Immer wieder sah ich auf mein Handy, las dieselbe Nachricht immer und immer wieder und noch immer brachte sie mich zum Schmunzeln. ›Ich freu mich auf dich. Liebe Grüße, Roger.‹
Ich hatte sie bereits am Freitagnachmittag erhalten und sie war so typisch für ihn, dass sie mich alle Zweifel hatte vergessen lassen. Nein, es war gut, Toby auch mal woanders zu treffen, ich konnte mich nicht immer in meine Arbeit zurückziehen, wenn es unangenehm wurde, ich musste lernen, damit umzugehen. Ja, vielleicht wollte ich zu viel auf einmal, aber das würde ich schon sehen. Dann schaltete ich eben einen Gang zurück. Aber im Moment war das Tempo okay für mich.
Außerdem freute ich mich darauf, auch Roger mal wieder zu sehen. Dass ich ihn bisher nicht eingeladen hatte, lag daran, dass er mit der Musik im Cash nichts anfangen konnte. Aber im Overload würde er sich wohlfühlen, immerhin schienen die beiden öfter dorthin zu gehen.
Ich hatte den Club bis zu unserem Wiedersehen gar nicht gekannt und ihn dann zu Hause gegoogelt. Dabei war ich auch auf die Party zum Bi Visibility Day gestoßen. Zuerst hatte ich die Idee verworfen, doch mittlerweile war ich davon überzeugt. Es würde mir guttun. Und Toby saß, falls ich eine interessante Frau fand, nicht allein rum. Wenn die beiden dann vielleicht noch jemanden für die Nacht fanden, umso besser.
Doch noch wartete ich auf sie. Da wir keine Uhrzeit festgelegt hatten, hatten sie mir einfach geschrieben, als sie losfuhren. Ich hatte mich dann ebenfalls auf den Weg gemacht und wartete nun schon seit guten zehn Minuten gegenüber des Eingangs auf sie. Langsam wurde ich nervös. Nicht, weil ich Angst hatte, sie würden nicht mehr kommen, sondern weil ich so jede Menge Zeit hatte, über den Abend nachzudenken.
In meinem Kopf tauchten immer mehr Horrorszenarien auf. Was wäre, wenn mich einer ungefragt anfasste? Oder noch schlimmer: Mich antanzte! Ich würde ausflippen! Vermutlich war es am besten, ich ging direkt zur Ba...
Erleichtert atmete ich auf, als die beiden um die Ecke bogen. Endlich, sie waren da!
Beide lächelten mich schon von weitem freundlich an und kaum waren sie bei mir angekommen, schlang Roger seine Arme kräftig um mich. »Hallo Kleiner!«
Oh, verdammt, ich hatte völlig vergessen, dass er deutlich weniger zurückhaltend war als sein Freund. Hoffentlich würde das kein Problem werden. Im Moment überwog jedenfalls die Freude, ihn wiederzusehen, deshalb erwiderte ich die Umarmung und grüßte zurück: »Hi. Danke, dass ihr mitkommt.«
Toby sah mir in die Augen, schien nach der Bestätigung zu suchen, dass er mich wieder anfassen durfte, und als er sie fand, wuschelte er mir durch die Haare, obwohl sein Freund mich noch immer nicht losgelassen hatte. »Für dich doch immer.«
Kurz spürte ich, dass mir das zu viel wurde, mehr als zwei Hände auf mir waren nicht mehr zu kontrollieren, doch dann endete die Umarmung auch schon und ich konnte durchatmen. Erst danach legte ich kurz meine Arme um Toby, um auch ihn richtig zu begrüßen. Dennoch war ich froh, als Toby vorschlug, sich anzustellen. So konnte ich ein wenig Abstand zu ihnen gewinnen.
Als wir dann endlich den Club betraten, stellten wir fest, dass er schon recht gut besucht war. Scheinbar waren viele direkt nach den Kundgebungen hierhin gekommen. Ich verstand zwar nicht, warum es extra Kundgebungen für Bisexuelle brauchte, aber gut, wenn sie meinten, sollten sie ruhig machen, mich störte es nicht, solange mich keiner zwang, dahin zu gehen.
