Auch noch zwei Wochen später ging es mir mit den Ereignissen zu Rogers Geburtstag gut. Es hatte nicht einen Moment gegeben, an dem ich meine spontane Entscheidung bereut hatte. Ich dachte noch immer sehr gern daran, auch wenn es sich aus zeitlichen Gründen bisher nicht wieder ergeben hatte, die beiden zu treffen.
»Was grinst du denn so weggetreten?«, fragte Lance und zog herausfordernd eine Augenbraue hoch. »Hast du was Interessantes entdeckt?«
»Nein. Ich hab nur gerade an etwas gedacht.« Noch immer konnte ich nicht aufhören, daran zu denken. Gott, zwei Wochen waren einfach eine lange Zeit und bis zu unserem nächsten Treffen würden noch ein paar Tage vergehen.
»Aha? Lass mich daran teilhaben.« Nun war seine Neugierde erst recht geweckt. Er lehnte sich über den Tisch zu mir.
Sollte ich ihm das wirklich erzählen? Andererseits, warum nicht? Wenn er schon so fragte. Dennoch war ich ein wenig verlegen. »Ich hab Toby und Roger einen geblasen.«
Er lehnte sich wieder zurück und sah mich eine Weile verwundert an. Erst dann sprach er aus, was er wohl schon die ganze Zeit dachte: »Äh ... Und? Tut ihr das nicht ständig?«
Nun war ich noch verlegener und schüttelte den Kopf. »Nein ... Das war ... Ich hab es mich zum ersten Mal wieder getraut. An Rogers Geburtstag.«
»Oh ... Ehm ... Tut mir leid, ich wusste nicht, dass das so ein Problem für dich ist.« Lance wirkte etwas betreten. »Und das war so gut, dass du jetzt immer noch grinst?«
»Ja. Es war der erste große Fortschritt seit langem.« Nun war es kein Grinsen mehr aufgrund der Erinnerungen, sondern weil es sich einfach gut anfühlte.
»Wow, das freut mich für dich.« Auch Lance lächelte nun ehrlich. Er schien seinen Schrecken überwunden zu haben. »Das heißt, es ist jetzt wieder alles in Ordnung?«
Schnell schüttelte ich den Kopf. Wollte ich wirklich, dass Lance das alles wusste? Ich hatte nie mit ihm darüber gesprochen, welche Fortschritte ich machte. Das war für unsere Freundschaft einfach nicht relevant gewesen. Dennoch fragte er nun danach. Warum sollte ich es ihm also vorenthalten, wenn es ihn ehrlich interessierte? »Nein. Ich hab immer noch manchmal Angst. Vor allem, wenn sie mich irgendwie am Hintern anpacken.«
»Wie? Heißt das ...? Sie dürfen dir nicht an den Arsch?« Lance machte große Augen und starrte mich an.
»Manchmal ja. Aber meistens eher nicht. Zumindest halt nicht so richtig.« Unwohl kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Es war unangenehm, das zugeben zu müssen.
»Ehm ... Okay ... Sorry, ich dachte ... Tut mir leid, wenn das jetzt etwas unsensibel klingt, aber was macht ihr sonst die ganze Zeit? Wenn du nicht ... und sie auch nicht bei dir dürfen ...« Es war ihm deutlich anzusehen, dass er sich das kaum vorstellen konnte. Gut, er hatte damals ja mitbekommen, wie mein Verhältnis zu Toby und Roger gewesen war.
»Na ja, eben halt die Hände oder selbst machen. Außerdem geht es schon länger gut, wenn sie mir einen blasen. Und Toby mag es ja auch, wenn ich ihn ficke.« Ich konnte gar nicht verhindern zu strahlen, als mir klar wurde, wie weit ich eigentlich mittlerweile gekommen war.
»Toby mag was?« Lance Augen wurden erneut groß. »Sorry, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er das zulässt. Ich meine, er wirkt immer so ... bestimmend.«
Unweigerlich musste ich lachen. Diesmal dachte ich gar nicht weiter darüber nach, sondern posaunte einfach hinaus: »Ist er ja auch. Aber das schließt sich ja nicht aus. Wenn deine Freundin dich reitet, dann kann sie ja auch ziemlich viel bestimmen.«
»Oh Gott! Verschon mich doch mit solchen Details!« Angewidert bei dem Gedanken verzog er das Gesicht und brachte mich damit zum Lachen.
