Das Klingeln meines Handys riss mich aus einem meiner unzähligen Albträume. Mürrisch aber auch erleichtert, griff ich danach. Doch im nächsten Moment entglitt es meinen zitternden Händen. Nein, nicht heute! Verdammt!
Ich ließ das Handy wo es war – sollte es doch klingeln so lange es wollte – und hastete ins Bad.
Konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Hatten sie niemand anderen, dem sie auf den Sack gehen konnten?
Knurrig stieg ich unter die Dusche. Eigentlich wusste ich, dass sie nichts dafür konnten, dennoch hatte ich keine Lust auf sie.
Als ich nach der Dusche wieder im Schlafzimmer stand, gab das Handy Ruhe. Gott sei Dank! Aber alles andere wäre auch unverschämt gewesen.
Ich suchte mir ein paar bequeme Klamotten und verzog mich dann ins Arbeitszimmer. Auch wenn ich mit meiner Laune vermutlich nichts hinbekam, wollte ich es wenigstens versuchen. Und ansonsten war es besser, meine Sachen, die ich für morgen brauchte, schon mal fertig zu machen, bevor mein Gehirn vollständig realisierte, welchen Tag wir hatten. Dann wäre ich dazu kaum noch in der Lage.
Warum hatte mir eigentlich niemand gesagt, dass auch der März einen fünften Donnerstag hatte? Verdammt, dann hätte ich doch nie Aarons Angebot angenommen! Doch bis ich das realisiert hatte, war es zu spät gewesen, um die Schicht zu tauschen, also musste ich das morgen irgendwie hinbekommen.
Während ich noch ein paar CDs in meinen Arbeitskoffer packte und nebenbei ein paar Phrasen auf einen Zettel auf dem Schreibtisch schrieb, die mir durch den Kopf gingen, klingelte es an der Tür. Ich nahm das Papier und schmiss es in den Papierkorb. Es war eh nichts Brauchbares dabei. Dann ging ich zur Tür und öffnete sie.
Ohne etwas zu sagen, ließ ich Lance ein. Er sah mich nur kurz an, als ich mich auf die Couch fallen ließ, und räumte dann einige Sachen aus der mitgebrachten Tasche auf den Couchtisch. »Oh, ist dieses Jahr mal ausnahmsweise wieder schlechte Laune dran? Super, da freu ich mich ja! Alles ist besser als ein heulendes und flennendes Nervenbündel.«
»Halt die Fresse!«
»Ich hab dich auch lieb. Hier, von Mum. Mit den üblichen Grüßen.« Er nahm eine Tupperdose vom Tisch, schmiss sie mir in den Schoß, da ich sie nicht entgegennehmen wollte, und schob dann meine Beine von der Couch, damit er sich neben mich setzen konnte. »Wie ich dich kenne, hast du heute noch nichts gegessen.«
»Grad erst aufgestanden«, murrte ich und öffnete die Dose. Verdammt, Kasey sollte doch nicht immer extra für mich kochen! Dennoch seufzte ich. Sie meinte es ja nur gut. Also rang ich mir dennoch ein »Danke« ab, während ich aufstand, um das Irish Stew in der Mikrowelle zu erwärmen.
»Ernsthaft, du hast bis jetzt geschlafen? Wir haben fast sieben. Hast du dich gestern Abend wieder volllaufen lassen?«
Ich zuckte mit den Schultern. War doch völlig egal, es interessierte eh keinen. Außerdem ließ sich der Tag so wenigstens ertragen. Wenn ich ihn einfach verschlief, war er schneller vorbei. Und so dicht konnte ich ja nicht gewesen sein, immerhin hatte ich nach Hause gefunden.
Als der Eintopf warm war, teilte ich ihn auf zwei Teller auf und hielt Lance einen davon hin. Er nahm ihn entgegen und öffnete eine zweite Dose, um das Soda-Brot herauszuholen. Ich schüttelte nur resignierend den Kopf. Kasey tat das jedes Mal. Jedes Jahr kochte sie für mich ein traditionelles Essen, weil sie wusste, dass ich es gern aß und hoffte, es würde mich aufmuntern. Und das jetzt schon seit mittlerweile elf Jahren. Ich wischte die Träne weg, die sich aus meinem Augenwinkel stehlen wollte, und setzte mich wieder.
Schweigend aßen wir, während ich versuchte, nicht daran zu denken, weshalb ich den Tag seit so langer Zeit mit Lance und seiner Familie verbrachte. Wobei ich dieses Jahr das erste Mal zu Hause blieb. Kasey und Emery waren ein wenig enttäuscht gewesen, hatten es aber verstanden. Sie wussten, dass ich lernen musste, allein damit klarzukommen.