»Sag mal, Kleiner, bist du gewachsen?«, fragte Roger, nachdem wir uns einen Platz gesucht hatten, der ein wenig abseits des größten Trubels lag.
Verwundert sah ich ihn an. Was war das denn für eine Frage? Er musste doch sehen, dass ich noch immer genauso klein war wie früher. Zumindest im Vergleich zu ihnen. Das einzige, was noch ein klein wenig gewachsen war, waren meine Schultern. Sie waren zum Glück noch ein wenig breiter geworden, sodass ich nicht mehr ganz so schmal wirkte. Aber wirklich sichtbar war das auch nicht.
Je länger ich Roger ansah, desto mehr breitete sich das Grinsen in seinem Gesicht aus. Er wollte mich foppen! Gerade als mir die Erkenntnis kam, griff er über den Tisch und wuschelte mir durch die Haare. Dann schob er hinterher: »Deine Haare wirken so kurz. Oder hast du dir den Rest ans Kinn geklebt?«
Ich griff ebenfalls über den Tisch und boxte ihm gegen die Schulter: »Wichser! Kann ja nicht jeder, so wie du, mit einem Babypopo im Gesicht rumrennen.«
Toby, der uns bisher nur mit einem leichten Lächeln auf den Lippen beobachtet hatte, mischte sich ein: »Ich glaub, er meint, dieses kümmerliche Bärtchen würde ihn männlicher machen.«
»Hey!«, beschwerte ich mich. »Fall mir nicht in den Rücken!«
Beide lachten laut los, schenkten mir dann aber ein warmes Lächeln. Roger lehnte sich zu seinem Freund herüber und meinte: »Ich glaub, der Kleine will aufmucken.«
»Ich fürchte, wir müssen ihm mal wieder den Hintern versohlen«, bestätigte dieser. Kaum, dass ich mich versah, hatte er sich neben mich gesetzt, nach mir gegriffen und zog mich näher an sich, tat als wollte er mich übers Knie legen.
Lachend wehrte ich mich. Es war schön, wieder mit ihm ...
Nein, STOPP! Das war zu viel! Zu tief! Zu kräftig!
Panik stieg in mir auf, als sich mein Oberkörper tatsächlich seinen Oberschenkeln näherte.
Loslassen!
Mir verging das Lachen. Ein quietschender Laut verließ meinen Mund. Es war kein süßes, fröhliches Quietschen, wie Frauen es manchmal ausstießen, wenn man sie neckte. Es war panisch, viel zu hoch. Außerdem wurde es von heftigen Bewegungen meinerseits begleitet.
Die Hände sollten mich loslassen! Ich würde mein Gesicht in niemandes Schoß legen!
Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten sich die Hände von mir. Augenblicklich saß ich wieder kerzengerade und rutschte ein Stück an die Wand. Am liebsten hätte ich die andere Richtung genommen, wäre geflohen, doch Toby versperrte meinen Fluchtweg. Ein paar Mal atmete ich tief durch, bevor ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte. Dennoch wusste ich, dass mein Blick befangen wirken würde, wenn ich aufsah. Daher beschäftigte ich mich lieber mit meinem Glas.
Nach und nach wurde das Schweigen unangenehm. Verdammt, ich hätte wissen sollen, dass es eine schlechte Idee war, mit ihnen auf die Party zu gehen! Was hatte ich mir denn dabei gedacht? Ich schluckte, dann sah ich doch wieder auf. Irgendetwas musste ich sagen.
Erst als ich den Blick hob, bemerkte ich, dass Toby sich wieder neben seinen Freund gesetzt hatte. Dieser lächelte mich an, sobald sich unsere Augen trafen. Als wäre nichts passiert, fragte er: »Toby hat erzählt, du arbeitest im Moment in einem Club als DJ? Wolltest du nicht mal ein Weltstar werden?«
Vor Verwunderung, dass er einfach über das Geschehene hinwegging, brauchte ich einen paar Atemzüge, bevor ich ihm unsicher antworten konnte: »Daraus wird wohl nichts mehr.«
»Hey, warum so pessimistisch?« Toby ließ seine Hand langsam in meine Richtung wandern. Einen Moment lag sie neben meiner, dann zog ich sie weg.
