Flehend bat ich: »Bitte ... du tust mir weh ...«
»Alles gut, Kleiner. Dir passiert nichts. Wach auf. Hörst du, du musst aufwachen. Es ist alles gut.«
Nur langsam verstand ich, dass die Hand, die mir durch die Haare strich, nicht zum Traum gehörte. Genauso wie die Stimme, die sanft auf mich einsprach. Allmählich gelangte ich in die Realität und öffnete die Augen.
Warme braune Augen blickten aus einem besorgten Gesicht auf mich hinab. Noch immer ließ Toby seine Hand durch meine Haare wandern. »Es ist alles gut, Kleiner. Du hast nur schlecht geträumt.«
Noch immer nicht ganz wieder in der Realität angekommen, nickte ich. Was tat er hier? Und wo war ich?
Benommen schaute ich mich um und erkannte das Wohnzimmer. Ach ja, ich war am Abend bei ihnen eingeschlafen. Langsam setzte ich mich auf. »Sorry, hab ich dich geweckt?«
Toby lächelte und nahm die Hand weg. Etwas enttäuscht sah ich ihr nach. »Nein, eigentlich wollte ich dich wecken. Roger und ich müssen gleich los und wollen noch frühstücken.«
Es war schon morgens? Dabei war es doch noch dunkel draußen. Wie früh mussten sie denn los? Ich rieb mir über die Augen. »Moment, ich steh gleich auf.«
»Magst du mir erzählen, wovon du geträumt hast?«
Ich schüttelte den Kopf und blickte auf die Decke vor mir.
Toby setzte sich zu mir an die Kante und ließ seinen Blick besorgt über mich wandern. Erneut streckte er die Hand nach mir aus und strich über meinen Arm. »Hast du von dem geträumt, was Peter mit dir gemacht hat?«
Erschrocken blickte ich auf. Woher ...?
Er seufzte und ein trauriger Ausdruck trat in sein Gesicht. Er griff nach mir und zog mich in seine Arme.
Erst jetzt merkte ich, dass ich zitterte. Ich wollte doch gar nicht zittern! Nicht, weil er einfach nur diesen Namen genannt hatte. Dennoch entfloh mir ein leises Schniefen und er zog mich noch fester an sich.
Erst als ich mich halbwegs beruhigt hatte, drückte er mich sanft von sich. Er wischte eine einzelne Träne von meiner Wange und sah mich dann forschend an.
Ich wich seinem Blick aus und fragte leise: »Woher weißt du das?«
»Du hast leise vor dich hingemurmelt, als ich reinkam und immer wieder darum gebeten, aufzuhören. Als ich Peter kennengelernt hab, hatte er dieselben Träume«, erklärte Toby ruhig und strich mir weiter liebevoll über die Wange. »Deswegen möchte ich auch, dass du dir Hilfe holst. Sonst werden die Träume nie besser. Glaub mir, ich hab mir das mehrere Jahre angesehen. Ich will nicht, dass es dir genauso geht wie ihm. Ich konnte damals nur zusehen, weil ich nicht wusste, wie ich ihm helfen kann. Ich will das nicht nochmal.«
Ich wollte ihm widersprechen, wollte ihm sagen, dass er Unrecht hatte, dass die Träume offensichtlich doch irgendwann aufhörten. Als ich ihn kennengelernt hatte, hatte er keine gehabt. Doch etwas hielt mich davon ab. Statt eines Widerspruchs entrang sich mir nur ein jämmerlicher Laut.
Nein, Toby hatte das nicht gesagt! Nein, er durfte so etwas nicht gesagt haben! Ich ... Ich ... Ich war nicht wie er ... Ich hatte doch nur Albträume ... Das hieß doch gar nichts! Jeder hatte mal Albträume. Oder? Nur deswegen wurde ich nicht wie er, oder?
Ein weiteres Schluchzen bahnte sich seinen Weg. Ich wollte nicht werden wie er! Nie!
