Tatsächlich kam Toby zur nächsten und auch zur übernächsten Party. Ich gewöhnte mich langsam daran, wieder mit ihm zu sprechen und zu flirten, und achtete immer weniger darauf, wie genau er mich ansah oder ob er mich gleich berühren könnte. Es fühlte sich zwar ab und zu merkwürdig an, wenn er mir kurz über den Arm strich oder mir durch die Haare wuschelte, aber nie so schlimm, dass ich das Gefühl hatte, ich müsste seinen Berührungen ausweichen. Nur manchmal, da meldete sich ganz leicht die Angst, doch ich konnte sie ignorieren, mich nicht von ihr leiten lassen und langsam verschwand sie. Lediglich einmal war es mir zu viel geworden, doch Toby hatte sich dann von sich aus zurückgezogen, als er es bemerkte.
Doch damit allein war es nicht getan. Während ich nach und nach die Angst vor dem Anfassen verlor, kam auch die Lust nach mehr zurück. Ich wollte nicht nur flirten und ein paar unschuldige Berührungen, ich wollte mich ihm wieder ganz hingeben. Ohne dabei unter Alkoholeinfluss zu stehen. Und am besten nicht nur ihm. Aber ich wusste, dass das Zukunftsmusik war. Nur, weil ich Tobys Berührungen aushielt, hieß es nicht, dass es auch bei anderen Männern so war. Ich hatte es an einem Abend versucht, doch schnell bemerkt, dass mich die Angst dort direkt übermannte. Also musste es vorerst bei ihm bleiben. Vielleicht half es ja, wenn ich ihm wieder ganz vertrauen konnte. Ich war mir sicher, dass er nichts dagegen hätte, das Versuchskaninchen zu spielen. So offensiv wie er zum Teil flirtete, war es kein Geheimnis, dass er noch immer mehr wollte.
Bei Tobys dritten Besuch beschloss ich, dass es Zeit wurde, weiter zu gehen. Mit ein bisschen Körperkontakt war es nicht getan und in dem Tempo würden wir Jahre brauchen. Doch ich hatte schon eine Idee, wie ich das hinbekam, ohne mich zu überfordern. Hoffte ich zumindest.
Also legte ich ein paar Lieder in die Schleife und lief möglichst lässig zu ihm. Dass ich einen gut überlegten Plan hatte, hieß nicht, dass ich nicht nervös war. Doch während ich mich ihm näherte, sah ich, dass er sich mit einem anderen Mann unterhielt, und zögerte. Durfte ich jetzt einfach zu ihm? Er schien sich gut zu unterhalten. Was war, wenn ich ihm damit eine Möglichkeit für den Abend versaute? Immerhin war ich noch lange nicht so weit.
Doch da sah Toby zu mir und lächelte mich einladend an.
Noch immer vorsichtig näherte ich mich ihm und umarmte ihn zur Begrüßung. Schon beim letzten Mal hatte er bei der Verabschiedung darauf gewartet, dass ich das von mir aus tat. Das war in Ordnung, ich wusste, dass er nur wollte, dass ich das selbst entschied. Ich lächelte ihn an. »Hey. Noch mal alles Gute nachträglich.«
»Hallo Kleiner. Danke dir.« Er drückte mich fester an sich, dann ließ er mich los. Sein Lächeln sagte mir eindeutig, dass ich mir die Freude bei seiner Antwort auf meine Geburtstags-SMS nicht nur eingebildet hatte. Er freute sich wirklich, dass ich nach all den Jahren noch daran gedacht hatte.
Wir drehten uns zur Bar herum und wie immer lud Toby mich zum ersten Drink des Abends ein. Ich freute mich, dass er es einfach tat, ohne mir dabei das Gefühl zu geben, ich könnte es nicht allein. Es war lediglich seine Art zu zeigen, dass er gern Zeit mit mir verbrachte.
Während wir uns darüber unterhielten, was jeweils im letzten Monat passiert war, zog der andere Kerl weiter. Jedoch nicht, ohne mir einen bösen Blick zuzuwerfen.
»Hab ich dich gestört?«
»Was? Nein, der war nicht sonderlich interessant. Du hast mich sogar davor bewahrt, ihm eine Abfuhr erteilen zu müssen.« Toby wuschelte mir durchs Haar.
Auch wenn ich es nicht mochte, ertrug ich, dass er sich das mittlerweile wieder angewöhnt hatte. Ich hatte dann immer das Gefühl, für ihn noch immer ein Kind zu sein, da er und Roger damit angefangen hatten, nachdem sie herausgefunden hatten, dass ich noch minderjährig war.