Innerlich seufzte ich. Das hatte wirklich nichts mit Pessimismus zu tun. »Ich hab die beste Zeit hinter mir.«
Was sollte ich auch sonst sagen, es war nicht gelogen. Ich hatte eine Chance gehabt und sie vergeigt. Ich war nicht einmal in der Lage, meine eigene Karriere in die Hand zu nehmen, wie sollte ich da eine Band leiten? Allein. Klar, ich hatte bei den Demons einiges gelernt, was das anging, immerhin war ich unserem Bandleader häufig genug bei der Organisation zur Hand gegangen. Wenn man zusammenwohnte, blieb das nicht aus. Dennoch schien ich einfach nicht in der Lage, etwas von dem, was ich gelernt hatte, auf meine eigene Band anzuwenden. Ich bekam es ja nicht einmal hin, die Band zu vervollständigen!
Der Drummer, den wir uns vor ein paar Wochen angesehen hatten, war zu sehr Rampensau gewesen. Nicht, dass ich Angst hatte, mir könnte jemand die Show stehlen, aber in unserem Genre war eben nicht das Schlagzeug das herausstechende Element. Aber wenigstens hatte Alan das ebenfalls eingesehen und Lance sich schon unabhängig von mir die gleiche Meinung gebildet, sodass es deswegen keinen Stress gab. Dennoch waren wir weiterhin auf der Suche. Doch solange sich meine Kreativität versteckte, war das auch egal. Wenn sie denn überhaupt noch irgendwo zu finden war.
»Ach Quatsch! Wie alt bist du jetzt?«, fragte Roger und lächelte mich an. »Oder darf man das nicht fragen?«
Beleidigt stieß ich die Luft mit einem Mal aus. Was sollte das denn heißen? Missmutig antwortete ich: »Zweiundzwanzig.«
»Das ist doch noch mehr als genug Zeit«, behauptete Toby und zog seine Hand zurück. »Einfach nicht aufgeben, du packst das schon, Kleiner. Immerhin haben das schon deutlich schlechtere als du hinbekommen.«
»Soll mich das jetzt aufmuntern?«, fragte ich leicht gereizt und zog die Augenbrauen hoch. Was brachte es mir, wenn andere Leute das hinbekamen, wozu ich nicht in der Lage war?
»Nein, dir nur zeigen, dass du nicht aufgeben sollst.« Während mich Toby aufmunternd anlächelte, legte sich kurz ein Schatten auf Rogers Gesicht. Doch so schnell er gekommen war, verschwand er wieder.
Ich grummelte nur irgendwas vor mich hin.
Nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, stand Toby auf und entschuldigte sich kurz. Rogers Blick, der während des Schweigens über die Menge geglitten war, folgte ihm.
Dann wechselte er plötzlich den Platz und ließ sich neben mir nieder. Er musterte mich eine Weile, dann herrschte er mich in einem Ton an, den ich vom ihm überhaupt nicht kannte: »Lass den Scheiß!«
Verwirrte schüttelte ich den Kopf. »Was?«
»Du sollst das, was immer das werden soll, was du da tust, sein lassen!«
Ich schluckte. So kannte ich Roger gar nicht. Er war doch sonst so fröhlich und nicht aus der Ruhe zu bringen. Was hatte ich denn getan, dass ausgerechnet er so reagierte? Er machte mir Angst. »Ich ... Ich weiß nicht, was du meinst ...«
»Tu nicht so!«
»Bitte, Roger! Ich weiß nicht, was du meinst!« Verdammt, meine Stimme verriet deutlich die Angst; vermutlich stand sie auch deutlich in meinen Augen.