»Du hast gefragt! Ich hab es dir nur erklärt.«
»Ich seh schon, dir geht es wirklich deutlich besser«, stellte er fest, lächelte mittlerweile aber wieder. »Das ist toll. Ich freue mich wirklich für dich. Vielleicht bekomm ich ja doch irgendwann meinen alten besten Freund wieder.«
»Ganz sicher.« Seine Freude steckte mich an. So gut ging es mir schon ewig nicht mehr. »Und deshalb hol ich uns jetzt noch was zu trinken, damit wir darauf anstoßen können.«
Da es an der Bar recht voll war, musste ich mich an den Leuten vorbeidrängen. Offenbar stieß ich einen der anderen Gäste dabei etwas stärker an. Zumindest drehte er sich plötzlich mit empörtem Gesichtsausdruck in meine Richtung. Da er mich locker um einen Kopf überragte und mindestens doppelt so breit war, hob ich schnell beschwichtigend die Hände und beeilte mich, eine Entschuldigung zu murmeln.
Zu meiner Verwunderung zuckte er jedoch nur mit den Schultern und grinste. »Halb so wild. Hier drin sieht man mich halt nicht so gut wie euch Weißbrote.«
Eine ganze Weile starrte ich ihn einfach nur entgeistert an. War das sein Ernst? Oder wartete er nur darauf, dass ich lachte, und würde mir dann eine reinhauen, weil ich ihn auslachte?
Ein zweiter Mann kam dazu und drückte dem anderen eine Bierflasche in die Hand. Erst dann schien er mich zu bemerken. Neugierig betrachtete er mich und grinste dann, nachdem er noch einmal zu dem Großen aufgesehen hatte, dessen Grinsen langsam Skepsis wich. »Keine Angst, Leron ist ein ganz Lieber. Er sieht bedrohlicher aus, als er eigentlich ist.«
»Äh, ehm, ja ... sorry nochmal«, entschuldigte ich mich erneut und ging dann um die beiden herum. So ganz war ich mir da nicht sicher, aber ich hatte auch nicht vor, das näher herauszufinden.
Ich bestellte die Getränke für Lance und mich und machte mich dann auf den Weg zurück.
Schweigend tranken wir und sahen uns im Club um. Während Lance scheinbar die Tanzfläche sondierte, wanderte mein Blick ohne mein Zutun wieder zur Bar. Die beiden Männer von zuvor standen noch immer dort und unterhielten sich. Nun musste ich doch über die Aussage des Größeren grinsen, denn er hatte gar nicht so Unrecht gehabt: Aufgrund seiner Hautfarbe und der Klamotten war er in dem recht dunklen Club von Weitem wirklich schlecht zu erkennen. Offenbar foppten sich die beiden etwas, denn sie grinsten um die Wette und schlugen sich leicht gegen Brust und Oberarme. Dabei sah der Kleinere kurz zu mir. Automatisch ließ ich meinen Blick in eine andere Richtung schnellen.
Doch als ich vorsichtig wieder zu ihnen sah, blickten mich nun beide an. Sie lächelten und setzten sich dann in Bewegung. Als sie neben uns standen, erklärte der Kleinere: »Hey, ich hoffe, wir stören nicht? Leron wollte sich entschuldigen, weil er dich so erschreckt hat.«
»Sorry, dafür. Aber das war wirklich nicht schlimm. Du hast mich nur leicht angerempelt. Nichts, was nicht häufiger passieren würde.« Das Lächeln, das sogar Lerons dunkle Augen erreichte, wirkte ehrlich und war ziemlich schön.
»Schon gut, du hast mich nicht erschreckt, wirklich nicht«, versuchte ich, ihn zu beschwichtigen. Ich wollte nicht als rassistisch dastehen, nur weil es nun mal ausgerechnet er gewesen war, der mich durch seine Größe eingeschüchtert hatte.
»Lass dir nichts erzählen. Er war kreidebleich, als er wieder hier angekommen ist«, machte Lance es jedoch nicht gerade besser. Er grinste kurz mich, dann Leron an. »Jetzt weiß ich wenigstens, warum.«
»Das tut mir leid, ich wollte das wirklich nicht. Manchmal bin ich wohl etwas forsch. Hey, was hältst du davon, wenn ich dich auf einen Drink einlade?«
»Nein, nein, ist wirklich nicht ...«
»Er trinkt Wodka-O«, fiel mir mein angeblich bester Freund erneut in den Rücken. Dann wandte er sich an den anderen Mann: »Setz dich doch.«
Leron entschuldigte sich kurz, während sich sein Kumpel neben Lance und mir gegenüber setzte. Das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte etwas steif, als er sich für das Angebot bedankte.
