Zwei Wochen später stand ich mit meiner Tasche in der noch immer vertrauten Straße. In den letzten Jahren hatte sich nicht viel verändert, es war alles beim Alten. Vielleicht hätte die Fassade mal wieder einen neuen Anstrich vertragen können, aber das war es auch schon. Seit zwei Minuten lief ich auf der anderen Straßenseite auf und ab. Vermutlich gab ich für die meisten ein merkwürdiges Bild ab, aber darauf achtete ich nicht. Ich war unglaublich nervös.
Dabei war mir die Entscheidung, hierherzukommen, gar nicht so schwergefallen wie befürchtet. Mein Unterbewusstsein war aber auch nicht gerade zimperlich gewesen, mir mitzuteilen, was es wollte. Träume davon, wie Toby mich in seinem Arm hielt und mehr tat, als mir nur den Bauch zu streicheln, hatten sich immer wieder eingeschlichen und für ein angenehmes Erwachen gesorgt.
Ja, verdammt, vielleicht war es ein Fehler, mich wieder auf sie einzulassen, doch es würde mir auch nichts bringen, mich weiter zu verstecken. Irgendetwas musste ich tun und das hier schien mir noch die beste Variante. Außerdem hatte ich dabei nichts zu verlieren. Bis auf meine Angst.
Nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet hatte, überquerte ich die Straße und betrat das Gebäude. Auf den ersten Blick hatte sich auch im Inneren nichts verändert. Noch immer stand im Eingangsbereich ein Tresen und noch immer saß dieselbe blonde Frau dahinter und spielte an ihrem Handy.
Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Nein, hiermit konnte ich überhaupt nichts falsch machen. »Hi, ehm, ich hab einen Termin mit Toby.«
»Weiß er davon?«, fragte sie und sah nicht einmal auf.
Das verwunderte mich. Früher hätte sie das nie getan. Sie hätte schon bei meinem Eintreten aufgeschaut, um zu sehen, wer da kam, und nie jemanden ignoriert, der ihre Hilfe brauchte. Entweder war es wichtig, was auch immer sie da tat, oder zumindest sie hatte sich verändert. Trotzdem freute ich mich viel zu sehr, sie mal wieder zu sehen, um mich darüber aufzuregen.
Ich ließ meine Stimme einen flirtenden Ton annehmen, lehnte mich etwas über den Tresen und erklärte: »Ich hoffe doch. Zumindest hat er mir vorhin noch geschrieben, ich solle der netten, jungen Dame am Empfang den hier geben und ganz lieb ›Bitte, Bitte‹ sagen, damit ich einen neuen bekomme.«
Während ich sprach, zogen sich ihre Augenbrauen kraus und sie legte langsam das Handy weg. Verwirrt sah sie mich an und nahm eher zögerlich den Mitgliedsausweis aus meiner Hand. Wie durch ein Wunder hatte er die Jahre tatsächlich in meiner Geldbörse überlebt. Vielleicht, weil ich immer gehofft hatte, doch irgendwann den Mut zu finden, wieder hierher zu kommen. »Das klingt aber nicht nach Toby ...«
Offensichtlich erkannte sie mich nicht auf den ersten Blick. Hätte ich sie aber auch nicht, wenn Toby nicht schon vorher hätte fallen lassen, dass sie noch immer für ihn arbeitete. Und sie rechnete vermutlich so überhaupt nicht mit mir.
Ich lachte. »Stimmt, eigentlich hat er nur geschrieben, ich soll dir mal was zu tun geben und dich dann ganz kräftig umarmen. Ich wollte es nur etwas netter ausdrücken.«
Eher skeptisch betrachtete sie die Pappkarte, um sie zu entziffern, was durch die Abnutzung eher schwierig war.
Als sich so langsam Verwirrung und Erkenntnis in ihrem Blick breitmachten, lehnte ich mich erneut vor. »Was ist, kommst du nun rum? Ich hab gehört, Toby mag es immer noch nicht, wenn man ihm widerspricht.«
»Das muss ich mir aber ganz stark überlegen, Mister«, sie sah auf den Ausweis und tat als müsste sie noch einmal nachlesen, »Valentine, ob ich mich von Ihnen umarmen lassen möchte.«
»Wahlweise kann ich Ihnen auch einen Kuss anbieten. Aber dann bestehe ich darauf, dass wir die Förmlichkeiten beiseitelassen und zum Du übergehen.« Ich grinste ihr breit entgegen und sie erwiderte es.
