Einige Wochen später saß ich gemütlich bei James auf dem Sofa. Im Fernseher lief Poker, doch das interessierte mich reichlich wenig, aber er schien ein Fan davon zu sein. Zumindest hatte ich ihn schon häufiger Poker schauen sehen. Nur davon, selbst mal eine Runde zu wagen, hatte ich ihn noch nicht überzeugen können.
Während ich gerade noch die Beine auf die Couch zog, setzte er sich dazu und reichte mir eine Colaflasche und ein Glas. »Was hast du jetzt eigentlich nach dem College vor? Bist du da schon weiter?«
Genervt sah ich zu ihm und verdrehte die Augen. Mensch, es hätte so ein gemütlicher Abend werden können, warum musste er mich jetzt mit solchen Fragen nerven? Aber vermutlich hätte ich damit rechnen müssen, dass er mal wieder damit anfing. Ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich wusste er das doch ganz genau.
»Brauchst du ein Empfehlungsschreiben?«
»Hmm. Von mir aus. Auch wenn ich nicht glaube, dass es mir etwas nützt. Das wird uns kaum einen Plattenvertrag oder Auftritte einbringen. Geschweige denn neue Ideen.« Ich nahm mir einen der selbstgebackenen Kekse vom Tisch und kaute darauf herum. Bäh, na da musste er noch ein wenig üben. Warum fiel ich eigentlich jedes Mal wieder darauf herein? Ich wusste doch, dass er nicht backen konnte. Ein Wunder, dass sie ihm nicht verbrannt waren.
»Du könntest ohne Probleme ans Opera Institute«, versuchte er es schon zum gefühlt tausendsten Mal in den letzten Jahren.
»James!« Frustriert hob ich die Hände. »Wie oft denn noch: Ich hab da kein Interesse dran. Das ist nicht das, was ich den Rest meines Lebens machen will. Ich will nicht jeden Abend irgendwelche Opern singen. Das ist nicht meins. Ich komm mit diesen ganzen Theaterleuten einfach nicht klar.«
»Wie wäre es dann mit einem Masterstudium?«, versuchte er es hartnäckig weiter. Warum führte ich dieses Gespräch eigentlich noch mit ihm? Es verlief doch sowieso jedes Mal gleich.
»Ich will dir nicht noch länger auf der Tasche liegen«, gab ich bockig zurück. Ein Masterstudium brachte mich doch auch nicht weiter, ich sah es doch an Lance. Wobei er das auch nur machte, damit ich nicht allein in der WG wohnte, da war ich mir recht sicher, auch wenn er das nicht zugab. So würden wir beide gleichzeitig im Juni das Studium beenden.
James lächelte sanft und schüttelte den Kopf. Er legte seine Hand leicht auf meinen Arm. »Tust du doch nicht.«
Ich verdrehte die Augen. Ja, das sah er so. Ich empfand es anders. Ohne seine Hilfe hätten weder Lance noch ich uns die WG leisten können, sodass wir in ein Wohnheim gemusst hätten, in dem es keine Apartments, sondern nur Schlafzimmer gab und die Dusche auf dem Flur war. Das war auch der Grund, weshalb ich regelmäßig zu James nach Hause kam. Ich hatte ein schlechtes Gewissen dabei, seine Hilfe anzunehmen, aber gleichzeitig seine Einladungen auszuschlagen. Lance sah das Ganze etwas weniger verbissen. Meistens kam er nicht mit. Aber er hatte ja auch James nicht erst vor ein paar Jahren wirklich kennengelernt. In seinen Augen war James ein jahrelanger Freund der Familie.
»Du weißt, dass ich dir das zurückzahle, sobald ich kann«, drohte ich ebenfalls zum gefühlt tausendsten Male, damit er das ja nicht vergaß. Ich würde mich nicht von ihm abhängig machen! Ich sah das eher als eine Art günstiges Darlehen.
»Musst du nicht. Ist doch selbstverständlich, immerhin bin ich dein Patenonkel. Ich muss doch für dich sorgen.« Schelmisch grinste er mich an, während ich wieder die Augen verdrehte. Seitdem ich erfahren hatte, dass er mein Patenonkel war, hielt er mir das ständig vor.
Er war davon ausgegangen, dass mein Vater mir das erzählt hätte, doch dieser hatte es wohl nicht für nötig erachtet, als ich ihn nach James gefragt hatte. Daher hatte ich es erst erfahren, als James mir am Sonntag nach meinem Geburtstag plötzlich einen kleinen Umschlag in die Hand drückte. Es war derselbe gewesen, den ich schon so lange ich denken konnte jedes Jahr von meinen Eltern mit den Worten ›von deinem Onkel‹ zum Geburtstag erhalten hatte. Nun hielt James es mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor.
»Wie willst du mir das Geld denn zurückzahlen, wenn du nicht mal weißt, was du nach diesem Semester machen willst?«, fragte er provokativ und mit hochgezogener Augenbraue.
»Wir werden es schon schaffen!« Verdammt, wenigstens er sollte doch an Lance und mich glauben.
»Daran zweifle ich ja gar nicht. Aber das wird eben seine Zeit dauern. Und bis dahin musst du doch auch von irgendwas leben.«
»James, du bist nicht mein Vater!«, fuhr ich aus der Haut.
