CN: Sexuelle Gewalt (angedeutet)
»Geht ihr schon mal einen Platz suchen? Ich hol noch ein paar Getränke«, wurden Lance, Janine, Mat und ich aufgefordert. Wir nickten bestätigend und warfen uns ins Gedränge.
Dieses Jahr war es deutlich voller auf dem Memorial Drive als im Jahr zuvor. Vermutlich saß der Schreck noch zu tief, als dass die Leute sich auf der Esplanade tummeln wollten. Dabei waren die Sicherheitsvorkehrungen den Berichten zufolge deutlich erhöht worden. Insgeheim bezweifelte ich ja, dass es auf dieser Seite des Flusses wirklich sicherer war.
»Toll, wir hätten doch nach drüben gehen sollen«, beschwerte sich Lance. »Wo kommen denn die ganzen Menschen her?«
»Die wollen alle hautnah dabei sein, wenn sich jemand in die Luft jagt«, motzte Zombie.
Irgendwo gab ich ihm da recht. Wenn es wieder Anschläge gab, dann doch wohl am ehesten heute, oder? Immerhin gab es keinen wichtigeren Feiertag. Dennoch unterließ ich es, ihm beizupflichten. Die Blicke der umstehenden Leute waren mehr als eindeutig.
»Wer hat sich den Mist eigentlich ausgedacht, hierherzukommen?«
»Ach komm, jetzt sieh mal nicht so schwarz, es wird schon nichts passieren.« Lance lächelte selbstsicher in die Runde und zog Janine fester an sich.
Ich war mir sicher, dass auch er nicht von den Sorgen befreit war, die wohl heute bei jedem die Stimmung drückten, doch genau wie viele andere auch, wollte er sich nicht einschüchtern lassen.
»Es wäre nur schön, wenn wir irgendwo einen Platz finden würden.«
»Da vorn ist es etwas lichter.« Janine deutete ein Stück vor uns und tatsächlich waren dort nicht ganz so viele Leute.
Wir setzten uns gerade in Bewegung, da rief eine Stimme meinen und Mats Namen. Überrascht drehten wir uns um. Von hinten kamen zwei große Gestalten auf uns zu.
Wie erstarrt blieb ich stehen, doch Mat hatte sich bereits in ihre Richtung aufgemacht und Lance folgte ihm. Als er merkte, dass ich mich nicht rührte, zog er mich am Arm mit. »Na komm schon.«
Eher widerwillig folgte ich. Ich freute mich ja auch, sie zu sehen, aber was sollte ich ihnen denn sagen? Ich hatte sie seit über drei Monaten weder gesehen noch gesprochen. Nicht einmal auf ihre Nachricht hatte ich geantwortet.
Bei der Erinnerung daran durchfuhr mich ein Schauer. Doch ich verdrängte den Gedanken schnell. Es war ein Fehler gewesen und er hatte sich entschuldigt! Es war vergeben und vergessen.
Etwas mutiger schritt ich auf das Pärchen zu. Mat hatte sie erreicht und umarmte sie zur Begrüßung. Als auch wir ankamen, stellte Lance ihnen seine Freundin vor, bevor er sie ebenso wie Mat zuvor begrüßte. Janine wurde zurückhaltend, aber ebenfalls freundlich, mit einem Gruß bedacht, dann fiel der Blick der anderen auf mich, der ich ein paar Schritte entfernt stehen geblieben war.
Ich gab mir einen Ruck und ging lächelnd auf sie zu. »Hey.«
»Hey Kleiner«, begrüßten sie mich und zogen mich jeweils in eine Umarmung. Nachdem sie mich losgelassen hatten, sahen sie mich fragend an. »Alles gut bei dir? Hattest wohl viel zu tun. Kommst du denn mal wieder zum Training?«
Bevor ich etwas antworten konnte, legten sich zwei Arme um meine Hüfte und ein Kopf auf meine Schulter. Ein eisiges »Nein« direkt neben meinem Ohr ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Die Augen des Pärchens vor mir weiteten sich überrascht.
Völlig überrumpelt ließ ich mich widerstandslos herumdrehen. Diesmal wandte sich die eisige Stimme an mich: »Habt ihr schon einen Platz gefunden, Schatz?« Mit Nachdruck wurde ich fortgeführt und ließ damit alle ohne ein weiteres Wort stehen.