Doch Roger hielt meinen Blick gefangen. So wie er mich ansah, konnte ich nicht wegsehen. Außerdem zeigte seine Körperhaltung deutlich, dass er mich an jeder Flucht, egal in welche Richtung, hindern würde. Selbst wenn ich es irgendwie schaffte, senkrecht abzuheben, würde er einen Weg finden, mich aufzuhalten. Das war nicht der Roger, den ich kannte.
Kurz flackerte Überraschung in seinem Blick auf, dann wurde er deutlich weicher und seine Stimme senkte sich. »Du merkst es wirklich nicht, oder? Verdammt, du tust Toby weh!«
Erschrocken sah ich ihn an. Ich tat Toby weh? Wie? »Tut ... Tut mir leid ... ich wollte das nicht ...«
»Dann hör damit auf, verdammt! Hör auf, ihm jedes Mal wieder Hoffnungen zu machen, nur um sie dann mit Füßen zu treten! Entscheide dich, was du willst! Ich seh mir das nicht mehr länger an. Seit drei Monaten geht das so. Damit ist jetzt Schluss, Isaac! Hast du mich verstanden?«
Die Wut und Entschlossenheit in Rogers Stimme ließen mich nicken. Außerdem konnte ich die Ablehnung, mit der er meinen Namen aussprach, regelrecht spüren. Ich hatte mich so daran gewöhnt, dass sie mich sowieso nie beim Namen nannten, dass ich nie auf die Idee gekommen war, dass sie mich irgendwann mal mit ›Isaac‹ ansprechen könnten.
Doch genau dem machte der letzte Satz Angst. Er rief viel zu viele Erinnerung wach. Ich begann zu zittern, stammelte unzusammenhängende Entschuldigungen.
Ein tiefes Seufzen entrang sich Rogers Kehle. Vorsichtig legten sich zwei Arme um mich und ich wurde an einen warmen Körper gezogen. Sanft flüsterte er: »Tut mir leid, ich wollte dich nicht so anschreien. Ich will doch nur, dass dieses ewige Hin und Her aufhört. Was möchtest du von Toby?«
»Ich hätte gern, dass es wird wie früher.« Woher hatte er die Fähigkeit, das Zittern so schnell unter Kontrolle zu bringen? Unweigerlich lehnte ich mich etwas an ihn, es schien mir gutzutun.
»Dann hör auf, ihn ständig von dir zu stoßen! Was meinst du ...«
»Ich kann nicht«, unterbrach ich ihn.
Roger schob mich etwas von sich, um mir ins Gesicht sehen zu können. Die Frage stand ihm deutlich auf die Stirn geschrieben.
Ich schluckte. »Meine ... Männerprobleme.«
»So funktioniert das aber nicht. Hast du ihm mal gesagt, woran es liegt?« Ich schüttelte den Kopf. »Dann tu das. Er hat keine Ahnung, warum du in einem Moment mit ihm flirtest und im nächsten dich komplett zurückziehst. Sag ihm, was du von ihm willst und warum du ihn ständig vor eine Wand rennen lässt.«
»Ich weiß nicht, wie ich ihm das erklären soll.«
»Lass dir was einfallen. Kleiner Tipp: Wie wäre es, wenn du am Anfang anfängst und ihm erzählst, warum, was diese ominösen Probleme sind und woher sie kommen?«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.« Bei ihm klang das so einfach, aber das war es nun mal nicht.
»Du kannst es aber zumindest versuchen. Wenn du das nicht geklärt bekommst, seh ich mir das nicht mehr länger an. Ich hab dich gern, Isaac, aber so funktioniert das nicht.« Roger schob mich von sich, stand auf und sammelte die leeren Gläser auf dem Tisch ein. »Ich denke, du brauchst einen Moment, um darüber nachzudenken.«
Gerade als er sich umdrehen wollte, fragte ich: »Und was ist mit dir? Ich hätte gern ... Ich würde mir wünschen, dass es auch mit dir wird wie früher.«
»Erstmal solltest du das mit Toby klären, dann sehen wir weiter.« Er verschwand mit den Gläsern und ließ mich allein sitzen. Ich folgte ihm mit dem Blick und sah, wie er auf Toby zuging, ihm etwas sagte, worauf sie beide zur Bar gingen.