»Lieber Isaac, ich will gar nicht wissen, wie viele Leute du mit deiner dreckigen, großen Klappe schon geküsst hast. Ich verzichte.« Dennoch kam sie um den Tresen herum und ließ sich fest in meine Arme ziehen. »Schön dich wiederzusehen.«
»Ich freu mich auch schon, seitdem Toby angedeutet hat, dass du immer noch hier arbeitest.« Und das war noch nicht einmal gelogen. Auch wenn wir nie groß befreundet gewesen waren, mochte ich sie und ihre lockere Art. Vermutlich hätte ich mich auch nie auf Tobys Angebot eingelassen, wenn jemand anders den Papierkram gemacht hätte. Das wäre mir zu peinlich gewesen. Doch bei ihr störte es mich etwas weniger. Sie wusste um Tobys und mein Verhältnis.
Nach einer Weile löste sie sich wieder von mir und begab sich wieder an ihren Arbeitsplatz. Während sie etwas in den Rechner eintippte, erwiderte sie: »Kein Wunder, dass Toby dich hier ohne eingetragenen Termin aufkreuzen lässt. Er hat sicher gewusst, dass du dich wieder schamlos an mich ranmachen würdest.«
»Aber sicher. Ich kann mir doch nicht entgehen lassen, mit einer so wunderschönen Frau wie dir ein wenig zu flirten.« So schamlos konnte ich das jedoch auch nur, weil wir beide wussten, dass zwischen uns nie wieder etwas laufen würde. Sie war nach dem einmaligen Erlebnis für mich sexuell vollkommen uninteressant geworden und ich für sie vermutlich auch. Immerhin hatte sie danach gemutmaßt, ich sei eigentlich schwul, das sagte ja wohl alles.
Sie brach bei meiner Aussage in schallendes Gelächter aus. »Na jetzt übertreibst du aber.«
»Vielleicht ein klein wenig«, gab ich zu und lächelte sie weiterhin an.
Sie füllte alle Formulare aus, dann ging der Drucker hinter ihr an und sie zog eine Chipkarte daraus hervor. Während sie sie mir überreichte, forderte sie: »Ich denke mal, Toby wartet schon. Wenn du nachher noch Zeit hast, musst du mir erzählen, wo du dich die letzten Jahre rumgetrieben hast.«
»Mach ich, versprochen.« Ich winkte ihr noch einmal zu und ging Toby suchen.
Natürlich war mir schon vorher bewusst gewesen, dass diese Frage kommen würde. Immerhin war ich auch für sie einfach von der Bildfläche verschwunden, als ich beschlossen hatte, dass Toby und Roger den Stress, den sie mir verursachten, nicht wert waren. Auch wenn ich heute anders darüber dachte, damals hatte ich diese Entscheidung treffen müssen.
Es war merkwürdig, nach all der Zeit wieder im Studio zu sein. Dieser Ort rief so viele Erinnerungen wach. Und definitiv nicht nur Gute. Immerhin war die Frage, ob ich zum Training ging, häufig genug Streitthema gewesen. Im Nachhinein erschreckte es mich, dass es eine Zeit in meinem Leben gegeben hatte, in der es für mich normal gewesen war, um Erlaubnis zu bitten, wenn ich mich mit Freunden treffen wollte. Doch dann wurde mir wieder bewusst, dass ich es selbst zu verantworten hatte. Ich hatte es provoziert, indem ich ihm immer wieder Grund gegeben habe, mir zu misstrauen.
Aber die Zeiten waren vorbei. Ich konnte zu meinen Freunden gehen, wann immer ich wollte. Das machte ich mir noch einmal klar, als ich unter der Dusche in der Trainerkabine stand. Toby hatte mir angeboten, dass ich an den Tagen, an denen ich mit zu ihm fuhr, dort duschen und mich umziehen konnte. Und heute würde ich zu ihnen gehen. Schon allein, weil ich es konnte und niemandem dafür Rechenschaft schuldig war!
Das Wissen, dass ich in der ersten Zeit nicht mit den anderen Männern würde duschen müssen, war beruhigend. Natürlich konnte ich, wenn ich nach Hause fuhr, auch erst dort duschen, doch ich konnte Toby auch verstehen, dass er in der Bahn nicht neben jemandem sitzen wollte, der höllisch nach Schweiß stank. Da nahm ich sein Angebot trotz der verwirrten Blicke der anderen gerne an und vertraute darauf, dass er es nicht ausnutzte und spannte.
Tatsächlich war er noch nicht einmal mehr in der Kabine, als ich fertig war. Wobei mich der Raum noch immer eher an eine Abstellkammer erinnerte, aber vermutlich hatte Toby nicht mehr Ambitionen Papierkram zu erledigen als früher.
Ich zog mich an, schnappte mir meine Tasche und ging nach unten.
Toby wartete am Eingang und sprach mit June. Langsam näherte ich mich ihnen, damit ich sie nicht eventuell bei einem beruflichen Gespräch störte. Doch sie unterbrachen es nicht, als ich näher kam oder wechselten das Thema. Offensichtlich war es einfach nur ein persönliches Gespräch über jemanden, den ich nicht kannte.