Lance, Janine und Mat holten uns nach einer Weile ein und wir suchten uns gemeinsam einen Platz ein ganzes Stück entfernt.
Weder meine wütenden Schreie, noch meine Gegenwehr halfen mir. Am Ende lag ich dennoch weinend und zusammengekauert im Bett. Wieder war er verschwunden, hatte mich allein gelassen. Und wieder konnte ich mich erst rühren, als er ins Zimmer kam und sich neben mich aufs Bett setzte. Zwei Hände zogen mich an seinen Körper und streichelten mich sanft. Beruhigende Worte drangen in mein Ohr, doch erreichten mich nicht.
Erst nach einer Weile versiegten die Tränen. Langsam verstand ich auch die Worte, die an mich gerichtet wurden. »Warum tust du das?«
Verwundert sah ich auf. »Was?«, war das Einzige, was ich herausbrachte.
»Warum provozierst du mich?« Zu meinem Erstaunen nahm ich auch in seinen Augen Tränen wahr. »Warum tust du das, du hast versprochen, dich nicht mehr mit ihnen zu treffen.«
»Aber ich hab doch gar nicht ...«
»Isaac, so funktioniert das nicht!«, wurde ich harsch unterbrochen. »Du hast mir etwas versprochen! Du kannst das nicht einfach brechen, wie es dir beliebt!«
Ich machte mich aus den Armen frei. »Du hast ...«
»Du siehst doch, was passiert, wenn du dich nicht daran hältst!«, fiel er mir erneut erbost ins Wort.
Perplex konnte ich nicht anders, als ihn entgeistert anzustarren. Das war doch nicht ...
»Halt dich von ihnen fern!« Er stieß mich endgültig von sich und stand auf. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Noch immer ratlos sah ich ihm hinterher. Das konnte doch nicht ... Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Er hatte sein Versprechen gebrochen! Er hatte ...
Mir wurde schlecht und ich lief eilig ins Bad.
Nachdem ich mich, wie schon beim letzten Mal, gründlich gewaschen hatte, ging ich zurück zum Schlafzimmer, um ein paar Sachen zu packen. Ich würde gehen! Diesmal endgültig. Ich würde nicht mehr zurückkehren! Keines seiner Worte würde mich je wieder zurückbringen.
Als ich vor der Tür stand, hörte ich dahinter ein lautes Schluchzen. Ich straffte meine Schultern und öffnete sie.
Er saß zusammengekauert auf dem Bett, den Kopf in seinen Händen. Als er meine Schritte bemerkte, sah er auf.
Ich ignorierte ihn und ging zum Schrank, um eine Tasche und meine Sachen daraus zu holen.
»Isaac, bitte ...«
Ich versuchte weiterhin, ihn zu ignorieren und meine Sachen zu packen. Daher bemerkte ich auch nicht, wie er aufstand und zu mir herüberkam. Er zog mich in seine Arme, doch sofort machte ich mich los.
Er senkte den Kopf und schniefte: »Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun. Ich … Es tut mir leid.«
»Du hast mir wehgetan!«, schrie ich ihn an. Noch immer konnte ich das viel zu deutlich spüren.
»Ich wollte das nicht. Bitte, Isaac, lass uns reden.« Er hob den Kopf und in seinen Augen war deutlich zu sehen, dass er es ernst meinte. Er ergriff meine Hände. »Bitte! Ich will dich nicht verlieren. Bleib bitte hier.«
Vehement schüttelte ich den Kopf. Nein, ich würde mich nicht wieder einlullen lassen!
Doch seine nächsten Worte ließen mich stocken. »Wo willst du denn hin? Bitte bleib hier. Von mir aus kannst du im Wohnzimmer schlafen oder unten, aber bitte, geh nicht. Ich will nicht, dass du wieder auf die Straße musst.«
Noch eine ganze Weile redete er auf mich ein. Seine Augen füllten sich immer wieder mit Tränen. Der Schmerz, der mir aus ihnen entgegenblickte, war nur allzu deutlich.
Irgendwann ließ ich die Tasche auf den Boden und mich in seine Arme fallen.