Um mich nicht darüber aufzuregen, lächelte ich ihn an und brachte schnell mein Anliegen vor. Je länger ich wartete, desto wahrscheinlicher war es, dass mich der Mut verließ. »Ich schulde dir noch einen Tanz.«
Verwundert sah er mich an. »Was?«
»Willst du tanzen?«, fragte ich noch einmal, doch diesmal deutlich unsicherer. Wenn er es jetzt nicht verstand, würde ich nicht den Mut haben, erneut zu fragen.
Aufgeregt hielt ich den Atem an.
An diesem versprochenen Tanz hing ein ganzer Rattenschwanz an schlechten Erinnerungen. Genau genommen konnte man sagen, dass damit alles angefangen hatte. Nicht nur wegen dem, was an dem Abend passiert war, als ich das Versprechen gegeben hatte – denn mittlerweile war ich mir bewusst, dass schon das nie hätte passieren dürfen, doch ich war zu naiv gewesen, es zu bemerken – sondern auch wegen der Reaktion, die seiner Erinnerung an mich gefolgt war. Dabei hatte Toby mich doch nur necken wollen.
Doch ich wollte nicht mehr an diesen Tag denken. Es war vorbei, ich musste endlich von vorn anfangen. Daher wollte ich auch das Versprechen einlösen. Das konnte die Zeit zwar nicht ungeschehen machen, aber zumindest eine Brücke schlagen.
»Gerne.« Während ich mit meinen Gedanken gekämpft hatte, hatte Toby sich zu mir heruntergebeugt und raunte mir dieses eine Wort ins Ohr.
Erleichterung durchströmte meinen Körper. Ich hatte keine Ahnung, ob er sich an das Versprechen erinnerte, aber das war im Moment egal. Ich konnte es dennoch einlösen. Freudig lächelte ich zu ihm hinauf.
Toby lächelte zurück, drehte mich an den Schultern herum und schob mich sanft vor sich her auf die Tanzfläche.
Er versuchte beim Tanzen zum Glück gar nicht erst, mir näherzukommen. Wieder einmal schien er mir die Entscheidung zu überlassen, wie viel Nähe ich wollte. Früher hatte ich das gehasst, heute war ich froh darüber. Wir tanzten einfach als Freunde zusammen mit etwas Abstand, aber dennoch einander zugewandt. Immer wieder suchte er meinen Blick und lächelte mich an. Es macht unglaublichen Spaß.
Glücklich strahlte ich ihn an, als das Lied zu Ende war. Doch erstmal musste das reichen. Ich war immerhin nicht zum Spaß im Club. »Danke«, hauchte ich ihm ins Ohr, während ich ihn umarmte. »Ich muss leider wieder. Hast du irgendwelche Musikwünsche?«
»Hmm ... Elektronisches ist hier nicht so gern gesehen, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. Nein, leider nicht. Aaron sah das an den Donnerstagen nicht so gern.
Tobys Blick war anzusehen, dass er gleich etwas sagen würde, von dem er befürchtete, dass es mir nicht gefiel. »Mit dem anderen kenn ich mich nicht so aus ... Ich kenn da leider nur die Death Demons ...«
Ich zuckte mit den Schultern. Tatsächlich störte mich das nicht. Ich hatte kein Problem mit der Band, die anderen konnten immerhin nichts dafür. »Das Cash hat ein paar der Platten da, also kein Thema. Irgendwas Bestimmtes?«
Toby schien leicht überrascht über meine ruhige Reaktion. Doch dann fragte er: »Darfst du Gentleman at Night auflegen? Oder ist das zu explizit?«
Ich lachte. Eigentlich hätte ich mir denken müssen, dass er ausgerechnet dieses Lied kannte. Irgendwie passte es zu seiner direkten und offenen Art. »Kann ich machen. Die alte oder die neue Version?«
»Es gibt mehrere Versionen?«
Ich nickte und lächelte. »Ja, wir haben meiner Zeit das Lied neu aufgenommen.« Verdammt, ich war noch immer stolz darauf. Immerhin hatte mit dem Album unser Aufstieg begonnen.
Tobys Augenbrauen wanderten weiter nach oben. »Du hast Gentleman at Night neu eingesungen?«
»Ehm, ja?« Was war daran bitte so verwunderlich? Es war ein Lied wie jedes andere. Etwas expliziter als die meisten anderen, aber dennoch nichts Ungewöhnliches.
Toby begann laut zu lachen, was mich nur noch mehr aus dem Konzept brachte.
»Was ist daran so witzig?«
»Du hast keine Ahnung, wie das Lied entstanden ist, oder?«, antwortete er, nachdem er sich beruhigt hatte. Neugierig sah er zu mir herunter.