Von weit her spürte ich, wie sich die Arme wieder um mich legten. Unfähig, mich dagegen zu wehren, da mich die Tränen durchschüttelten, ließ ich mich hineinsinken. Nur undeutlich brachte ich die Worte hervor: »Ich bin nicht wie er ...«
»Ich weiß«, flüsterte Toby und wiegte mich sanft. Nach einer Weile ließ er mich vorsichtig los. »Ich wollte auch nicht behaupten, dass du wie Peter bist. Ich wollte dir nur erklären, warum ich solche Angst um dich hab. Bei dem, was ihm selbst passiert ist, hab ich einfach Angst, was er dir angetan haben könnte. Kannst du das verstehen? Man hört einfach viel zu oft, dass die Leute das an anderen auf dieselbe Weise auslassen.«
Langsam nickte ich. Ja, ich verstand schon. Aber das machte es nicht besser. Ganz im Gegenteil. Ich hatte umso mehr Angst, ihm zu erzählen, was passiert war. Sagte er damit nicht sogar noch deutlicher, dass er glaubte, ich könnte genauso werden? Doch wenn ich ihn darauf ansprach, würde er sicher sagen, dass er das nicht so meinte. Es würde also nichts bringen.
Ich seufzte und entfernte mich noch ein Stück von ihm. »Kann ich duschen gehen?«
»Ja klar. Klopf nur einmal vorher an, ich weiß nicht, wie weit Roger ist.« Toby dachte also wirklich, ich wäre wie er! Immerhin war er auch nach Jahren noch immer einfach ins Bad gekommen, auch wenn ich ihn gebeten hatte, das zu lassen.
Frustriert schlürfte ich zum Schlafzimmer und ging hinein, nachdem Roger mich hereingerufen hatte.
»Ah, guten Tag, Mr. Valentine«, begrüßte mich Mister Grant. Ein wenig verwundert dreinschauend trat er zur Seite und ließ mich in sein Büro. »Ich bin ein wenig überrascht, ich hatte Sie nicht erwartet.«
Verwundert sah ich ihn an. Ja, mir ging es die letzten Tage nicht gut, aber ich hatte nicht geglaubt, so verwirrt zu sein, den Termin zu verwechseln. »Tut mir leid, ich dachte, ich hätte heute einen Termin?«
»Ja, natürlich. Kommen Sie erstmal rein.« Er wies in den Raum und wieder entschied ich mich für die Couch. Diesmal nahm ich den Kaffee, den er mir anbot, an. Ich brauchte etwas, an dem ich mich festhalten konnte. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht verunsichern. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass Sie tatsächlich kommen würden.«
Noch immer verwundert fragte ich: »Aber Sie haben doch ›Auf Wiedersehen‹ gesagt?«
Er lachte leise auf. »Ja, aber ich hab nicht damit gerechnet, dass Sie es sich so schnell überlegen. Um ehrlich zu sein, hatte ich eher damit gerechnet, Sie erst in ein paar Jahren nach einem Nervenzusammenbruch wiederzusehen. Immerhin schienen Sie mir beim letzten Mal nicht, als würden Sie tatsächlich mit mir reden wollen. Darf ich fragen, was sich geändert hat? Oder sind Sie wieder nur hier, weil Ihre Freunde Sie dazu gedrängt haben?«
Schnell schüttelte ich den Kopf und blickte dann in meinen Kaffeebecher. Erst nachdem ich einmal tief durchgeatmet hatte, konnte ich antworten. Dennoch kam es nur leise über meine Lippen: »Sie haben gesagt, ich wäre wie er.«
Er beugte sich etwas nach vorne, um mir wenigstens halbwegs ins Gesicht sehen zu können. »Ich nehme an, mit ›sie‹ meinen Sie Ihre Freunde?«
Ich nickte meiner Tasse zu und wartete. Dass ich hergekommen war, hieß noch lange nicht, dass ich mich wohl fühlte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie das Ganze ablaufen sollte.