»Ich wünsch euch noch einen schönen Abend«, wünschte June, als wir gingen mit einem kurzen Zwinkern. »Ich hoffe, du kommst jetzt wieder häufiger.«
»Hatte ich vor. Ansonsten reißt mir Toby vermutlich den Arsch auf.«
»Will ich doch hoffen«, bemerkte dieser. Nachdem er mich kurz angesehen hatte, schob er hinterher: »Immerhin würde ich viel lieber andere Dinge mit deinem Arsch tun.«
Ich verdrehte die Augen und brachte damit June zum Lachen. Dann verabschiedete ich mich noch von ihr und verließ mit Toby gemeinsam das Studio, um zur Bahn zu gehen. Auf der Fahrt döste ich vor mich hin. Das Training war anstrengend gewesen, auch wenn Toby darauf geachtet hatte, dass es nicht zu viel wurde, da ich völlig aus der Form war.
Von der Bahn aus liefen wir durch die Kleinstadt zu ihnen nach Hause. Wieder einmal fiel mir auf, wie anders es hier war. Alles wirkte ruhig und in den Vorgärten der Einfamilienhäuser spielten Kinder. In Boston war es schon selten genug, überhaupt mal ein Einfamilienhaus zu sehen.
Hätte Toby nicht vor einem der Häuser halt gemacht, hätte ich es nicht als ihres erkannt. Es sah für mich genauso aus wie die anderen und ich hatte die beiden Male, die ich bei ihnen gewesen war, auch nicht wirklich darauf geachtet, wie es aussah. Doch als wir uns ihm näherten, bemerkte ich doch einen Unterschied zu den anderen Häusern: Es gab eine Metalltreppe, die auf eine kleine Terrasse führte, die sich oberhalb des Schlaf- und Badezimmers befand. Da ich im Inneren des Hauses keine Treppe in den zweiten Stock gesehen hatte, musste dies der Zugang sein. Darum hatte Toby also nach draußen gemusst, um nach oben zu gelangen. »Warum habt ihr die Treppe nicht im Haus? Ist das so nicht unglaublich unpraktisch?«
Toby lachte, während er die Haustür aufschloss. »Nein, eigentlich nicht. Das war im Grunde die Idee dahinter, dass man nicht durch unsere Wohnung muss, um nach oben zu kommen.«
Verwirrt sah ich ihn an, was nur dazu führte, dass er lächelnd den Kopf schüttelte.
»Moment, ich zeig’s dir.« Er machte zwei Schritte ins Haus, holte einen Schlüssel vom Schlüsselbrett und zog dann die Tür von außen wieder zu. »Na, dann komm mal mit.«
Gemeinsam gingen wir die Treppe hinauf. Die Terrasse war halbwegs leer, es standen lediglich ein paar Blumenkübel herum, die wohl den Blick auf die Fensterfront versperrten, die sich nun vor mir zeigte. Im Inneren konnte ich ein kleines Wohnzimmer mit angrenzender Kochnische sehen. Scheinbar war das hier eine völlig andere Wohnung. »Ihr vermietet unter?«
»Nein«, antwortete Toby mit einem Schmunzeln, während er die Glastür aufschloss. Er schob sie auf und ließ mich dann ins Innere. Hinter uns zog er die Tür wieder zu.
Verwundert sah ich mich in dem Zimmer um. Irgendwie kam es mir ... Klar, es waren die Möbel aus ihrer alten Wohnung, die hier standen! Während Toby zum Kühlschrank ging und einen Blick hineinwarf, dämmerte es bei mir langsam. Hatte er deshalb die Hose von hier oben holen müssen?
Ich schluckte, bevor ich vorsichtshalber nachfragte: »Das ist also auch eure Wohnung?«
»Ja. Es ist praktischer, nicht jeden unten bei uns reinlassen zu müssen. Und wenn man sich nicht zu genau umsieht, merkt man auch nicht, dass hier eigentlich keiner wohnt. Soll ich dir noch mehr von der Wohnung zeigen oder sollen wir lieber wieder runtergehen?«, fragte er und kam dabei auf mich zu.
Erneut schluckte ich. »Bitte wieder runter.«
»Dachte ich mir.« Er lächelte, legte mir die Hand auf die Schulter und führte mich hinaus.
Das musste ich erstmal verdauen, dass sie scheinbar eine Wohnung nur für ihre Affären hatten. Andererseits passte es zu ihnen. Besser als die Vorstellung, sie würden hier ein ganz normales Vorstadtleben führen. Nein, irgendwie erklärte es das Ganze sogar.
»Magst du herkommen?«, fragte Toby, nachdem wir unten in der Wohnung unsere Schuhe und Jacken ausgezogen hatten und er sich auf die Couch gesetzt hatte. Dabei deutete er vielsagend vor sich.