Nach dem Essen ließen wir die Teller stehen. Wie ich schon befürchtet hatte, wandte sich Lance dann auch den anderen Dingen auf dem Tisch zu. Genervt stöhnte ich, als er nach einem kleinen, flachen Gegenstand griff, der in buntes Papier eingewickelt war. »Lass gut sein, ich schau mir das morgen an.«
»Vergiss es! Ich kenne dich, wenn ich dich nicht dazu zwinge, schaust du die nächsten zehn Jahre nicht rein. Jetzt hab dich nicht so und pack schon aus!« Er drückte mir das Geschenk in die Hand und lehnte sich zurück. »Außerdem will Nancy morgen sicher wissen, was du dazu gesagt hast.«
Wieder seufzte ich. Nancy war seine neue Freundin und meinte deshalb mit mir einen auf besten Freund machen zu müssen. Es mochte ja sein, dass sie ganz nett war, aber mich nervte sie meistens nur. Sie wollte immer überall dabei sein. Selbst für heute hatte sie sich ursprünglich selbst eingeladen und es hatte ziemlich Streit gegeben, als Lance ihr klar machte, dass er alleine gehen würde. Sie war das genaue Gegenteil von Janine: Laut und aufdringlich. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte es außer ihr vermutlich niemand anderen in Lance’ Leben gegeben. Dabei interessierte sie sich nicht einmal sonderlich dafür.
Wie man am Geschenk sah. Offenbar hatte sie keine Ahnung, welche Musik er hörte. Der Name der Band sagte mir überhaupt nichts, was hieß, dass sie nicht im Geringsten etwas mit unserer Musik zu tun hatte. Wenn ich dieses Gekrakel denn richtig entzifferte. »Äh, danke. Ich wollte schon immer eine CD von … The Black ... DahLia Mirdek?«
»Was?« Lachend nahm mir Lance die CD aus der Hand und versuchte ebenfalls zu erkennen, was da stand. »Ich glaub, das letzte Wort soll Murder heißen.«
»Ernsthaft, du meinst, dieses Gekritzel ergibt auch noch Sinn?« Ich schielte hinüber und stellte fest, dass die Chancen gar nicht so schlecht standen, dass er recht hatte. »Tatsächlich. Wenn ich nicht befürchten müsste, dass das genauso schrecklich klingt, wie es aussieht, würde ich ja sogar mal anhören.«
»Ach, sei doch kein Spielverderber. Lass uns wenigstens reinhören.« Mit diesen Worten stand er auf und lief ins Arbeitszimmer. Schon unterwegs öffnete er die Hülle und holte die CD heraus.
Eilig folgte ich ihm, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. »Vergiss es! Ich mach mir doch mit dem Scheiß nicht meine Boxen kaputt!«
Doch Lance war schneller und knallte mir die Tür vor der Nase zu. Da der Raum recht klein war, konnte er die CD einlegen und gleichzeitig die Tür zuhalten. Einen Moment später erschallten in der ganzen Wohnung verzerrte Gitarren aus den Lautsprechern. Dann wechselte Lance das Lied und es gesellte sich fast augenblicklich kaum verständliches Gekreische dazu.
»Alter, mach die Scheiße aus!«, rief ich durch die Tür.
Lance lachte, stellte aber die Musik aus. Noch immer lachend kam er aus dem Zimmer und drückte mir die CD in die Hand.
So wütend wie möglich sah ich ihn an. »Das wirst du mir büßen!«
Er wusste, dass es nur eine leere Drohung war, daher ging er gelassen zurück ins Wohnzimmer. Nachdem ich mich gesetzt hatte, meinte er dennoch: »Sorry, sie wollte unbedingt allein was aussuchen.«
»Schon gut, wenigstens weiß ich jemanden, der sich darüber freuen wird.«
»Ernsthaft?!« Er schien nicht zu glauben, dass sich jemand das freiwillig antat.
Ich ehrlich gesagt auch nicht, aber scheinbar hatten solche Bands ja wirklich Fans. »Jupp, June hört sowas.«
»Du willst mich verarschen!« Ungläubig sah er mich an.
Doch ich schüttelte den Kopf. Nein, das meinte ich ernst. »Wir reden aber schon von derselben June, oder? Blond, helles Blüschen, arbeitet für Toby?«
Unweigerlich musste ich über Lance’ Erstaunen lachen. »Ja, genau die June. Ich war auch überrascht, als sie mir das erzählt hat.«
»Wahnsinn ...« Noch immer ungläubig schüttelte er den Kopf. Dann grinste er. »Aber etwas Gutes hat der Mist: Er hat dich zum Lachen gebracht!«
Unwirsch murrte ich. Na wenn er das meinte ...