Noch immer spukte der Traum der vergangenen Nacht in meinem Kopf herum. Natürlich hatte er mich genau pünktlich, wie jedes Jahr an diesem Tag, heimgesucht und mir gezeigt, dass ich an all dem, was mir geschehen war, selbst die Schuld trug. Ich hätte gehen können, doch ich hatte mich einlullen lassen. Unnötig zu sagen, dass ich an diesem Abend nicht mehr gegangen war und auch danach nie wieder. Ich hatte es mir anfangs so oft vorgenommen, doch nie geschafft. Immer hatte ich ihm geglaubt, mir eingeredet, dass ich nicht wegkonnte, dass ich die Band nicht im Stich lassen konnte. Nun hatte ich keine andere Wahl, als mit dieser Entscheidung zu leben.
Dennoch ließen mich die Erinnerungen erschaudern. Unruhig sah ich mich immer wieder in der Menschenmenge um. War es wirklich eine gute Idee, sie ausgerechnet hier zu treffen?
Eine Hand legte sich sanft auf meine Schulter. »Ist alles gut?«
Ich atmete tief durch und nickte. Ich wollte mir nichts von dem anmerken lassen, was in meinem Kopf geschah. Lance musste nicht noch mehr wissen. Für meinen Geschmack war es schon viel zu viel. Außerdem beäugte Nancy uns misstrauisch. Sie musste erst recht nichts erfahren. Ich vertraute Lance, dass er ihr nichts erzählt hatte. Er tat so etwas nicht.
Nach einer Weile sah ich Toby und Roger auf uns zukommen. Fast schon reflexartig wollte ich in der Menschenmenge untertauchen, wollte hier nicht mit ihnen gesehen werden, doch ich hielt mich eisern an Ort und Stelle. Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass ich noch unruhiger wurde und immer wieder die Gesichter der Umstehenden absuchte, obwohl ich wusste, dass es nicht nötig war. Er war sicher nicht da. Trotzdem hatte ich das nie ablegen können.
Nach diesem Vorfall vor fünf Jahren waren wir nicht mehr zum Feuerwerk gegangen. Er hatte nicht gewollt und ich hatte zu viel Angst gehabt. Denn allein hätte er mich nie gehen lassen und die Gefahr, wieder auf sie zu treffen, war zu groß gewesen. Erst nach der Trennung war ich wieder mit Lance hierher gekommen. Doch meine Angst ließ nicht nach. Schon gar nicht, wenn ich jetzt auch noch mit Toby und Roger hier war.
Sie umarmten Lance, der etwas auf sie zugegangen war, dann stellte er ihnen Nancy vor. Ich konnte nicht verhindern, dass sofort die Bilder von damals wieder in meinem Kopf waren. Innerlich machte ich mich schon darauf gefasst, dass sich gleich von hinten ein Arm um meine Hüfte legen würde. Doch nichts dergleichen geschah.
Stattdessen kamen die beiden lächelnd auf mich zu. »Hallo Kleiner.«
»Hi«, antwortete ich möglichst ruhig, wich jedoch automatisch einen Schritt zurück, als mich Roger umarmen wollte.
Sie warfen mir einen besorgten Blick zu und Toby setzte schon zum Sprechen an, doch ich schüttelte nur leicht den Kopf. Nein, ich wollte jetzt keine Fragen beantworten. Nicht vor Nancy, nicht in dieser Menschenmenge. Waren plötzlich so viele Menschen neu dazugekommen? Oder bildete ich mir das nur ein?
Während ich noch tief durchatmete und mich bemühte, das Zittern zu unterdrücken, schlug Lance vor, dass wir uns einen Platz suchten, von dem aus wir einen guten Blick hatten. Mittlerweile war die Straße wieder etwas leerer als noch vor ein paar Jahren, vermutlich tummelten sich die meisten wieder auf der Esplanade.
Wir fanden ein Rasenstück, auf dem wir zwei Decken und ein paar mitgebrachte Snacks ausbreiteten. Während sich Nancy direkt verliebt in Lance’ Arme schmiegte, ließen sich Toby und Roger auf meiner anderen Seite nieder. Roger, der näher zu mir saß, lehnte sich leicht gegen seinen Freund, gab ihm einen flüchtigen Kuss und flüsterte ihm dann etwas zu, was ich über die allgemeine Geräuschkulisse hinweg nicht verstand. Die Antwort darauf war ein leises Lachen. Dann küsste Toby ihn und flüsterte zurück.
