Langsam glitt ich aus dem Schlaf in einen Dämmerzustand. Ich hatte verdammt gut geschlafen. So gut wie schon lange nicht mehr.
Recht schnell bemerkte ich, dass ich nicht in meinem Bett lag. Es fühlte sich nicht an wie meines. Dennoch war es irgendwie vertraut. So vertraut, dass ich ganz ruhig liegenblieb. Bis auf ein leichtes, nicht näher zu bestimmendes Unbehagen fühlte ich mich wohl, fast schon geborgen. Mit einem wohligen Seufzen wollte ich mich umdrehen und weiter in die Decke vergraben, diese angenehme Schwere genießen. Doch etwas hinderte mich daran.
Ich fühlte etwas in mich hinein, war zu träge, um die Augen zu öffnen. Etwas hatte sich von hinten um meinen Oberkörper geschlungen. Vermutlich war es ein Arm. Wenn ich mich genauer darauf konzentrierte, konnte ich eine warme Hand an meinem Bauch spüren, das Gewicht des Oberarms an meiner Seite und eine sich langsam hebende und senkende Brust in meinem Rücken.
Nur sehr langsam drang die Erkenntnis in mein Bewusstsein, erklärte das Unbehagen und ließ es weiter ansteigen. Ein solcher Arm, der mich ohne die geringste Anstrengung an Ort und Stelle hielt, konnte nur einem Mann gehören. Einem sehr starken Mann.
Mein Atem ging schneller und ich sprang auf. Die wohlige Vertrautheit war verschwunden.
Verdammt, wo war ich? Ich kannte das Zimmer nicht. Was auch immer mein Unterbewusstsein mir da vorgespielt hatte, das hier war nicht im Geringsten vertraut. Ich war noch nie hier gewesen!
Ich bemerkte eine Bewegung im Bett und suchte panisch nach einem Ausgang. Erstmal musste ich aus dem Zimmer, irgendwo durchatmen. Dann konnte ich mir überlegen, wie ich hier wegkam. Verdammt, schon wieder hatte mich der Alkohol in die Arme eines Mannes getrieben! Und natürlich war ich nackt, was hatte ich auch erwartet?
Als ich vom Bett aus meinen Namen vernahm, ging es mit mir durch. Spontan entschied ich mich für die rechte der beiden Türen, die vom Schlafzimmer abgingen. Egal wohin sie führte, sie brachte zumindest ein paar Zentimeter Holz zwischen mich und den Kerl im Bett, der, so wie es klang, nun ebenfalls aufstand. Ich musste weg sein, bevor er mich erreichte, brauchte Zeit, um einen klaren Gedanken fassen zu können.
Zu meinem Glück hatte ich tatsächlich das Bad erwischt. Sofort sah ich mich nach dem Klo um. Wie so oft übermannte mich die Übelkeit bei dem Gedanken, was in der Nacht vermutlich passiert war.
Kaum hatte ich es gefunden, sah ich in das überraschte Gesicht eines Mannes, der davor stand. Zügig zog er seine Unterhose und die Augenbraue hoch. »Äh ... Wie wär’s mit anklopfen?«
Fuck! Wieso war hier jemand?
Eilig sah ich mich nach einem weiteren Ausgang um, fand aber nur den Weg zurück, doch dort war der andere Kerl.
Wohin? Scheiße, mir war schlecht!
Während ich verzweifelt versuchte, meinen Mageninhalt in mir zu halten, krümmte ich mich.
»Scheiße, komm her!« Zwei Hände griffen nach mir und führten mich zur Toilette. Kaum hatte ich mich hingekniet, erbrach ich die gesamte Übelkeit in einem großen Schwall.
Erst als die krampfhaften Schübe so langsam verebbten, nahm ich wahr, dass jemand mir über den Rücken strich und meine Haare zurückhielt. Ergeben ließ ich es geschehen. Im Moment war ich nicht in der Position, mich darüber zu beschweren. Geschweige denn dazu in der Lage.
