Irgendwie schaffte Lance es wirklich in einer Viertelstunde bis nach Medford. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele Verkehrsregeln er dafür gebrochen hatte. Doch ich war froh, ihn zu sehen. Langsam wurde es mir zu viel mit Toby und Roger. Ja, es war angenehm, sie wiederzusehen, aber gleichzeitig wusste ich auch, dass es das letzte Mal sein würde. Denn je länger wir uns unterhielten, desto bewusster wurde mir, dass sie mehr wollten als eine Freundschaft. Immer wieder machten sie Andeutungen, sprachen von Dingen, die früher gewesen waren, holten damit Erinnerungen hervor, die ich für sicher verschlossen gehalten hatte. Nein, eine Freundschaft mit ihnen würde nur dazu führen, dass ich noch häufiger bei fremden Männern aufwachte.
Lance war natürlich deutlich verwirrt, als er über den Gartenzaun blickte und Roger ihm direkt zuwinkte. »Hey, Lance. Komm rein. Einfach den Riegel zur Seite schieben.«
»Ehm, hi«, grüßte er verwundert, umarmte die beiden aber dennoch herzlich. Dann fiel sein Blick auf mich. »So wirklich entführt siehst du mir nicht aus.«
»Nee, wer hat das denn behauptet?«, fragte Toby nach. Kurz klärten wir ihn über das Telefonat auf, was ihn zum Schmunzeln brachte. »Das war maximal eine gewollte Entführung.«
»Toby, du verwechselst da was. Was du meinst, nennt sich Verführung«, verbesserte ihn sein Freund grinsend.
Das war für mich das Signal zu gehen. Das wurde mir zu viel. Eilig stand ich auf. »Entschuldigt uns, wir müssen los.«
»Schon gut. Wir bringen euch noch zum Tor.« Toby und Roger standen auf und begleiteten uns. Zuerst umarmten sie Lance zum Abschied, dann mich.
Als mich Roger als erstes umarmte, spürte ich plötzlich Finger an meinem Hintern. Panisch sprang ich zurück. In seiner Hand hielt er den Zettel, den er sofort in die Luft streckte, damit ich nicht herankam.
Wütend funkelte ich ihn an. »Gib den her!«
Doch er ließ sich davon nicht beeindrucken. »Den behalten wir erstmal hier. Du wolltest doch noch deine Schulden begleichen. Wir schicken dir nachher eine SMS. Entweder du beantwortest sie und wir sind quitt oder du antwortest nicht und überweist einfach das Geld. Ist das ein Deal?«
Toby interessierte der Tumult überhaupt nicht. Er schlang seine Arme kurz um mich, dann hielt er mich noch einen Moment leicht am Arm fest und strich mir eine Strähne hinters Ohr. Fest, aber dennoch sanft, sah er mir in die Augen. »Du entscheidest, ob du antworten möchtest. Dir ist niemand böse, wenn du die SMS einfach löschst. Nimm dir dafür so viel Zeit, wie du brauchst. Diesmal geht es allein in deinem Tempo. Du bestimmst, wie weit wir gehen. Und wenn du uns nicht mehr sehen willst, ist das auch in Ordnung.«
Statt ihm eine Antwort zu geben, drehte ich mich einfach um. Nichts geschah in meinem Tempo, denn es gab kein mein Tempo! Da würde nie wieder etwas sein. Das war das letzte Mal, dass wir uns sahen.
Während ich mit Lance zum Auto lief, strich ich mir kurz an der Stelle über die Schläfe, an der Toby mich berührt hatte. Noch immer kribbelte sie von der leichten Berührung. Als es nicht besser wurde, rubbelte ich wütend darüber. Ich hasste es, wenn mein Körper gegen mich arbeitete!
Kaum saß ich im Auto, fluchte ich und warf mich frustriert im Sitz zurück. Scheiße! Ich hätte nie bei ihnen landen dürfen!
Während er den Motor startete, sah Lance zu mir herüber und betrachtete mich besorgt. »Alles gut?«
»Seh ich so aus?«, fuhr ich ihn an. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, dass ich noch verdammt glimpflich aus der Situation herausgekommen war. Es hätte auch ganz anders laufen können. Die beiden hatten ein großes Potential, alles wieder an die Oberfläche zu holen, was ich die letzten Jahre weggesperrt hatte.
»Hey, ich kann nichts dafür!«, beschwerte sich Lance in harschem Ton, während er anfuhr. »Ich hab dich auch nur aufgegabelt.«
Ich atmete tief durch. »Ich weiß ... Es ist nur ... Ich bin den beiden doch nicht umsonst so lange aus dem Weg gegangen.«
Wir bogen auf die nächstgrößere Straße ein, die uns aus der Vorstadtsiedlung heraus und in das verschlafene Städtchen Medford hineinführte. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass sie ihr Leben in der Großstadt gegen das hier eingetauscht hatten. Alle Geschäfte, an denen wir vorbeifuhren, waren geschlossen und bis auf ein paar Familien auf ihrem Sonntagsausflug war kaum jemand auf der Straße.
»Wie bist du überhaupt hierhergekommen?«, fragte Lance unvermittelt.
