter das Schaben. Entweder wusste wer auch immer nicht, wie laut es hier unten war, oder es war ihm egal.
Toby murrte leise und schob mich dann etwas von sich. »Lass uns aufstehen. Du kannst gern wieder vorgehen.«
Auch wenn ich gern noch liegengeblieben wäre, ich merkte, dass er gerade keinen Widerstand duldete. So liebevoll er sich mir gegenüber auch zeigte, er blieb noch immer der dominante Kerl von früher und in solchen Situationen zeigte er das auch. Dennoch fragte ich mich, warum er mich vorschickte. Sonst war ich mir sicher, dass er es tat, um entweder Roger zu verführen oder sich einen runterzuholen, doch ein kurzer, verstohlener Blick bestätigte meinen Verdacht, dass ihn das bisschen Kuscheln nicht im Geringsten erregt hatte. Daher vermutete ich, dass es reine Gewohnheit war.
Nach dem Duschen deckte ich den Tisch. Toby hatte wie immer, während ich duschen war, schon ein wenig was vorbereitet, doch mittlerweile wollte ich nicht mehr nur ihm die Arbeit überlassen und übernahm wenigstens das Tischdecken. Kochen konnte ich immer noch nicht, daher war es mir nur recht, wenn das jemand anders tat. Da das Wetter schön war, entschied ich, dass wir draußen essen würden.
Ich versuchte gerade, herauszufinden, ob wir alles Nötige hatten, da zog eine Gestalt am Gartentor meine Aufmerksamkeit auf sich. Doch sie stand nicht nur da, sie drückte auch die Klinke herunter und kam herein. Was zur Hölle tat er hier?
Während er sich eine Zigarette ansteckte und zur Terrasse lief, fiel sein Blick auf mich. Er stockte kurz, kam dann aber doch auf mich zu. »Hey Maikäfer.«
Noch immer verwirrt sah ich ihn an. Erst nach einer Weile gelang es mir, seinen Gruß zu erwidern. »Hey.«
»Ich hätte dich nicht hier erwartet. Aber ich nehme an, ich kann daher davon ausgehen, dass es dir wieder besser geht?« Er setzte sich auf einen der Stühle und betrachtete mich neugierig.
Ich zuckte nur unbestimmt mit den Schultern und setzte mich ans andere Ende des Tisches. »Was tust du hier?«
»Wonach sieht es denn aus?« Obwohl er eher grob klang, legte sich doch ein leichter, roter Schimmer auf seine Nase.
Oh, na das war auch selten. Bisher hatte ich ihn nur ein einziges Mal verlegen gesehen. Damals, als ich nach der Trennung für eine Weile bei ihm untergekommen war und ihn zu seinem Verhältnis zu anderen Männern ausgefragt hatte. Natürlich hatte ich keine zufriedenstellende Antwort erhalten, lediglich ein bestätigendes Schulterzucken bei der Frage, ob es stimmte, dass er sich nicht verlieben konnte. Zu dem Zeitpunkt konnte ich mir noch nicht vorstellen, wie man solche Probleme mit seiner Sexualität haben konnte. Die Wunden waren zu frisch, um etwas von den Konsequenzen zu spüren. Mittlerweile konnte ich nur allzu gut nachvollziehen, warum man seine Sexualität auch vor sich selbst verleugnete und versuchte, ihr zu entkommen. Plötzlich hatte ich Mitleid mit dem Mann vor mir, der zwar die körperliche Komponente seiner Sexualität akzeptieren konnte, dem jedoch offenbar der emotionale Zugang verwehrt war. Was musste er erlebt haben?
Ganz automatisch ging ich im Kopf durch, was ich von ihm wusste. Sein Bruder hatte gesagt, dass es daran lag, dass er so erzogen worden war. Doch das konnte ich mir nicht vorstellen. Er war immerhin nicht der Einzige, dem man das notfalls eben mit Gewalt eingeprügelt hatte. Dennoch kannte ich niemanden, der so stark darin gefangen war. Es musste noch mehr Gründe geben.
Dann fiel mir etwas ein, was er einmal gesagt hatte. Nicht zu mir, eher zu sich selbst. Ich hatte dem damals keine Bedeutung beigemessen, war viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Doch nun fiel es mir wieder ein. Ich schluckte schwer und sah auf.
Lange betrachtete ich ihn. Er saß einfach nur da, rauchte seine Zigarette und blies den Rauch in die Luft. Konnte das wirklich sein?
»Mat, kann ich dich etwas fragen?« Ich stellte die Frage ganz langsam und vorsichtig. Ich hatte Angst, den Gedanken, der sich formte, auszusprechen.
Er sah zu mir, als hätte er völlig vergessen, dass ich da war. »Hmm? Von mir aus. Nur erwarte keine Antwort.«
Ich nickte. Das war in Ordnung. Vielleicht konnte ich an seiner Reaktion etwas ausmachen. Oh Gott, dieser Gedanke war so grausam! »Was hast du damals gemeint, als wir das Haus verlassen haben? Du hast da etwas gemurmelt.«
»Wann meinst du?« Verwirrt sah er mich an. »Welches Haus? Meinst du letztes Jahr?«
»Nein. Ich meine, damals, als du ... Du hast mich aus dem Haus geholt. Bei ... Peter.« Nur sehr langsam und stockend kam mir der Name über die Lippen. Wie lange hatte ich ihn schon nicht mehr ausgesprochen, ihn nicht aussprechen können? War es ein gutes Zeichen, dass ich es nun konnte und dabei nur eine starke Übelkeit verspürte, mich aber nicht übergeben musste? »Du hast da etwas gemurmelt, als wir in den Hof kamen.«
Mat zuckte zusammen. Einen Moment schien er fassungslos. »Du hast das gehört?!«
Noch während ich nickte, schien er sich wieder zu fassen. Zügig nahm er einen Zug von seiner Zigarette. »Vergiss es einfach, das war nur so dahergesagt.«
»Nein, das glaub ich nicht. Du bist zusammengezuckt, als ich dich gerade gefragt hab.« Ich sah ihn fest an. Mit so einer Antwort würde ich mich garantiert nicht abspeisen lassen.
»Glaub doch, was du willst.« Etwas zu kräftig, als dass alles in Ordnung sein könnte, drückte er seine noch nicht einmal fertig gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. Zügig stand er auf und verließ die Terrasse. Kurz bevor er auf den Rasen trat, drehte er sich noch einmal um. Sein Blick wirkte gehetzt. »Vergiss es einfach. Mach dir darüber keine Gedanken, es geht dich nichts an.«
Meine Antwort erstarb auf den Lippen. Er hätte es sowieso nicht mehr gehört, so schnell war er weg.
Vielleicht hatte er recht, vielleicht ging es mich nichts an. Dennoch war da dieser furchtbare Verdacht, den ich so schnell sicher nicht wieder loswerden würde.
Ich seufzte und lehnte mich im Stuhl zurück.