Ich blieb noch eine ganze Weile hocken, wartete, ob das nun alles gewesen war, was meinen Magen verlassen wollte.
Plötzlich erschien ein Waschlappen in meinem Sichtfeld. »Ist’s wieder besser?«
Ein »Danke« murmelnd nahm ich den Lappen an und wusch mir damit das Gesicht.
Erst jetzt wurden meine Haare losgelassen. Vorsichtig drehten mich die Hände herum, bis ich auf dem Boden saß.
Willenlos ließ ich es geschehen, hatte nicht die Kraft, mich zu wehren. Dafür waren die Hände auch viel zu stark. Mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen wartete ich ab, was passieren würde.
Die Klospülung wurde betätigt, dann spürte ich eine zweite Präsenz neben mir. Vermutlich hatte sich auch der zweite Kerl neben mich gehockt.
Eine Hand fuhr durch meine Haare, dann fragte eine besorgte Stimme: »Ist alles gut, Kleiner?«
Ich schüttelte den Kopf. Wer sprach bitte so mit seinem One-Night-Stand, der morgens als erstes ins Bad stürmte und sich erbrach? Und warum zur Hölle waren sie zu zweit? Das war wirklich ein neuer Tiefpunkt, tiefer konnte ich gar nicht mehr sinken.
»Was ist los?«, fragte eine zweite Stimme, die jedoch nicht weniger besorgt klang.
Ich schwieg, hoffte, dass sie mich dann einfach in Ruhe ließen.
»Hast du dem Kleinen grad irgendwelche Shakes eingeflößt?«, fragte die erste Stimme. Obwohl sie die Zweite scheinbar aufziehen wollte, schwang dennoch Besorgnis mit.
»Ach quatsch nicht«, tat der Zweite ab, bevor er sich wieder an mich wandte, »Hey, Isaac, sprich mit uns. Was ist los? Brauchst du was?«
Ich setzte gerade zu einem pampigen ›Nichts, lass mich in Ruhe!‹ an, als mir auffiel, wie er mich genannt hatte. Er hatte ›Isaac‹ gesagt. Niemand nannte mich so! Schon gar keine One-Night-Stands. Egal wie freundlich sie waren. Woher wussten sie überhaupt davon?
Ich hob den Kopf und öffnete die Augen, um ihnen wütend etwas entgegenzuschleudern.
Doch die Worte blieben mir im Halse stecken, als ich zwei viel zu bekannte Gesichter vor mir sah. Das konnte nicht sein! Das war unmöglich! Was taten sie hier? Was tat ich hier?
Eilig richtete ich mich auf. Ich musste weg, hatte hier nichts verloren. Das war falsch! Jeder, nur nicht sie!
»Wo willst du hin?« Ich wurde am Arm gepackt und am Gehen gehindert. »Was ist los?«
»Lass mich los!«, knurrte ich und riss mich los. Nein, das durfte nicht sein. Ich musste träumen! Aber nur für den Fall, dass ich es nicht tat, musste ich verschwinden. Ich durfte nicht länger bleiben. Das würde kein gutes Ende nehmen.
Ich ging zurück ins Schlafzimmer und suchte meine Klamotten, die jemand ordentlich über einen Stuhl gehangen hatte. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich gar nicht so nackt war, wie zuerst befürchtet. Ich trug zumindest noch meine Unterhose.
Bitter lachte ich auf. Natürlich trug ich sie. Als hätten sie überhaupt noch Interesse an mir. Ich musste sie anwidern. Warum hatten sie mich überhaupt hierhergebracht? Das musste ein ekelhafter Scherz sein, eine Art späte Rache.
Während ich gerade in die Hose schlüpfte, wurde ich von der Badtür aus angesprochen: »Du schuldest uns noch eine Erklärung.«
»Ich schulde euch einen Scheiß!«, fuhr ich ihn an. Wie kam er dazu, so etwas zu behaupten? Nichts war ich ihnen schuldig!