Sofort hatte ich Bilder im Kopf. Das hatte er auch getan, als ich das allererste Mal nach dem Training bei ihm gewesen war. Seine Hände auf meinen Schultern hatten sich gut angefühlt. Und dann hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben, einem Mann einen geblasen. Es war spontan und überhaupt nicht geplant gewesen, dennoch hatte ich nicht einmal überlegen müssen, ob ich das wollte.
Nun war das anders. Ich hatte sofort Angst, dass er sich mehr davon erhoffte, als ich ihm geben konnte.
Toby bemerkte mein Zögern und die Bedenken, die damit einhergingen. Er lächelte mich sanft an. »Keine Sorge, ich will nichts dafür. Du wirkst einfach nur sehr verspannt.«
Ich machte einen Schritt auf ihn zu, dann blieb ich stehen. Der Gedanke, dass er mich mit seinen Fingern berührte, zog mich an und schreckte mich gleichzeitig ab. Noch dazu würde ich mich vor ihn setzen müssen.
›Auf den Boden! Da gehörst du hin‹, schallte es durch meinen Kopf.
Nein, ich hatte mir geschworen, mich nie wieder jemandem unterzuordnen!
Erst als Toby aufstand, merkte ich, dass ich energisch den Kopf geschüttelt hatte. Er kam auf mich zu, legte die Hand auf meine Schulter und führte mich ins Esszimmer. Dort drückte er mich sanft auf einen der Stühle. »So besser?«
Unschlüssig nickte ich. Ja, das würde vermutlich gehen. Mit einer Einschränkung: »Kann ich bitte das Shirt anlassen?«
Toby seufzte. »Isaac, ich will dich weder mir unterordnen, noch dich zu irgendwas zwingen. Wenn du etwas willst oder nicht willst, dann musst du das nur sagen. Ich kann – und will! – dir nicht verbieten, das T-Shirt anzulassen, wenn du dich dann wohler fühlst. Ich habe dir versprochen, dass es in deinem Tempo geht und das meine ich auch so. Wenn du nicht angefasst werden magst, ist das völlig in Ordnung.«
Erneut nickte ich langsam und senkte den Kopf. War ich es noch immer so sehr gewohnt, darum bitten zu müssen, wenn ich etwas nicht wollte?
Es schien so und das machte mich wütend auf mich selbst. Wie hatte ich ihm nur so viel Kontrolle über mich geben können? Wann hatte ich zugelassen, dass er mir einfach seinen Willen aufdrängte?
Während ich in meiner Wut versank, fiel mir etwas auf. Verwirrt sah ich über die Schulter zu Toby. »Woher weißt du das mit dem Unterordnen?«
»Weil du es gerade vor dich hin gemurmelt hast«, erklärte er mit einem sanften Lächeln.
Hatte ich? Scheiße!
Toby legte seine Hände auf meine Schultern. »Na komm, entspann dich. Ich geh auch nur an deine Schultern.«
»Okay«, stimmte ich wenig überzeugt zu. Ich hoffte einfach, dass er wirklich aufhörte, wenn ich das nicht mehr wollte. Und wenn nicht, war das nichts Schlimmes, und ich wusste, dass ich ihm nicht mehr vertrauen konnte.
Ganz langsam wanderten Tobys Hände über meine Schultern und drückten vorsichtig zu. Ich schloss die Augen und verdrängte die Gedanken, die versuchten, meinen Kopf zu fluten. Ich wollte sie dort nicht haben! Sie hatten nichts mit dem zu tun, was hier passierte. Ich tat das freiwillig und weil es mir gefiel!
Da ich aber nicht einfach an nichts denken konnte, musste ich meinen Kopf anderweitig beschäftigen. Das tat ich dann, indem ich mich ganz auf die Berührungen konzentrierte. Ich konnte trotz des Shirts jeden einzelnen Finger fühlen und mir ausmalen, wie sie sich auf der nackten Haut anfühlen würden. Hoffentlich konnte ich bald wieder spüren, wie es wirklich war.
Nach einer Weile kam Roger nach Hause, begrüßte uns beide und ging dann in die Küche. Während er kochte, unterhielt er sich mit uns. Obwohl sie mit mir redeten, fühlte ich mich, als sei ich nicht da. Oder besser: Als sei ich einfach immer da und nichts Besonderes. Ich fühlte mich nicht als Gast, sondern als würde ich zu ihrem Leben dazugehören.
Es war komisch, aber scheinbar war es in ihrem Leben noch immer ganz normal, dass irgendein anderer Kerl in ihrem Esszimmer saß und von einem von ihnen begrabscht wurde, während sie sich unterhielten. Es hatte sich also nicht wirklich etwas verändert. Das war gut und beruhigte mich.