Das Lächeln in Mister Grants Stimme war nicht zu überhören, als er weiter fragte: »Gut, Ihre Freunde haben also behauptet, Sie wären wie ›er‹? Jetzt wäre es natürlich gut zu wissen, wer ›er‹ ist.«
Sofern es ging, senkte ich meinen Kopf noch weiter. Okay, ich hatte es mir anders überlegt: Ich wollte doch nicht mehr darüber reden. Durfte ich einfach aufstehen und gehen? Er konnte mich nicht davon abhalten, oder?
Ich rutschte unruhig hin und her, konnte mich aber nicht entschließen, aufzustehen.
»Gut, ich vermute, damit haben wir ein Thema erreicht, über das Sie nicht sprechen wollen?« Wieder nickte ich. »Dann haben wir aber ein kleines Problem: Wenn Sie mir nicht sagen wollen, wer ›er‹ ist, dann können wir schlecht über die Aussage Ihrer Freunde reden, meinen Sie nicht?«
Ich spürte seinen Blick auf mir. Er sollte weiterreden! Irgendetwas sagen, auf das ich eingehen konnte und mit dem ich vom Thema ablenken konnte. Doch er sagte nichts weiter. Auch nicht, als das Schweigen langsam unangenehm wurde. Als ich es nicht mehr aushielt, seufzte ich. »Mein Exfreund.«
»Ihre Freunde haben also behauptet, Sie wären wie Ihr Exfreund?« Erst nachdem ich bestätigt hatte, fragte er weiter: »Warum ist das so schlimm? Sicher, niemand wird gern mit seinem Ex verglichen, aber so schlimm, dass Sie deshalb mit mir reden möchten ...«
Schon bei dem Gedanken, ihm etwas zu erzählen, begann ich zu zittern. Der Kaffee in meiner Tasse schwappte hin und her und drohte fast überzulaufen. Schnell nahm ich einen Schluck, doch es half nicht. Und auch der nächste und übernächste Schluck beruhigte mich nicht. Immer höher schlugen die Wellen und zogen mich in ihren Bann. War es eine Option, einfach in ihnen zu ertrinken?
Ich erschrak, als sich plötzlich eine Hand auf mein Handgelenk legte. Sofort ließ sie wieder los, als ich den Arm wegzog und dabei tatsächlich etwas Kaffee über den Rand schwappte. Doch das nahm ich nur am Rande wahr. Dafür wirkte das Zittern noch zu sehr nach.
Wie durch einen Schleier vernahm ich Mister Grants Stimme: »Mr. Valentine, sind Sie noch bei mir?«
Es schien ihn nicht wirklich zu verwundern, dass ich noch eine ganze Weile brauchte, bis ich nicken konnte und ihn ansah. Er hielt mir ein Tuch entgegen, das ich mechanisch entgegennahm und meine Hand und die Tasse damit abwischte. Als ich mich umsah, um einen Platz zu finden, wo ich das Tuch ablegen konnte, hielt er mir seine Hand entgegen. »Geben Sie her.«
Er nahm mir das Taschentuch ab und warf es in den Mülleimer neben seinem Schreibtisch. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, fixierten mich seine Augen erneut. Eine Weile beobachtete er mich, dann fragte er: »Geht es Ihnen etwas besser? Brauchen Sie etwas, um sich zu beruhigen?«
»Kann ich ein neuen Kaffee haben?«, fragte ich bemüht ruhig. Ich wollte nicht, dass er hörte, wie sehr meine Stimme noch immer zitterte.
»Ich würde Ihnen eher einen Tee empfehlen«, belehrte er mich, wie auch Mat es immer getan hatte. »Aber wenn es Ihnen hilft, nehmen Sie sich gern noch einen Kaffee.«
Na, das klang doch gut. Ich griff nach der Thermoskanne und goss meinen Becher wieder voll.