»Du schuldest mir mindestens zwanzig Dollar für deine Rechnung, die ich gestern beglichen hab, weil du’s selbst nicht mehr geschafft hast.«
Bitter lachte ich auf und funkelte ihn wütend an. »Dann schick mir doch ’ne Rechnung.«
»Gut, lass mir deine Adresse und deine Nummer da.« Er klang völlig ruhig.
Natürlich, wie kam ich auch auf die dumme Idee, meine Aussage hätte ihn irgendwie getroffen? Sie hatten mit mir abgeschlossen, ich war ihnen scheißegal! Und ich hatte es nicht einmal anders verdient.
Ich zog mir Shirt und Pullover über, während er zu einem Schrank ging und Stift und Zettel hervorkramte. Beides legte er auf einen der Nachttische neben dem Bett.
Ohne ihn erneut anzusehen, schrieb ich eilig meine neue Adresse und Handynummer auf. Ich wollte ihnen nichts schuldig sein. Nicht einmal zwanzig Dollar, auch wenn das für sie vermutlich eine läppische Summe war. Mich würde es ein Drittel dessen kosten, was ich für den Monat noch über hatte, aber das war mir im Moment egal. Ich wollte das bisschen Würde, das ich noch besaß, gerne behalten.
Als ich fertig war, richtete ich mich auf und drückte ihm den Zettel in die Hand. »Hier!«
Er warf einen prüfenden Blick darauf. »Und die Nummer stimmt auch?«
»Klar! Für wie scheiße hältst du mich?« Wütend funkelte ich ihn an.
»Gar nicht.« Plötzlich trat ein amüsiertes Leuchten in die braunen Augen und ein Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus.
War er jetzt irre geworden?
Er öffnete die Schublade des Schränkchens, die sofort Kondome und anderes offenbarte, und legte den Zettel dazu. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, erwiderte er sanft: »Ich meld mich dann.«
Warum war er jetzt auf einmal so gut drauf? War er noch ganz dicht? Aber das war egal. Ich wollte einfach nur noch weg!
Gerade als ich mich umdrehen wollte, legte sich seine Hand auf meinen Oberarm.
Da traf es mich wie ein Blitzschlag: Scheiße! Ich hatte ihm meine Nummer gegeben!
Eilig wollte ich die Schublade aufziehen, um diesen verdammten Zettel herauszuholen, doch er hielt das Bein davor. Dennoch versuchte ich, sie aufzuziehen. Scheiße, ich brauchte das Stück Papier, es durfte nicht hierbleiben!
Natürlich hatte ich keine Chance gegen den viel stärkeren Mann. Noch immer mit der Hand an der Schublade flehte ich: »Toby, bitte!«
»Ich denke, du willst mir das Geld zurückgeben?«, erwiderte er, ohne sich auch nur ein Stück zu bewegen.
»Tu ich. Ehrlich! Aber bitte, gib mir den Zettel zurück!« Scheiße, Scheiße, Scheiße!
»Und dann verschwindest du wieder und meldest dich nicht mehr? Während wir uns Sorgen machen, weil dein beschissener Freund dich behandelt wie den letzten Dreck.« Obwohl er wütend klang, nahm er langsam das Bein weg, damit ich die Schublade öffnen konnte.
»Er ist nicht mehr mein Freund!«, antwortete ich automatisch.
»Ich weiß.«
Erschrocken sah ich zu ihm auf. Woher wusste er das? Ich hatte doch schon den Kontakt zu ihnen abgebrochen, als ich noch mit ihm zusammen gewesen war.