Wenn er nicht bei uns sitzen wollte, dann musste er das genauso wenig, wie sein Freund mich einladen musste.
Doch Lance schien beschlossen zu haben, dass es mal wieder Zeit wurde, neue Leute kennenzulernen. Er streckte seinem neuen Sitznachbarn die Hand entgegen. »Ich bin übrigens Lance und das ist Samsa.«
Wir wurden skeptisch gemustert, dann lächelte der Neuankömmling wieder angestrengt. »Ich bin Mijo.«
»Cool, ziemlich ungewöhnlicher Name«, verwickelte Lance ihn in ein Gespräch.
Na toll, Mijo wirkte darüber nicht gerade glücklich, wenn ich ihn mir so ansah. Dennoch antwortete er höflich: »Meine Großeltern kamen aus Serbien. Sie wollten unbedingt, dass ich einen serbischen Namen bekomme.«
Lance lachte lauthals. »Oh Gott, das kenn ich! Nur bei mir haben das meine Eltern ganz allein verbockt.«
Ich schüttelte einfach nur den Kopf. Ich brauchte ihm nicht sagen, dass ich seinen Namen toll fand. Immerhin hatte ich das schon als Kind getan, da ich ihn immer mit dem Ritter Lancelot in Verbindung gebracht hatte. Und welcher kleine Junge wünschte sich nicht einen Ritter als besten Freund? Unweigerlich musste ich daran denken, wie ich ihm immer an den Fersen gehangen hatte. Nun konnte ich mich doch nicht mehr zurückhalten, ihn etwas zu sticheln. »Dabei passt er so gut zu einem solch stattlichen Ritter.«
»Oh Gott, nein! Nicht schon wieder die Nummer!«
»Aber warum denn nicht? Lasset unseren werten Gast doch wissen, an welch hoheitlichem Tische er sich niederließet.«
»Boah, Alter! Ich warne dich noch ein Mal: Lass die Scheiße!«
Nun brach ich doch in schallendes Gelächter aus. Es war schön, wie er sich darüber aufregen konnte.
Leron kam zu uns zurück, ließ sich neben mir nieder. Er verteilte die Getränke und sah sich dabei um. »Hab ich etwas Gutes verpasst?«
Lance wollte schon antworten, aber da ich mir sicher war, dass er lügen würde, übernahm ich das schnell: »Ich hab Lance nur mit einem uralten Witz aufgezogen.«
»Und ich fand ihn schon als Kind nicht witzig!«
»Du bist einfach nur zu bescheiden, um deine wahre Bestimmung zu erkennen.« Dabei stimmte es sogar. Er hätte einen guten Ritter abgeben. Sir Lance Payne klang doch gut.
»Samsa! Hör auf zu grinsen und lass den Mist.«
Beschwichtigend hob ich die Hände. »Schon gut, ich lass es ja sein.«
»Ihr kennt euch schon lange, oder?«, stellte Leron grinsend fest.
»Kann man so sagen, ja. Samsa und ich waren schon befreundet, als wir noch in die Windeln gemacht haben.«
»Cool! Ich dachte immer, Mijo und ich wären die Einzigen, die sich einander so lange antun würden!« Leron strahlte bei der Erkenntnis über das ganze Gesicht.
Ein verstohlener Blick zu seinem Kumpel zeigte, dass dieser zumindest ein wenig lächelte.
»Aber Moment mal ... Samsa? Der Samsa?«
»Ich weiß nicht, gibt es noch mehr?«, fragte ich frech zurück. Die Stimmung war viel zu ausgelassen, um negativ darauf zu reagieren. Außerdem zeigte es, dass die beiden nicht mit uns gesprochen hatten, weil sie uns erkannt hatten.
»Cool! Mijo, hast du das gehört? Das ist Samsa!«, verkündete Leron noch einmal.
Warum zur Höhle hatte ich vorhin vor ihm Angst bekommen? Er war ja fast noch aufgedrehter als Dave.
»Aha ... muss man dich kennen?« Mijo sah mich skeptisch an.
»Das ist der Sänger der Death Demons!«, antwortete sein Freund an meiner statt.
Noch bevor ich Leron auf den Fehler aufmerksam machen konnte, übernahm sein Kumpel: »Hä? Ich dachte, das wäre dieser Typ mit den Dreadlocks? Wie hieß er noch gleich? Oder haben die schon wieder einen Neuen?«
»Nein, nein, Samsa ist schon etwas länger weg. Samsa ist direkt nach Phantom gekommen. Also er war der zweite und beste Sänger.«
Mijo sah mich entschuldigend an. »Sorry, ich kenn mich in der Musik nicht so gut aus.«
»Nicht schlimm.« Ehrlich lächelte ich ihn an. Ich fand es mutig, zuzugeben, dass er keine Ahnung hatte, wer ich war, während sein Freund so begeistert schien.