»Kennst du einen Club namens Overload?« Lance schüttelte überfragt den Kopf. »Gut, ich auch nicht. Aber ich bin da wohl mit ’nem Typen aufgetaucht und hab später Stress mit ihm bekommen. Toby hat sich dann eingemischt. Zumindest hat Roger das vorhin behauptet. Sie wollten mich dann nach Hause bringen, aber ich war wohl so betrunken, dass ich unbedingt mit ihnen fahren wollte.«
Lance schien über meine Worte nachzudenken und schwieg. Als er auf die Interstate 93 fuhr, sah er kurz zu mir herüber und meinte dann plötzlich: »Vielleicht ist es ja auch ganz gut so.«
»Was meinst du?«, fragte ich etwas zu laut und riss die Augen auf. »Wie kann das gut sein?«
»Sie könnten dir helfen«, behauptete er und sah dabei nur ganz kurz zu mir.
»Das sind Toby und Roger! Wie zur Hölle sollten sie mir helfen? Du glaubst doch nicht, dass sie nur auf eine platonische Freundschaft aus sind.« Nein, sie waren sogar ziemlich deutlich gewesen. Mit seiner letzten Aussage meinte Toby ganz sicher keine Freundschaft.
»Deshalb ja.« Diesmal sah mich Lance nicht an, sondern hatte den Blick fest auf die Fahrbahn gerichtet. »Isaac, das bist nicht mehr du! Früher hast du mit jedem geflirtet, der dir auch nur annähernd gefiel. Ja, du hast keine Kerle angemacht vor Toby, aber du hast dich nie gescheut neue Kontakte zu knüpfen. Jetzt bekommst du Panik, wenn dich ein Kerl auch nur mal näher anschaut, erst recht, wenn er es dann auch noch wagt, dich anzusprechen. Ich versteh ja, dass es nicht einfach ist, nach dem, was passiert ist, aber du solltest es dir wirklich überlegen. Es könnte deine Chance sein, endlich wieder du zu werden. Oder du suchst dir endlich ’nen verfickten Psychodoc! Du weißt doch, dass dir die beiden nie etwas tun würden.«
»Das dachte ich schon mal!«, fuhr ich ihn an.
Lance biss sich auf die Lippe. Da war es wieder, das schlechte Gewissen, dass er nichts von dem bemerkt hatte, was mir über Jahre angetan wurde. Bis auf Mat hatte wohl nie jemand etwas geahnt. Und diesen hatte ich jedes Mal, wenn er fragte, ob etwas nicht stimmte, angelogen. Bis er es fast aus mir herausgeprügelt und mich dann aus der Wohnung geschafft hatte.
Zum Glück sprach Lance weiter und hielt die Erinnerungen damit fern: »Aber bei den beiden ist es etwas anderes. Sie werden nicht plötzlich eifersüchtig werden. Und wenn etwas ist, kannst du gehen. Du hast deine eigene Wohnung und du bist nicht von ihnen abhängig.«
»Sie sind der Grund, warum das alles passiert ist!« Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper, um mich am Zittern zu hindern. Langsam krochen die Erinnerungen nun doch nach oben, griffen mit ihren Fangarmen nach mir, wollten mich ins Dunkel ziehen.
»Du weißt, dass das nicht stimmt. Der Grund war seine krankhafte Eifersucht!«, erinnerte mich Lance daran, dass er wusste, dass das nur eine bequeme Lüge war, um mich dem nicht stellen zu müssen. Dennoch hätte ich mir gewünscht, er würde mir nur dieses eine Mal glauben.
Ich schwieg die restliche Fahrt, hing meinen Gedanken nach und warf sie hin und her. Einerseits wollte ich an Lance’ Aussage glauben, wollte mir vormachen, dass sie mir vielleicht wirklich helfen konnten. Andererseits wusste ich, dass es nicht ging, dass mich jede kleine Berührung von ihnen in Panik versetzen würde. Vermutlich würden zum Teil schon ihre Worte dafür ausreichen. Eine Freundschaft, ohne ihnen reinen Wein einzuschenken, was alles geschehen war, konnte nicht funktionieren.
Nur am Rande nahm ich wahr, dass sich der Verkehr verdichtete, bis wir die Interstate verließen und uns durch den Großstadtverkehr schlängelten, der hier in Downtown selbst am Sonntagnachmittag noch unglaublich dicht war.
Erst als Lance parkte und mich wieder ansprach, schreckte ich aus den Gedanken auf. »Packst du das?«
Ich nickte und atmete tief durch, bevor ich aus dem Auto stieg. Auf dem Weg zum Gebäude, in dem unser Probenraum lag, konzentrierte ich mich ganz und gar auf die vor mir liegende Aufgabe. Das Erwachen bei Toby und Roger hatte unweigerlich Isaac zum Vorschein gebracht, doch er wurde hier nicht gebraucht.
Etwas Gutes hatte das jahrelange Versteckspiel: Ich hatte gelernt, auf Kommando mein professionelles Ich zu sein. Kaum hatte ich einen Fuß ins Innere gesetzt, waren alle Gedanken an den Morgen und Toby und Roger verschwunden, es zählte nur noch mein musikalisches Verständnis.
»Trapped in this world of double blind
Convince myself once more that I am fine
I’m falling down, can’t take no more
To get some tenderness I play the whore«
Philosopher’s Point – Emotional Chaos