»Mat hat es erzählt. Und wir wissen auch, was er mit dir gemacht hat.«
Nein! Das durfte nicht sein! Mat hatte doch ... »Mat hat versprochen, es niemandem zu erzählen!«
»Musste er gar nicht. Isaac«, begann er sanft, legte den Arm um meine Schulter und zog mich behutsam an sich, »wir sind weder blind noch dumm. Wir haben doch gesehen, wie er die paar Male, die wir euch zusammen gesehen haben, mit dir umgegangen ist.«
Kaum, dass meine Stirn seine Haut berührt hatte und seine Worte zu mir durchgedrungen waren, traten mir Tränen in die Augen. Scheiße, ich wollte doch nicht heulen! Ich wollte einfach nur weg! Und dennoch machte mir der leichte Druck an meinem Rücken deutlich, dass das nicht so einfach werden würde. Toby würde mich nicht ohne Weiteres gehen lassen. Doch das war nicht alles, was mich hielt. Es fühlte sich gut an, so in den Arm genommen zu werden.
Leise schluchzte ich: »Tut mir leid«.
»Schon gut, wir machen dir keinen Vorwurf. Wir hätten nur gern gewusst, wie es dir geht.« Vorsichtig legten sich zwei Arme von hinten um mich, drückten mich fester in Tobys Umarmung.
Vermutlich hätte es mir Angst machen sollen, wahrscheinlich hätte ich mich panisch schreiend aus dieser Umklammerung befreien sollen, doch ich tat es nicht. Auf eine absurde Art und Weise beruhigte es mich. Diese beiden Männer hatten mir nie wehgetan, mich nie auch nur im geringsten verletzt. Wie konnte ich da Angst bekommen? Sie bildeten einen Kokon um mich, der mich reine Geborgenheit empfinden ließ. Sie schirmten mich mit ihren starken Körpern vor allem Schlechten ab.
Eine Weile genoss ich es, vergaß, dass ich Angst haben sollte.
Als ich mich halbwegs beruhigt hatte, fragte ich: »Wie viel hat Mat euch erzählt?«
»Gar nichts. Nur, dass du dich von Peter getrennt hast.«
Der Name ließ mich zusammenzucken, meine Eingeweide verkrampften sich augenblicklich. Dieser Name war mit so vielen schlechten Erinnerungen verbunden, dass ich ihn nicht hören, geschweige denn aussprechen konnte.
Unwillkürlich machte ich mich aus der Umarmung frei. Ich brauchte jetzt ganz dringend Platz für mich.
Bereitwillig gaben sie ihn mir. »Magst du uns erzählen, was passiert ist?«
Sofort schüttelte ich den Kopf. Nein, sie sollten genauso wenig darüber erfahren wie jeder andere auch. Das ging niemanden etwas an.
Toby seufzte und setzte sich aufs Bett. »Ist gut, du musst nichts erzählen, wenn du nicht willst. Ich möchte nur eine Frage beantwortet haben. Magst du sie mir beantworten?«
Ich stand unschlüssig vor dem Bett und zuckte mit den Schultern. Woher sollte ich das wissen, ohne die Frage zu kennen? Dennoch hatte ich Angst vor ihr. Mir schossen eine Menge möglicher Fragen durch den Kopf und jede einzelne davon machte mir Angst.
»Hat er dich körperlich verletzt?«
Das Kopfschütteln war ein Automatismus, den ich nicht einmal hätte unterbinden können, wenn ich es gewollt hätte. Nein, das ging sie nichts an!
Roger, der sich neben Toby gesetzt hatte, griff nach meiner Hand. »Isaac, lüg uns nicht an.«
»Ich lüge nicht!«, verteidigte ich mich. Wie konnten sie nur behaupten, ich würde lügen?
»Dann sieh uns an und sag uns, dass er dich nicht geschlagen hat, dass er dich nicht zu etwas gezwungen hat, was du nicht wolltest«, forderte Toby mit Nachdruck, nahm dabei meine andere Hand.
Ich entriss ihnen meine Hände und starrte sie wütend an. Gut, wenn sie das unbedingt wollten, dann würde ich ihnen eben ins Gesicht lügen!