Leron schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich muss dir unbedingt noch ein paar Nachhilfestunden in guter Musik geben. Aber sag mal, Samsa ... Ehm, du musst nicht antworten, wenn die Frage zu weit geht, aber: Warum ist Phantom nicht wieder eingestiegen? Ich hab gehört, er wollte eigentlich mal zurückkommen.«
»Phantom ...« Ich machte eine Pause und überlegte, wie ich das am besten ausdrückte, ohne mehr zu verraten, als ich durfte, und ohne respektlos zu werden. »Er hat es sich anders überlegt.«
Das war doch gut, oder? Es war quasi die Wahrheit, aber nicht pietätlos. Klang zumindest deutlich besser als ›Er hat sich vor der Verantwortung seiner Tochter gegenüber gedrückt und sich totgesoffen‹. Ich verstand noch immer nicht, warum seine Eltern das deckten, indem sie die Kleine großzogen und der Öffentlichkeit – zumindest den wenigen, die es interessierte – den Grund für seinen Tod verschwiegen. Ich hoffte einfach, dass sie es dem Mädchen zuliebe taten, das nichts für ihren Vater konnte. Und wieder einmal fragte ich mich, warum man Kinder in die Welt setzte, wenn man sich nicht um sie kümmern wollte oder konnte. Wenn ich mir vorstellte, Peter ...
Bevor sich weitere Gedanken formen konnten, riss mich Leron heraus. »Schade. Du warst zwar deutlich besser, aber lieber Phantom als diese ständigen Wechsel, die sie jetzt veranstalten.«
Wie kam er eigentlich darauf, dass ich mich großartig darüber unterhalten wollte? Mir war echt egal, was die Demons taten.
Wenig elegant, dafür aber eindeutig, wechselte ich das Thema: »Mijo, was hörst du denn für Musik?«
Mijo schaute etwas verwundert auf, aber es beschwerte sich keiner über den Themenwechsel. Der Angesprochene schien eine Weile zu überlegen, dann antwortete er: »Na ja, ich mag schon die Richtung, aber ... Ich mag eher Elektronisches.«
»Dann bist du wohl nur wegen Leron hier, oder? Sowas wird hier überhaupt nicht gespielt.«
»Ja, schon ... Ich kenn aber auch keinen anderen Club.«
»Nichts leichter als das! Wenn ihr wollt, zeig ich euch einen. Also nicht mehr heute, aber in den nächsten Wochen?« Das ging ja nun gar nicht, dass sich Mijo in einem Club abmühen musste, der ihm nicht gefiel, nur weil er keine Alternative kannte. Dem war ja nun wirklich einfach abzuhelfen.
»Das wäre echt klasse!«, rief Leron.
»Dann gebt mir mal eine Nummer, dann meld ich mich für einen Termin.« Schon vor Jahren hatte ich mir angewöhnt, nicht mehr selbst meine Nummer herauszugeben, sondern mir grundsätzlich die der anderen geben zu lassen. Dann konnte ich es mir im Notfall nämlich immer noch anders überlegen oder vorerst nur mit unterdrückter Nummer anrufen.
»Mijo, gibst du deine? Du bist besser zu erreichen. Ich lass doch mein Handy immer ständig irgendwo liegen.«
Angesprochener wirkte wenig begeistert, nickte aber und diktierte mir die Nummer. So ganz schlau wurde ich aus ihm nicht. Erst schien er sich ebenfalls gefreut zu haben, zumindest war da so etwas wie ein Lächeln in seinem Gesicht gewesen bei meinem Angebot, und nun zog er so ein Gesicht. Konnte er mich – beziehungsweise Lance und mich – nicht leiden?
Wir unterhielten uns alle noch eine Weile, bis sowohl Lance, als auch Leron sich verabschiedeten, da sie jeweils einen Termin am Morgen hatten. Mijo ging mit, obwohl ich ihm anbot, noch etwas mit ihm zu bleiben, doch er wollte nicht. Vermutlich konnte er mich wirklich nicht leiden. Aber das war in Ordnung, sein Kumpel war dafür richtig cool drauf.
»As soon as the night comes out,
You’re getting dressed and leave the house,
You call your friends and getting cute,
In the crowd.«
Lord of the Lost – Die Tomorrow