Während ich die ersten Schlucke nahm, lag der Blick des Mannes wieder auf mir. »Sie haben das letzte Mal erzählt, Ihre Freunde würden sich Sorgen machen, weil Sie sich verändert hätten. Gehören die Panikattacken auch dazu?«
Verlegen senkte ich den Blick wieder in meine Tasse und nickte.
Er schien zu warten, ob noch etwas von mir kommen würde, dann stand er auf. »Gut, dann wissen wir, wo wir anfangen sollten. Entschuldigen Sie mich kurz, ich mache mir eben ein paar Notizen, wo wir stehen geblieben sind.«
Er nahm einen Hefter vom Tisch und begann sich Notizen zu unserem bisherigen Gespräch zu machen. Dabei fragte er immer wieder nach, ob er mich richtig verstanden hätte. Es war komisch, den Gesprächsverlauf so zu wiederholen. Erst dabei fiel mir auf, wie viel ich bereits erzählt hatte. So wirklich sicher war ich mir nicht, ob mir das gefiel, aber es gab mir ein Gefühl von Sicherheit, zu wissen, was er sich notierte.
Nachdem er den Hefter zur Seite gelegt hatte, fixierte sein Blick mich wieder. Er schien kurz mein Gesicht zu scannen, dann lächelte er. »Schön, dass Sie sich wieder beruhigt haben. Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt erstmal das Thema wechsele, aber ich denke, wir sollten zuerst einmal klären, wie wir mit den Attacken umgehen. Ich werde sie Ihnen während der Therapie wahrscheinlich nicht ganz ersparen können, immerhin sollen Sie sich dem stellen, was sie auslöst. Aber wir sollten zusammen Regeln festlegen, wie ich Ihnen und Sie selbst sich helfen können, da wieder herauszukommen. Das macht es für Sie sehr viel stressfreier, wenn Sie wissen, dass Sie damit nicht allein gelassen werden. Das, was wir hier erarbeiten, sollten Sie auch mit Ihren Freunden und Ihrem Partner teilen, wenn Sie mit Ihnen reden. Sie sind sicher dankbar, wenn Sie wissen, wie Sie Ihnen helfen können.«
Ich nickte nur. So ganz sicher war ich nicht, ob ich das wollte, andererseits klang es eigentlich ganz gut. Zumindest klang es nicht danach, als hätte ich dabei etwas zu verlieren. Also konnte ich auch vorerst einwilligen.
»Schön.« Er lächelte mich offen an. »Dann fangen wir mal ganz von vorne an. Seit wann haben Sie die Panikattacken?«
Während dem Rest der Sitzung ging er mit mir durch, wie ich bisher mit den Anfällen, die er als Panikattacken bezeichnete, umgegangen war, ob ich merkte, wenn sie kamen, welche Symptome es sonst noch gab und so weiter. Erstaunlicherweise fiel es mir recht leicht, darüber zu sprechen. Vermutlich lag das auch daran, dass mich die Aussicht, sie vielleicht loszuwerden, zuversichtlich stimmte und er keine Fragen nach dem Woher stellte. Am Schluss gab er mir noch die Aufgabe mit, mich in Ruhe damit zu befassen, was mich beruhigen könnte oder ob ich noch etwas vergessen hatte.
Diesmal ließ ich das Training nach der Sitzung ausfallen. Sie war anstrengend gewesen und ich hatte nicht das Gefühl, eine Trainingseinheit durchzustehen. Dennoch fuhr ich später zu Toby und Roger, wo ich wieder übernachtete, da ich erneut in Tobys Armen einschlief.
»No, I don’t know where I’m going
But, I sure know where I’ve been
Hanging on the promises
In songs of yesterday
An’ I’ve made up my mind
I ain’t wasting no more time
Here I go again
Here I go again«
Whitesnake – Here I go again