Ich schüttelte den Kopf, doch als er etwas sagen wollte, unterbrach ich ihn. Es lief bereits das letzte Lied der Schleife, ich musste zügig zurück. »Erzähl es mir später, ich muss wieder. Also die neue?«
Er nickte und ich lief breit grinsend zurück. Ich kam gerade noch rechtzeitig, um die Zeit, die ich zum Auswählen eines neuen Liedes brauchte, mit einer kurzen Ansage zu überbrücken. Mit etwas Glück würde keiner merken, dass ich gepennt hatte. Sobald der Player versorgt war, suchte ich im Bestand des Cash nach dem richtigen Album.
Ich selbst hatte nie etwas von den Demons dabei und spielte sie nur auf expliziten Wunsch. Ich fand, es wirkte immer seltsam, als DJ seine ›eigene‹ Musik aufzulegen. Dabei war es mir häufig nur recht, denn meistens hatte ich einen Teil der Rechte an den Liedern. Und besonders bei Gentleman at Night konnte ich mir die Schadenfreude nicht verkneifen. Als wir es neu arrangiert hatten, wurde ein großer Anteil daran mir zugeschrieben. Vermutlich waren die Freude darüber und die anfängliche Verliebtheit nicht gerade unschuldig daran. Daher bezog ich auch einen recht großen Teil der Tantiemen. Es war eine gewisse Genugtuung, wenn ich es spielen durfte.
Anfänglich hatte es mich verwundert, dass ich tatsächlich pünktlich und ohne Diskussionen mein Geld bekam und hatte geglaubt, dass Mat dafür sorgte. Doch mittlerweile war ich zu dem Schluss gekommen, dass sein Bruder hoffte, dadurch Kontakt zu mir halten zu können. Er konnte ja nicht wissen, dass ich mittlerweile nicht mehr auf den Verwendungszweck des Zahlungseingangs sah. Ich wollte nichts von dem wissen, was er glaubte, mir noch mitteilen zu müssen. Ich jedenfalls hatte ihm nichts mehr zu sagen.
Als ich die Wunschliste endlich so weit abgearbeitet hatte, dass ich das Lied spielen konnte, sah ich zu Toby. Er stand neben Lance an der Bar und lauschte mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ich freut mich, ihn so zu sehen. Auch wenn es vielleicht albern war, bildete ich mir dennoch ein, dass es meine Stimme war, die ihm eine solche Freude bereitete.
Leider vergaß ich in der nächsten Pause, dass er mir noch etwas dazu hatte erzählen wollen, da Aaron mich bis dahin mit ein paar Sonderwünschen auf Trab hielt. Offenbar lief der Absatz an dem Abend nicht so gut wie sonst, daher musste ich entsprechend ein wenig nachhelfen, indem ich ein paar Klassiker auflegte, die die Leute auf die Tanzfläche holten.
Als Toby sich gegen Zwölf verabschieden kam, fiel mir ein, dass ich ihn noch etwas anderes hatte fragen wollen. Schnell holte ich das nach: »Hast du Samstag schon was vor?«
»Ich bin gerade nicht sicher, ich glaub, das ist diese Woche unser gemeinsamer Tag. Warum?«, fragte Toby deutlich verwundert.
»Ich wollte zur Bi Visibility Day-Party ins Overload. Nur ... Ich war lange nicht mehr in so einem Club. Nüchtern, meine ich. Um es kurz zu machen: Ich würde mich besser fühlen, wenn jemand mitkommt«, erklärte ich etwas kleinlaut.
Auch wenn ich mich allein nicht traute, ich wollte da hin! Ich wollte mich endlich nicht mehr verstecken, weil ich Angst hatte, mich könnte ein Mann angraben. Aber ein reiner Schwulenclub wie das Rainbow war mir noch zu viel. Und eine Schwulen- und Lesbenbar war auch nicht viel besser. Natürlich gab es da auch mal bisexuelle Frauen, mit denen ich flirten konnte, aber die meisten standen eben nicht auf Männer. Da ich es aber noch gar nicht darauf anlegte, wirklich mit fremden Männern zu flirten, sondern mich nur mit dem Wissen, dass Männer im Raum waren, die auf mich stehen könnten, anfreunden wollte, war eine Veranstaltung, die sich hauptsächlich an Bisexuelle richtete, ideal. Aber allein war mir das zu unsicher. Wenn ich Angst bekam, wollte ich jemanden dort haben, dem ich vertraute. Und Lance hatte am Vortag abgesagt, weil er spontan arbeiten musste.
