Zu Hause begab ich mich direkt in mein Arbeitszimmer. Mir war auf dem Weg eine Idee gekommen, die ich gleich umsetzen wollte. Auch wenn diese nicht wirklich dem Konzept von Blutlaster entsprach, war es mir wichtig, sie weitestmöglich zu entwickeln, denn ich hatte bemerkt, dass es mich durchaus weiterbrachte, auch einmal Ungewöhnliches auszuprobieren. Nicht selten ergab sich dann auch der ein oder andere Part, der sich später wiederverwenden ließ. Und ansonsten blieb das gute Gefühl, endlich mal wieder etwas geschaffen zu haben.
Nach einer Stunde hatte ich ein grobes Gerüst, nach zwei eine gute Idee, wie das fertige Stück klingen würde. Ich hielt alles fest und widmete mich dann meinem PC. Bevor ich weiterarbeitete, wollte ich ein paar Nächte darüber schlafen. Bis das Werk fertig war, konnten gut ein paar Wochen vergehen. Wie ich mich kannte, würde ich immer wieder Stellen finden, die man verbessern konnte; eine Eigenschaft, die Angel und Zulu regelmäßig in den Wahnsinn getrieben hatte. Vermutlich war Perfektionismus ansteckend. Zum Glück hatten Zulu, Angel und Zombie meistens erst die fast fertigen Stücke zu Gesicht bekommen. Er und ich hatten die Rohfassungen immerhin häufig mehr als nur einmal komplett umgeschmissen.
Nachdem ich erst die MySpace-Nachrichten der Band beantwortet hatte, widmete ich mich meinem eigenen Künstleraccount. Ich hatte ihn angelegt, als ich mich von den Death Demons getrennt hatte und ihn dann trotz der neuen Band beibehalten.
Eher gelangweilt klickte ich mich durch die Nachrichten. Es war nicht, als wären mir meine Fans nichts wert, aber der Inhalt der Mails war immer gleich. Viele wollten mir nur sagen, wie toll sie mich fanden, dass sie mich gern mal wieder live sehen würden und so weiter. So höflich wie möglich beantwortete ich sie.
Dann zog eine Nachricht meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie begann wie viele anderen auch. »Ich bewundere deine Musik, sie inspiriert mich, bla bla.« Immer die gleiche Leier. Doch dann begann die Verfasserin zu erzählen, wie ihr die Musik durch schwere Zeiten geholfen hätte und was sie daher für sie bedeutete. Eher verwirrt nahm ich das Ganze zur Kenntnis. Ich fand es merkwürdig, jemandem, den man im Grunde nicht kannte, so etwas Privates zu erzählen.
Vorerst ließ ich die Nachricht unbeantwortet, da ich nicht wusste, wie ich darauf reagieren sollte. Vielleicht würde mir in den nächsten Tagen eine Antwort darauf einfallen. Doch zuerst wollte ich den fortgeschrittenen Nachmittag nutzen, um ein wenig Geld zu verdienen. Also schnappte ich mir meine alte Gitarre und machte mich auf den Weg.
In den nächsten Tagen fragte ich mich immer wieder, was jemand, der solche Nachrichten schrieb, für eine Antwort erwartete. Erst nach und nach wurde mir klar, dass sie sich vielleicht gar keine Reaktion auf das Erlebte erhoffte, sondern sich nur mitteilen wollte. Sie stellte keine Fragen, berichtete einfach nur. Daraus ergab sich aber auch die Überlegung, warum man das jemand Fremdem erzählte?
Als ich mich mit Lance darüber unterhielt, fand ich darauf eine Antwort: Vermutlich war das genau der Grund, weshalb sie das überhaupt erzählen konnte. Ich kannte sie nicht, ich würde nie wissen, wer hinter der Nachricht stand, konnte sie folglich auch nicht verurteilen.
Es dauerte noch ein paar Tage, bis ich selbst den Entschluss fasste, das ebenfalls zu versuchen. Je öfter mich Toby und Roger auf das Geschehene ansprachen, desto mehr wurde mir bewusst, dass sie zumindest in dem Punkt recht hatten, dass ich mit jemandem darüber reden musste. Da von den Leuten, die ich kannte, niemand in Frage kam, war das vielleicht eine Möglichkeit. Doch ich wollte nicht einfach irgendjemanden damit zutexten.
So kam es, dass ich mich in einem Selbsthilfeforum anmeldete. Vorerst nur, um zu lesen, was andere schrieben, denn die ersten Beiträge, die ich fand, handelten allesamt von Frauen. Noch immer war die Angst zu groß, als schwach und unmännlich abgestempelt zu werden. Als Mann sollte ich mich doch besser wehren können.
»Eternal pleasure deep within me
Empty words taint your lips
Lay all your secrets bare
Cast away what was before«
Solemn Novena – Siren