Er zuckte kurz zusammen und verzog verärgert das Gesicht. Natürlich, ich wusste ja, dass er meinen Vater nicht wirklich mochte. Oder nicht mehr mochte, immerhin war es vor vielen Jahren auch mal anders gewesen.
Etwas versöhnlicher fuhr ich fort: »Ich bekomm das schon irgendwie hin. Im Moment reicht es doch auch.«
Diesmal war er es, der die Augen verdrehte. »Aber es wird nach dem Studium nur noch teurer. Du kannst dann auch nicht mehr auf dem Campus wohnen und musst dir eine eigene Wohnung suchen, vergiss das nicht.«
Genervt stöhnte ich. Sonst hörte er doch auch irgendwann auf zu nerven. Warum war er heute so hartnäckig? Spätestens nachdem ich ihm erklärte, dass er nicht mein Vater war, gab er doch sonst immer Ruhe. Es sei denn ... Kurz sah ich ihm in die aufblitzenden Augen. »Wenn du mich so nervst, dann hast du doch irgendwas vor, oder nicht?«
Schelmisch grinste er mich an. Hatte ich es doch gewusst! Mittlerweile konnte ich ihn doch ziemlich gut einschätzen. »Ich habe nur ganz zufällig gehört, dass Bekannte einen Gitarrenlehrer für ihren siebenjährigen Sohn suchen. Könntest du dir das vorstellen?«
»Klar, warum nicht. Aber es gibt doch mehr als genug Lehrer. Da gibt es doch einen Haken, wenn du dafür mich fragst.« Ich kannte James. Wenn es nur ein einfacher Job wäre, hätte er mich einfach gefragt. Einen solchen Umweg, mir vorher ins Gewissen zu reden, ging er nur, wenn er etwas wollte, dass mich an meine Grenzen brachte.
»Na ja, der Sohn ist etwas ... schwierig. Er hat ein paar Probleme sich zu konzentrieren. Daher würde er sich auf der Musikschule sehr schwertun und vermutlich auch nichts lernen. Aber im Einzelunterricht, wenn man sich geduldig Zeit für ihn nimmt, hätte er sicher gute Chancen. Er ist wirklich motiviert und hat sich auch schon einiges selbst beigebracht. Du hast doch Erfahrung mit Kindern«, versuchte er unnötigerweise, mich zu überreden.
»Ich kann es mir ja mal ansehen und dann sehen wir, ob er und ich klarkommen.« Viele andere Möglichkeiten hatte ich ja nicht. Natürlich hatte ich wie jeder andere in unserem Studiengang das ein oder andere Engagement am Theater oder bei Veranstaltungen gehabt und verdiente mir damit immer wieder etwas dazu. Aber nach dem Studium würde es auch nicht leichter werden, an so etwas heranzukommen. Da war die Idee von James schon gut.
»Keine Sorge, sie zahlen dafür auch wirklich gut.« Er lächelte mich siegessicher an und stand kurz auf, um einen Zettel mit einer Telefonnummer aus seiner Jacke im Flur zu holen, welchen er mir reichte, als er wiederkam. »Wie läuft es eigentlich ansonsten bei dir?«
»Ich kann mich nicht beschweren.« Ich gab ihm eine Kurzzusammenfassung, was sich seit unserem letzten privaten Treffen im November bei mir getan hatte.
So weit möglich trennten wir unsere privaten Treffen und die Gesangsstunden, die ich nach dem Lehrplan der Uni noch immer nehmen musste. Jeder in unserem Studiengang hatte einen Dozenten, bei dem er Privatunterricht nehmen musste, damit eine gute Ausbildung gewährleistet war. In meinem Fall war es eben James. Ich hatte gar nicht die Illusion, dass es Zufall war.
Viel konnte ich ihm aber nicht berichten. Lediglich ein paar bestandene Zwischenprüfungen, das war es dann auch schon. Dennoch sah er zufrieden aus. »Klingt doch gut. Zumindest scheint es nicht so, als würde es mit dem Abschluss knapp werden.«
»Nein, das wird. In klassischer Literatur ein paar Schwierigkeiten, aber das wird mir den Schnitt nicht wirklich runterziehen.« Ohne es wirklich zu wollen, straffte ich die Schultern. Irgendwo war ich stolz darauf, das College recht problemlos bestehen zu können.
»Klingt doch gut.« Erneut stand James auf. »Hilfst du mir eigentlich beim Essen? Oder hast du noch keinen Hunger.«
Dass mein Magen schon beim Gedanken an etwas zu Essen knurrte, war wohl Antwort genug. James schmunzelte und ging dann vor in die Küche. Tatsächlich schafften wir es, etwas Essbares zu kochen, wobei das wohl eher James zuzuschreiben war als mir. Gemeinsam aßen wir im Wohnzimmer und unterhielten uns danach noch eine ganze Weile, bis ich mich dann am späten Abend auf den Weg zurück zur WG machte.
Vor James’ Haustür begegneten mir ein paar Kommilitonen, die wie immer sofort ihre Köpfe zusammen steckten, sobald sie mich sahen.