Ich setzte an und stockte dann. Diese beiden Männer sahen mich vollkommen entschlossen an. Da war kein Lächeln, keine aufmunternde Geste mehr. Ich schluckte. Ja, sie hatten Mitleid mit mir und wollten für mich da sein. Das war mehr als offensichtlich. Trotzdem sprachen ihre Mienen auch eine andere Sprache: ›Wenn du uns jetzt anlügst, hast du endgültig verschissen.‹
Ich schloss den Mund wieder. Wollte ich das? Natürlich, ich hatte mich die letzten vier Jahre nicht bei ihnen gemeldet, wir waren uns auf gewisse Weise fremd geworden. Dennoch hatte ich mich bei ihnen wohl gefühlt. Nicht nur früher, auch jetzt, obwohl sie mich so durchdringend ansahen. Sie waren mir vor unserem Kontaktabbruch Freunde gewesen, hatten mir mit Rat und Tat beigestanden, mir geholfen, meine ersten Schritte mit Männern und in der Beziehung zu machen. Sicher, sie hatten vermutlich nicht uneigennützig gehandelt, aber ich doch auch nicht. Außerdem wusste ich, dass sie gute Freunde sein konnten – auch ohne körperliche Verbindung. Immerhin war Toby einer von Mats besten Freunden. Das sollte schon etwas heißen. Wollte ich diese Chance vertun?
Ich wusste nicht, was ich von ihnen wollte, was sie von mir wollten, hatte keine Ahnung, ob sie nur an einer Freundschaft interessiert waren, völlig ohne körperliche Annäherung, ob ich nur das wollte. Doch wenn ich sie anlog, dann hatte ich keine Möglichkeit mehr, das herauszufinden. Nein, ich konnte sie einfach nicht anlügen.
Ich senkte den Kopf und flüsterte: »Es war meine Schuld.«
Während Toby wie von einer Tarantel gestochen aufsprang und sichtlich Mühe hatte, sich zu beherrschen, blickte Roger verwirrt zu mir auf. »Was war deine Schuld?«
»Dass ...« Ich schluckte. Wollte ich darauf wirklich antworten? Zumindest diesen Satz wollte ich beenden. Sie sollten nicht dem Falschen die Schuld geben. »Ich hab ihn immer wieder provoziert, ihn wütend gemacht, ob...«
»Hör auf!« Toby packte mich an den Schultern und schüttelte mich. »Hör auf, ihn in Schutz zu nehmen! Er hatte kein Recht, dir etwas anzutun! Egal, was du getan hast! Das. Ist. Nicht. Deine. Schuld!«
»Toby! Schrei den Kleinen nicht an, das macht es auch nicht besser«, beruhigte Roger ihn und legte eine Hand auf seine Schulter.
Ich dagegen konnte Toby nur anstarren, war völlig bewegungsunfähig. Nicht nur, weil mich sein Auftreten komplett verängstigte, auch seine Antwort, seine Reaktion ließen mich sprachlos zurück. Noch nie hatte mir jemand gesagt, dass ich keine Schuld daran hätte.
Ganz im Gegenteil. Der Drache war der festen Überzeugung, ich hätte das selbst zu verantworten, wenn ich mit einem Mann zusammenlebte und mit ihm ins Bett stieg, dass es doch nur so enden konnte. Das war auch der Grund gewesen, weshalb Mat mich, entgegen seinem ursprünglichen Plan, mit zu sich genommen hatte, statt mich zu Dad zu bringen. Kaum hatte sie das gesagt, war er aufgesprungen, hatte meinen Vater angeschrien, wie er zulassen könnte, dass jemand so etwas über seinen Sohn sagte, und mich dann wieder aus dem Haus gezerrt. Bis heute war das, was passiert war, dort ein Tabuthema. Dad unterband jeden Kommentar dazu, schien mir nicht zu glauben oder es totzuschweigen, während seine Frau es mir vorhielt.
Vermutlich war das der Grund, weshalb ich mich so schwertat, darüber zu reden. Bis auf Mat hatte mir bisher keiner geglaubt. Auch bei Lance war ich mir sicher, dass er es erst seit unserem Gespräch am Küchentisch im März so richtig glaubte. Und sich nun noch mehr Vorwürfe machte, nie etwas davon mitbekommen zu haben.