Toby schien noch nicht ganz überzeugt, daher schob ich hinterher: »Keine Sorge, es sind auch viele Freunde dort, ihr kennt das ja. Ihr werdet also sicher nicht die einzigen Schwulen dort sein.«
»Hmm. Ich rede mal mit Roger und sag dir spätestens Samstagmittag Bescheid. Ich kann das nicht allein entscheiden.«
Ich nickte, denn ich wusste, was es hieß, wenn er sagte, es sei ihr gemeinsamer Tag. Ich kannte das noch von früher. Wenigstens einen Tag in der Woche nahmen sich Toby und Roger für sich, um gemeinsam etwas zu unternehmen oder sich einen gemütlichen Tag zu Hause zu machen. Sie waren dann für ihre jeweiligen Lover nicht erreichbar. Mir war bewusst, dass es daher viel verlangt war, ihn darum zu bitten, an dem Tag etwas mit mir zu unternehmen. Andererseits nutzten sie den Tag auch öfter für einen Dreier. Daher wäre es auch nicht das erste Mal, dass ich diesen Tag mit ihnen verbrachte. Früher hätte er vermutlich gleich zugestimmt, aber ich konnte sein Zögern verstehen. Ich hatte in der letzten Zeit nur mit ihm zu tun gehabt und Roger nach dem Tag bei ihnen zu Hause nicht mehr getroffen. Es war also nicht wirklich klar, ob die Ausnahmeregelung noch immer bestand. Und ich wagte nicht, darauf zu hoffen, dass mir Roger ein zweites Mal Toby an diesem Tag auslieh, wie er es getan hatte, als wir uns damals zufällig vor dem Rainbow begegnet waren.
»Darf ich dich noch etwas fragen?« Toby wirkte vorsichtig, weshalb ich genauso vorsichtig nickte. Ich war mir sicher, was immer er wissen wollte, die Frage würde mir nicht gefallen. »Warum magst du nicht allein gehen? Hat es mit deinen ›Männerproblemen‹ zu tun, die Roger erwähnt hat?«
Kurz überlegte, ich einfach gar nicht zu antworten, die Frage zu ignorieren. Doch ich hatte gesagt, er durfte sie stellen, als sollte ich sie auch beantworten. Aber ich konnte ihm dabei nicht in die Augen sehen. Auf den Boden blickend nickte ich.
»Du magst aber nicht erzählen, was es damit auf sich hat?« Toby streckte seine Hand nach mir aus und fuhr mir damit seitlich durch die Haare. Er ließ sie liegen und zog mich leicht an sich, als ich den Kopf schüttelte. »Ist gut.« Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass Toby sich zu mir herunterbeugen wollte.
Nein!
Ich machte mich frei, indem ich einen Schritt zurücktrat. Ich wollte keinen Trost und schon gar keinen Mitleidskuss. Auch nicht auf die Stirn. Wenn er mir etwas Gutes tun wollte, dann sollte er dieses Thema lassen und mich nicht mehr danach fragen!
Ich wusste, dass das utopisch war und dass ich zwangsweise irgendwann mit ihm darüber reden musste. Er würde darauf bestehen, bevor wir weitergingen, dafür kannte ich ihn gut genug. Doch noch war ich nicht so weit, noch wollte ich das alles so weit wie möglich von mir wegschieben.
»Wenn es nicht klappt, sehen wir uns nächsten Monat wieder?«, lenkte ich das Thema um, wollte zurück in ungefährliche Gefilde.
»Ja, gern.« Aufmunternd lächelte Toby mich an. Noch immer war da etwas Mitleid in seinen Augen. Doch ich ignorierte es, wollte es nicht sehen.
»Dann bis zum nächsten Mal. Und danke nochmal für den Tanz«, verabschiedete ich mich ebenfalls mit einem Lächeln.
Toby schien einen Moment zu warten, bevor er erwiderte: »Gerne nächstes Mal wieder. Ich würde mich freuen.« Bevor er sich umdrehte, sah ich den verletzten Ausdruck in seinen Augen, weil ich ihn nicht umarmt hatte.
Kurz hatte ich ein schlechtes Gewissen und wollte ihm nach. Doch ich hielt inne. Nein, er war mir zu nahe gekommen, hatte eine Grenze überschritten, die ich noch nicht einreißen wollte. Ganz automatisch errichtete ich weitere Mauern. Hätte er mich auch nur einmal leicht berührt, hätte die Angst gewonnen und alles wäre umsonst. Also musste er mit etwas mehr Abstand leben.
Das Ende des aktuellen Liedes hinderte mich daran, mir weiter darüber Gedanken zu machen. In dem Moment war ich froh, dass ich hier immer einen Grund hatte, mich abzulenken. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, Toby noch nicht woanders zu treffen? Ich wusste es nicht, doch noch musste er überhaupt zusagen. Vielleicht hatte er nach eben auch keine Lust mehr.
»This is a song for all my dirty boys
This is a song for all the freaks
This is a song about the prime time floors
This is the time to be extreme«
Faderhead – TZDV