Während ich noch darüber grübelte, was wir anstellen sollten, damit ich nicht wieder auf schlechte Gedanken kam, klingelte Lance’ Handy. Er holte es hervor, sah auf das Display und nahm dann mit zusammengezogenen Augenbrauen das Gespräch an. »Hi, was gibt’s denn?«
Nachdem er einen Moment zugehört hatte, wanderte sein Blick zu mir. Böse sah er mich an, während er ins Telefon antwortete: »Macht euch keine Sorgen, ihm geht es gut. Er will nur gerade mit niemandem reden. ... Doch, ich bin gerade bei ihm. Aber das wäre keine gute Idee, er will es eh nicht hören. ... Ich glaube, das sollte er euch selbst sagen. ... Ja, danke, euch auch. Und hoffentlich habt ihr den auch wirklich.«
Lance legte auf, dann lag sein zorniger Blick sofort wieder auf mir. »Du hast Toby und Roger nicht gesagt, warum du heute nicht mit ihnen reden möchtest?«
»Nein, warum sollte ich?«, gab ich bockig zurück. Warum hätte ich ihnen das extra sagen sollen? Wenn ich nicht ans Telefon ging, war das doch wohl eindeutig.
»Weil sie sich verständlicherweise Sorgen machen, wenn sie den ganzen Tag versuchen, dich anzurufen, und du nicht drangehst.«
Genervt verdrehte ich die Augen. Sie sollten sich mal nicht so haben.
»Isaac, verstehst du denn nicht, wie sie sich fühlen, wenn sie versuchen, dich zu deinem Geburtstag anzurufen und du überhaupt nicht reagierst?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Und? Ich geh bei niemandem ran.«
»Das wissen sie aber nicht, wenn du es ihnen nicht sagst! Toby hat sich grad wirklich besorgt angehört.«
Tat er das nicht ständig? Gleichgültig verschränkte ich die Arme vor der Brust.
Lance stöhnte genervt, dann wurde sein Blick ruhiger. »Du solltest ihnen sagen, warum du niemanden sehen willst. Sie tun so viel für dich und haben es doch auch irgendwo verdient, es zu wissen, oder nicht?«
»Ich kann das nicht«, antwortete ich leise. Ich hatte doch selbst schon oft genug darüber nachgedacht, mit ihnen zu reden und es auch schon versucht, aber ich konnte nicht! Sonst hätte ich ihnen doch auch gesagt, dass ich nicht wollte, dass jemand anrief. Nur dann hätten sie gefragt, warum nicht, und die Antwort wollte ich ihnen nicht geben müssen.
»Warum nicht? Mir hast du es doch auch gesagt. Komm schon, was ist so schwer daran?«
Ich seufzte und senkte den Blick. »Dann fangen sie nur wieder an, dass ich mir Hilfe suchen soll. Aber wie soll ich es jemandem Wildfremden erzählen, wenn ich es nicht mal bei ihnen kann? Und was ist, wenn sie mich nicht mehr wollen deswegen?«
»Ach Mensch, glaubst du wirklich, sie würden das tun? Warum sollten sie? Du hast doch schon viel Schlimmeres gemacht und sie mögen dich immer noch. Na los, gib dir ’nen Ruck! Wenn du es heute nicht schaffst, wann dann? Oder willst du es ihnen nie sagen?«
Schnell schüttelte ich den Kopf. Nein, ich wollte ja, aber ...
»Dann hol dein Handy und ruf sie an.«
Erneut ein Kopfschütteln von mir und ein verständnisloser Blick von Lance. Ruhig erklärte ich ihm: »Ich will es ihnen nicht am Telefon sagen. Dann halten sie mich für feige.«
Lance konnte nicht verhindern, dass sich ein kurzes Grinsen auf seinem Gesicht zeigte, doch seine Antwort war wieder ruhig: »Dann frag sie, ob sie herkommen oder fahr zu ihnen. Wenn du willst, komm ich mit, falls sie blöd reagieren. Na los, geh schon, hol dein Handy.«
Langsam stand ich auf und ging ins Schlafzimmer. Als ich die Tür zumachte, dachte ich daran, dass ich auch einfach abschließen konnte und dann für den Rest des Abends meine Ruhe hatte. Kurzerhand setzte ich die Idee um. Mein Handy war offensichtlich ein wenig durch das Bett gewandert, es lag nicht mehr an der Stelle, an die ich es gelegt hatte. Doch für den Moment ignorierte ich es. Ich öffnete die Schublade meines Schrankes und holte einen kleinen, schwarzen Gegenstand hervor.
Während ich auf dem Bett saß, drehte ich ihn gedankenverloren in meinen Händen. Hatte ich wirklich vor fast einem Jahr noch geglaubt, es nicht mehr zu brauchen und wegwerfen zu können? Lächerlich! Immerhin brauchte ich es noch immer, um mich selbst daran zu erinnern, was ich nie wieder wollte. Und doch erinnerte es mich auch daran, was ich verloren hatte und hoffte, wiederzufinden.
Seufzend griff ich nach dem Handy und schrieb Toby eine SMS. Danach blieb ich einfach sitzen und wartete.