Tobys Reaktion dagegen sprach dafür, dass er mir ohne Einschränkungen glaubte, auch wenn er nicht alles wusste. Oder entsprang das nur aus dem Hass, von dem ich bisher immer geglaubt hatte, er ginge nur einseitig vom anderen aus?
Während ich noch darüber grübelte, nahm Toby mich in den Arm. Sanft raunte er: »Tut mir leid, ich wollte dich nicht anschreien. Sag so etwas dennoch nie wieder, hörst du? Du kannst nichts für das, was er dir angetan hat. Egal, wie sehr du glaubst, ihn dazu gedrängt zu haben, es war immer noch seine Entscheidung, dich zu verletzen.«
Ich spürte, dass Toby keine Diskussion zulassen würde und nickte. Er hatte unrecht, dennoch hatte ich gerade weder die Lust noch die Kraft darüber zu debattieren. Um das wirklich zu erklären, hätte ich viel zu viel von dem erzählen müssen, was damals passiert war. Dazu war ich nicht bereit. Dann ließ ich ihm lieber seine Meinung. Es war doch eh egal, er konnte ihn sowieso nicht leiden.
»Kleiner, ich will dir nicht zu nahe treten, aber willst du vielleicht duschen gehen?« Toby schob mich mit leicht gerümpfter Nase von sich. »Du riechst nach Schweiß, Alkohol und Kotze.«
Zumindest damit hatte er eindeutig recht. Eine Dusche würde mir außerdem Zeit verschaffen, darüber nachzudenken, was passiert war und wie ich von hieraus weitermachen wollte. »Ja, bitte.«
»Dann geh ich mal Frühstück für uns machen. Du bleibst doch noch, oder?«, fragte Roger an mich gewandt. Doch bevor ich antworten konnte, war er auch schon aus dem Schlafzimmer verschwunden. Natürlich, es war keine wirkliche Frage gewesen, sondern eher eine Aufforderung.
»Na dann, das Bad hast du ja schon gefunden. Handtücher sind im Schrank neben der Dusche und im Spiegelschrank findest du sicher auch noch eine unbenutzte Zahnbürste. Ansonsten sag Bescheid, dann geh ich eben eine von oben holen. Brauchst du sonst noch was?«
Etwas überfordert schüttelte ich den Kopf. Er behandelte mich, als wäre ich zuletzt vor einer Woche bei ihnen gewesen und würde lediglich zum ersten Mal dort schlafen. Das verwirrte mich.
Aufmunternd lächelte er mich an, als hätte er gerade bemerkt, wie unangenehm mir das war. »Gut, dann geh ich mal Roger einfangen und ihn daran erinnern, dass er nicht nur in Unterhose im Garten rummarschieren sollte. Wenn du sonst noch was brauchst, dann ruf oder schau einfach selbst in die Schränke, wir haben nichts zu verbergen, was du nicht eh schon kennst.«
Das Zwinkern, bevor er das Zimmer ebenfalls verließ, ließ mich schlucken. Ich wusste, dass er diese Anspielung nicht böse meinte, dennoch machte sie mich nervös. Natürlich wusste ich, was sie so alles in ihrem Schlafzimmer hatten, ich war oft genug dort gewesen. Zumindest in ihrem Alten. Daran würde sich wohl nichts geändert haben. Dennoch gefiel mir der Gedanke an das, was ich dort so alles erlebt hatte, nicht. Nicht etwa, weil es nicht schön gewesen wäre, sondern eher genau deshalb. Es ließ wieder Wünsche in mir wachsen, die ich nicht erfüllen könnte.
Daher verdrängte ich die Gedanken, nahm mir vor, nicht weiter als nötig in die Schränke zu schauen, und ging zügig duschen.
»Ich bin zurück!
Wo auch immer ich gewesen bin
Ich bin zurück!
Ich, ich, ich bin zurück!
Wo auch immer ich gewesen bin
Ich bin zurück!
Ich, ich bin zurück!«
Steinkind – Ich bin zurück