Nachdem Roger kurz grinsend den Kopf geschüttelt hatte, wandte er sich an mich. Er streckte die Hand nach mir aus und fragte: »Was ist, willst du herkommen?«
Schnell verneinte ich und sah mich wieder einmal um. Um Gottes willen, was dachte er sich dabei? Ich konnte doch hier unmöglich näher zu ihnen rutschen, wenn sie so vertraut miteinander turtelten. Was würden die Leute denken, wenn uns jemand sah?
Natürlich wusste ich, dass es mir egal sein sollte, dass es das früher auch gewesen war, doch ich konnte es nicht. Zu groß war die Angst, dass er sich hier aufhielt. Dabei war das mindestens genauso albern.
Roger zuckte mit den Schultern und wandte sich erneut Toby zu. Offenbar war das Thema für ihn damit erledigt. Toby sah noch einmal kurz überlegend zu mir, doch auch er schien sich nicht lange mit der Sache aufhalten zu wollen. Er schlang die Arme um seinen Freund und zog ihn fester an sich.
Es hätte wirklich schön sein können, mit meinem besten Freund, seiner Freundin und einem weiteren Pärchen dort gemütlich zu sitzen, zu quatschen und sich später das Feuerwerk anzusehen, das kurz danach auch losbrach. Ich fühlte mich mit den lieben Menschen um mich herum noch nicht einmal wie das fünfte Rad am Wagen, obwohl beide Pärchen sehr vertraut miteinander kuschelten. Doch statt ihre Gesellschaft zu genießen, zog ich meine Beine an und schlang meine Arme darum. Fast die gesamte Zeit, bis das Feuerwerk losging, blickte ich zu Boden und verhinderte so, dass ich mich weiterhin ängstlich umsah.
Auch das Feuerwerk konnte mich kaum ablenken. Es wurde sogar noch schlimmer. Während die anderen in den Himmel sahen, konnte ich ja schlecht die Muster auf der Decke zählen. Also musste ich auch aufsehen. Damit war jedoch meine Ablenkung weg. Immer wieder flog mein Blick über die uns umgebenden Menschen und scannte, ob ein bekanntes Gesicht dabei war. Sobald sich irgendjemand in der Umgebung bewegte, musste ich nachsehen, wer es war.
Ich war schon fast froh, als die bunten Lichter am Himmel endlich verebbten und ich wieder die Decke beobachten konnte. Ich spürte, dass ich begann zu zittern. Das war zu viel. Als sich auch noch plötzlich eine Hand auf meine Schulter legte, schrak ich zusammen.
»Ganz ruhig, Kleiner«, versuchte Toby, mich zu beruhigen, und zog die Hand weg. »Ich wollte nur fragen, ob du mit zu uns kommst? Wir müssen direkt los, damit wir noch die letzte Bahn erwischen.«
Schnell schüttelte ich den Kopf. »Nein, wir wollten noch ein wenig weggehen.«
»Na gut, dann wünsche ich euch viel Spaß.« Nach seiner Miene zu urteilen war er sehr besorgt, doch er sagte nichts weiter.
Gemeinsam sammelten wir die Decken und sonstigen Utensilien ein. Nachdem wir damit fertig waren, verabschiedeten sich die beiden Pärchen voneinander. Toby machte nicht einmal den Versuch, mich zu umarmen, und hielt auch Roger davon ab, als dieser einen Schritt auf mich zu machte.
Ich lächelte und hob nur einmal kurz die Hand, bevor ich mich mit Lance und Nancy auf den Weg machte. »Schönen Abend noch.«
Unterwegs beichtete Lance, dass er und seine Freundin nicht mehr mit in den Club kommen würden. Begeistert war ich nicht, doch ich empfand es auch nicht als sonderlich schlimm. Das war besser, als wenn er mir später noch Löcher in den Bauch fragte, warum ich so schlecht drauf gewesen war. Dann hatte ich lieber meine Ruhe und konnte mich hoffentlich ablenken.